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Globales
Aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 42
Putin, Gorbatschow und das Vordringen der NATO nach Osten
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Am 31. Januar 1990 erklärte BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei einer Grundsatzrede in der Evangelischen Akademie in Tutzing: „Sache der NATO ist es zu erklären – was immer im Warschauer Pakt geschieht – eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. Diese Sicherheitsgarantien sind für die Sowjetunion und ganz bestimmt für ihr künftiges Verhalten von elementarer Bedeutung. Der Westen muss auch der Ansicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Ost-Europa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen darf.“ Das ist geschickt formuliert. Genscher erweckt den Eindruck einer Zusage an Moskau, tatsächlich sagt er aber, eine solche Zusage sei Sache der NATO – nicht seine und nicht die des Zwei-plus-Vier-Vertrags.


Die Expansion der NATO von 1990 bis 2009 – ab 2014 sind Ukraine und Georgien Objekt der Begierde (Grafik: arbeiterfotografie.com)

„Unumstritten ist, was der US-Außenminister [James Baker] am 9. Februar 1990 im prachtvollen Katharinensaal des Kreml erklärte. Das Bündnis werde seinen Einflussbereich ‘nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen’, falls die Sowjets der NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland zustimmten. Darüber werde man nachdenken, meinte Gorbatschow und fügte hinzu, ganz gewiss sei eine ‘Expansion der NATO-Zone inakzeptabel’.“ Das ist im November 2009 im SPIEGEL zu lesen.

Bezüglich eines Gesprächs von Außenminister Genscher mit seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse am 10. Februar 1990 hat es gemäß des gleichen SPIEGEL-Artikels in einem zuvor geheim gehaltenen Vermerk geheißen: „BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.“

Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Nach einem Treffen der Politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991 schrieb Jürgen Chrobog, Sprecher des Auswärtigen Amts und Leiter des Büros von Außenminister Hans-Dietrich Genscher, rückblickend: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.“ Das ist einem Vermerk von Jürgen Chrobog zu entnehmen, der bis 2022 als geheim eingestuft war.

Daniele Ganser schreibt in seinem 2016 erschienenen Buch „Illegale Kriege“: „Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow, der 1990 den Friedensnobelpreis erhielt, stimmte der Wiedervereinigung von Deutschland und dem Beitritt zur NATO zu, verlangte aber im Gegenzug, dass die NATO sich danach nicht weiter nach Osten ausdehne. Das US-Imperium sicherte dies den Russen zu... Mit der Aufnahme von Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Albanien und Kroatien hat danach die NATO ihr Versprechen mehrfach gebrochen... Das US-Imperium folgte mit der NATO-Osterweiterung den Vorschlägen von Zbigniew Brzezinski, dem Nationalen Sicherheitsberater von Präsident Carter, der stets empfahl, das transatlantische Bündnis zu stärken.“ Daniele Ganser beschreibt Brzezinskis Sichtweise. Europa eigne sich als „Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent“, um die amerikanische Macht auf dem ganzen eurasischen Kontinent auszubauen.

Trotz diverser Zusagen und Äußerungen bleibt festzuhalten, dass es keine schriftlichen Garantien für das Unterlassen des Vordringens der NATO nach Osten gegeben hat. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag wird in Artikel 5 festgehalten: „Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden... Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“ Was östlich des vereinten Deutschland geschehen darf, wird im Vertrag jedoch nicht thematisiert. Daniele Ganser schreibt dazu: „Über das Versprechen, die NATO nicht auszudehnen, gibt es keinen schriftlichen Vertrag, vermutlich sah Gorbatschow dazu keine Notwendigkeit, weil zum Zeitpunkt der Abmachung der Warschauer Pakt noch existierte. Aber für die Russen war die mündliche Zusicherung verbindlich.“

Daniele Ganser hat es erwähnt: Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. Die Entscheidung gab das Nobelpreiskomitee am 15. Oktober 1990 bekannt – gewissermaßen als Belohnung für das Operieren Gorbatschows im Sinne des Imperiums. In diesem Zusammenhang sei erinnert an den Artikel „Ein Hoch auf unsere Herrschaftsmedien“ im KROKODIL 16 (März 2016). Darin heißt es:

    Wenn uns die Orientierung abhanden kommt, brauchen wir Hilfe. Nichts ist leichter als das! Wir haben dafür unsere Herrschaftsmedien. Es ist wunderbar einfach. Die Herrschaftsmedien leiten uns. Wir müssen sie nur zu lesen verstehen.

