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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Aktuelles
Zu Beisetzung, Tod und Leben von Marianne Tralau
Das unveräußerliche Werk einer Weltrang-Künstlerin
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Die Künstlerin Marianne Tralau ist – mit überbordender Kreativtät – den Dingen des Alltags auf der Spur. Seien es Socken in schwarz und weiß auf der Leine, die das Bild einer Klaviatur zeichnen. Seien es Wäscheklammern, die im Medium Film trickreich bis unheimlich zu buntem Leben, zu "Ungeziefer" erweckt werden. Kein Gegenstand ist sicher, von Marianne Tralau nicht in Kunst verwandelt zu werden, wie der "Kalte Kaffee" in der Kanne und der "starke Kaffee" mit Löffel in der Tasse. „Jedes Ding ist kunstfähig, sei es noch so belanglos. Es geht um Emanzipation, nicht um meine, sondern um die der 'armen Dinge im Geiste'", äußert sie 1998 im Filmportrait von Dieter Stürmer. Als "unbeabsichtigte Kunst im öffentlichen Raum" finden sich Kleidungsstücke auf der Wäscheleine, darunter – unbeabsichtigt oder als Statement? – die Deutschland-Fahne. Bei Textil und Papier im Vergleich spricht sie letzterem einen Intellektualitäts-Faktor zu. In der Szene ist Marianne Tralau schwer bis gar nicht einzuordnen. Ihr Wikipedia-Eintrag ist nüchtern und unergiebig.


Marianne Tralau, 1993

Dass ihre Kunst schwer zu verkaufen sei, mag nicht nur sein, es liegt in der Absicht und der Natur der Dinge: Performances, Landart oder das Langzeitprojekt "Secret Gifts" – als Umkehr der Idee touristischer Erinnerung nicht nur gegenständlich. Marianne Tralau hat auch nicht – wie Christo – versucht, sie zu vermarkten. In der Tat ist das Werk der Kölner Werkkunstschülerin und mit Staatspreis (NRW) ausgezeichneten Handweberin großen Namen und Konzepten der Kunstgeschichte ebenbürtig. In philosophischen, meist verbalen Traktaten hinterfragt sie Materielles wie Immaterielles nach seinen Möglichkeiten. Über versteckte, nicht öffentliche Aktionen führt sie akribisch Tagebuch.

Menschliche Kunst im Sinne von Beuys, humorvolle Weiterentwicklung von Duchamps Ready Mades, der ungenierte Bruch akademischer Regeln wie bei Picasso und Matisse, wohl wissend, dass die Szene der zeitgenössischen "Hohen Kunst" dies nicht verzeiht, halten Marianne Tralau nicht auf, mit ihrem über Jahrzehnte entstandenen Kunstschaffen ihren eigenen Weg zu verfolgen. Der führt über die Verbindung zum Studienkollegen Will Thonett mit leiblich-biologischen Folgen (3 Kinder) zur Filmkunst und zur Kunst im Film beim KAOS-Video-Team um Peter Kleinert. Sie gründet die KAOS-Galerie in Köln, die offen ist für jedes Kunstwollen – auch für Amateure, die, wie der Name verrät, sich leidenschaftlicher auszudrücken verstehen als die meisten Akademiker und Vakuum-Philosophen.

Angekommen im Online-Zeitalter eröffnet Marianne Tralau ihr "Strichkabinett" in der 2005 von Peter Kleinert realisierten Neuen Rheinischen Zeitung mit Bezug auf einen ebenso bedeutenden Schöpfer, den revolutionären Denker Karl Marx (Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung 1848 bis1849). Darin variiert sie auf der Spur von Begriffspaaren, die im Bewusstsein der Menschen – je nach Kulturkreis – abgespeichert sind, "Hämmer und Sicheln" (NRhZ-Flyer Nr. 146 vom 14.05.2008 [http://nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=12396]) – mal mit Hammer als orthodoxes, mal mit christlichem Kreuz. Zum Kinderreim "Das ist das Haus vom Nikolaus" zeichnet sie pro Silbe und in einem Zug einen Strichbaustein – was nicht ihre Erfindung ist, sie aber variiert, ihr aber offensichtlich Freude zu bereiten scheint.

Nach Wohnortwechsel und mehreren Jahren Aufenthalt in der "Provinz" Eckernförde, die sie mit ihrem Energieüberschuss und vielen Freunden mit einer Galerie, einer "Frühstücksbühne" und einem Treff von "Künstlern und Kaoten" bereichert, kehrt sie nach dem Tod von Peter Kleinert 2016 nach Köln in das Haus des langjährigen Sitzes des KAOS-Kunst- und Video-Archivs heim zur Familie. Das KAOS-Kunst- und Video-Archiv übereignet sie als Peter Kleinerts Erbin an die Galerie Arbeiterfotografie.

2018 interessiert sich das Institut für Kunstgeschichte der Kölner Universität im Bereich Kunstmarktforschung innerhalb des Zentralarchivs der internationalen Kunstmarktforschung ZADIK auch für Nicht-Verkäufliches. "Köln im Kunstrausch | zwischen Idealismus und Kommerz in den 80er Jahren" – Ausstellung im Mediapark 26.10.2018 bis 31.03.2019. Drei Gästebücher der KAOS-Galerie gelangen in die Schau und die von Marianne Tralau auf zartem Pergament-Papier erstellten Ausstellungsplakate. Eine von StudentInnen erstellte Hauszeitung benennt – für Historiker unverzeihlich – nicht die Provenienz.

2020 spendet sie für die Ausstellung und Benefizversteigerung "IMAGINEartists4assange" zugunsten des in London unter Folterbedingungen festgehaltenen Journalisten Julian Assange die Grafik "Busy". Der Erlös der unter Corona-Bedingungen fast verhinderten Versteigerung unter Beteiligung international renommierter Künstlerinnen und Künstler von rund 13.000 Euro geht an John Shipton, den Vater von Julian Assange.

Am 17. August 2022 schläft Marianne Tralau, eine Seele von Künstlerin und Mensch, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter – umsorgt von Freunden – in den Armen ihrer Tochter Cordula friedlich ein. Ihre Seele bleibt unsterblich unter uns.


Aus der Serie "Hämmer und Sicheln", 2008


Werk von Marianne Tralau – präsentiert im KAOS-Selbstportrait-Video, 1985


Bügelente – Objekt von Marianne Tralau, 2004


Cover zur Video-Edition "Tralauer" zum 70. Geburtstag (Gestaltung fognin) – Portrait: "Im zarten Alten von 69 Lenzen stürzt die Tralau sich mit dem Fallschirm aus dem Sommerhimmel"


kuk – Künstler und Kaoten – Treff in Eckernförde, 2004


Dem Deutschen Volke (Readymade, Mausefalle), 2003


KAOS-Galerie-Ausstellungsplakat auf Pergamentpapier – Gestaltung und Produktion: Marianne Tralau, 1988


Busy – Zeichnung von 2009 – Beitrag zu Ausstellung und Benefizversteigerung IMAGINEartists4Assange – Gesamterlös: 13.000 Euro


Links:

https://tralau.com
http://kaos-archiv.de/


Siehe auch:

Marianne Tralau nachgerufen
Kunst war ihr Lebenselixier
Von Cordula Thonett und Barbara Stipancic
NRhZ 799 vom 21.10.2022
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28301

Online-Flyer Nr. 799  vom 21.10.2022

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