    Deutsche feiern den Kreml-Chef: Putin Superstar... Und immer wieder ‘Putin, Putin’-Rufe. Die Zuschauer sind begeistert, jubeln... Alle wollen den Staatsgast aus Moskau sehen, feiern ihn wie einen Superstar.“ Lesen wir derartige Sätze? Nein! Die lesen wir nicht. Aber wir lesen: „Deutsche feiern den Kreml-Chef: Gorbi Superstar“... Und wir erfahren: „Riesenandrang vor dem Bonner Rathaus – Tausende begrüßten Michail und Raissa Gorbatschow. Und immer wieder ‘Gorbi, Gorbi’-Rufe. Die Zuschauer sind begeistert, jubeln... Alle wollen die Staatsgäste aus Moskau sehen, feiern sie wie Superstars...“ Was ist los? Wo ist der Unterschied? Jubel für Putin? Undenkbar! Was ist anders bei „Gorbi“? Gorbatschow – und später Jelzin – haben als der verlängerte Arm des US-Imperiums den Ausverkauf der Sowjetunion bzw. Russlands betrieben. Und das heutige Russland unter der Führung Putins ist dabei, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Das macht den Unterschied.

    Wenn wir wissen, in wessen Interesse unsere Herrschaftsmedien operieren, geben sie uns Aufschluss in einem Maße, wie kaum jemand es zu ahnen wagt. Dann erkennen wir: es ist äußerste Vorsicht geboten, wenn Jubelkampagnen inszeniert werden – für Gorbatschow beispielsweise, oder für den Prager Frühling oder den Arabischen Frühling, der vom US-Präsidenten und der Bild-Zeitung als Revolution gefeiert wird.

    Wenn wir wissen, dass die Herrschaftsmedien Instrument der Herrschenden sind, ist klar: wir brauchen die Perspektive nur umzukehren, und wir sind im Bilde. In aller Regel sind dann die Stars unsere Gegner. Und die Feinde sind uns viel näher als unsere vermeintlichen Freunde. Nicht Putin ist das Böse, sondern diejenigen, die ihn als das Böse erscheinen lassen wollen. Dann wissen wir: nicht die USA und ihre NATO sind Garanten des Friedens sondern viel eher das Russland Putins. Nicht die Politik Russlands ist kriminell, sondern die des US-Imperiums mit seinen Vasallen. Nicht Russland ist der Aggressor, sondern der so genannte „freie“ Westen... Nicht Putin ist das Problem, sondern Gorbatschow und Jelzin waren es.

Und wenn wir wissen, dass der Friedensnobelpreis vielfach an Vertreter des Imperiums und dessen Vasallen verliehen wird – wie an die US-Präsidenten Carter und Obama oder an die EU – dann können wir erahnen, welches Spiel getrieben worden ist. Das dem vor mehr als 2000 Jahren wirkenden chinesischen Militärstrategen Sunzi zugeschriebene Strategem „Kannst Du Deinen Feind nicht besiegen, umarme ihn“ kommt einem in den Sinn oder das Zitat von Henry Kissinger, US-Außenminister unter den US-Präsidenten Nixon und Ford: „To be an enemy of America can be dangerous, but to be a friend is fatal“ (Ein Feind Amerikas zu sein, kann gefährlich sein, aber sein Freund zu sein, ist fatal). In diesem Spannungsfeld bewegt sich heute Russlands Präsident Putin, wenn er am 30. September 2022 sagt: „Handfeste Versprechen, die NATO sich nicht gen Osten erweitern zu lassen – wie konnten bloß unsere früheren Machthaber darauf reinfallen? – erwiesen sich als schmutziger Betrug.“ Zu lange ließ Russland sich durch die Aussicht auf diplomatische Vereinbarungen oder Erfolge hinhalten – sogar dann noch, als mit dem NATO-Manöver Anakonda im Jahr 2016 erkennbar wurde, dass aus der Umarmung Erwürgung werden sollte.


Veröffentlichung aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 42 (September 2022) – Grundsatzschrift über die Freiheit des Denkens – bissig – streitbar – schön und wahr und (manchmal) satirisch.



Mehr dazu und wie es sich bestellen lässt, hier: http://www.das-krokodil.com/

Siehe auch:

Aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 42
Putin, Hitler und das Imperium
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 801 vom 18.11.2022
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28334



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