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Globales
Ziemlich genau hundert Jahre, nachdem der Duce seinen gloriosen Marsch auf Rom im Pyjama antrat
Déjà-vu in Italien
Von Hermann Ploppa

Wie ist es möglich, dass sich ein faschistisches Regime etabliert? Da Deutschland unter Hitler in mehrfacher Hinsicht ein Ausnahmefall war, lohnt es sich, einen Blick auf Italien zu werfen. Und zwar auf die Epoche vor hundert Jahren, als der Aufstieg des „Duce“ begann. Giorgia Meloni, der neuen italienischen Regierungschefin, wird von der etablierten Politik immer wieder vorgeworfen, sie distanziere sich nicht genügend vom Faschismus, sei sogar eine Art Mussolini-Nachfolgerin. Es stimmt zwar, dass es hier bedenkliche Parallelen gibt, jedoch betreffen diese vor allem auch das politische und ökonomische Umfeld. Heute wie damals waren es „Etablierte“, die ihre Fäden zogen, waren es soziale Verwerfungen, die in der Gesamtbevölkerung den Boden für eine derartige Bewegung bereiteten. Aus der Unzufriedenheit unter den Menschen über unglaubwürdig agierende Eliten, die von Populisten mit geschickt-halbwahren Phrasen bedient wird, kann die Menschenrechtskatastrophe einer faschistischen Epoche entstehen. Wir wissen nicht, ob Meloni als derart gefährlich eingeschätzt werden kann — es ist aber richtig, vorsichtshalber einen Blick auf die Geschichte zu werfen.

Italien im Jahre 2022: Die „links“liberalen Parteien sind bei den Parlamentswahlen mit einer schallenden Ohrfeige abgewatscht worden. Die italienischen Sozialdemokraten mit ihrem bisherigen Koalitionspartner der Bewegung Fünf Sterne (M5S) liegen um 17 Prozent hinter ihren Konkurrenten vom rechten Block. Wobei wiederum zwei Partner der triumphierenden Rechtskoalition schwere Verluste hinnehmen mussten. Sowohl Silvio Berlusconis Forza Italia als auch die Lega des Gianfranco Fini verloren glatt die Hälfte ihrer Wähler. Strahlend aus der politischen Trümmerlandschaft erhebt sich die Geschwisterschaft Italiens, die Fratelli d’ Italia unter der Führung von Giorgia Meloni, mit stolzen 25 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen.

Vor den Wahlen hatte allerdings das ganze politische und mediale Establishment eindringlich vor der „Rechtspopulistin“ Meloni gewarnt. Wobei klar sein sollte, dass bei dem grassierenden Ansehensverlust des polit-medialen Establishments eine bessere Werbung und Aufwertung für die italienischen Geschwister eigentlich kaum denkbar erscheint.

Das größte politische Kapital der Fratelli d’Italia ist gewiss ihre politische Unbeflecktheit. Denn die Parteien, die bei der letzten Parlamentswahl in Italien abgestraft wurden, verbindet eine gemeinsame unrühmliche Vergangenheit: Sie alle haben die inhumanen Restriktionen infolge der Coronakampagnen in vollem Maße unterstützt.

Die größte Tugend der Fratelli war also das Nicht-Tun während der Coronakampagne. Bedenklich ist allerdings die politische Herkunft der „Fratelli d’Italia“. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es nämlich das „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) gegeben. Hierbei handelte es sich um eine direkte Nachfolgepartei des Mussolini-Faschismus. Nicht zuletzt auf amerikanischen Druck konnten sich die Faschisten ungeniert auf der parteipolitischen Bühne des postfaschistischen Italiens tummeln. Die Neofaschisten konnten aber niemals mehr als ein Sechstel der abgegebenen Wählerstimmen auf sich vereinigen.

Um das braune Odeur endlich abzustreifen, benannte sich die MSI im Jahre 1995 um in „Alleanza Nazionale“. Weil auch das nicht so richtig zog, benannte man sich dann im Jahre 2009 um in „Il Popolo della Libertá“. Und nun wird es ein wenig komplex: Denn aus der Zerfallsmenge dieser Partei lösten sich Leute um Giorgia Meloni im Jahre 2012 ab und gründeten die „Fratelli d’Italia“ — und erbten als zweiten Namen „Alleanza Nazionale“. Womit der Bezug zur alten MSI wieder hergestellt war. Was noch einmal bekräftigt wurde durch die Übernahme der fiamma tricolore, dem alten grün-weiß-roten Logo der MSI. Es ist also nicht zu weit hergeholt, wenn man die „Fratelli d’Italia“ als die legitimen Erben Mussolinis bezeichnet.

Nun kann man allerdings nicht die platte Gleichung aufsetzen: Meloni gleich Mussolini. Meloni hat ja ganz brav an den demokratischen Ritualen teilgenommen und sich nach allen Regeln der parlamentarischen Demokratie das Mandat zur Regierungsbildung erarbeitet.

Auch werden Meloni enge Beziehungen zu proamerikanischen Netzwerkorganisationen wie dem Aspen Institute nachgesagt. Auch den europaweiten Impfpass hat Meloni befürwortet. Eigentlich sind die Fratelli geräuschlos in die Matrix der postdemokratischen EU-Machtmaschine eingetreten.

Ironischerweise gelangt die politische Enkelin Mussolinis, Giorgia Meloni, exakt einhundert Jahre nach der Machtergreifung des Duce in Rom an die Schaltstellen der Macht. Denn am 28. Oktober 1922 erzwang Benito Amilcare Andrea Mussolini mit dem Marsch auf Rom die Übergabe der Regierungsverantwortung an ihn und seine Schläger-Kumpanen. Es lohnt sich, die Geschichte dieses ebenso Slapstick-artigen wie zutiefst tragischen Ereignisses noch einmal nachzuzeichnen. Wir begeben uns auf die Zeitreise. Vielleicht wird uns dann klarer, was eigentlich unter dem inflationär benutzten Begriff „Faschismus“ zu verstehen ist.

Mussolini baut sich ein Presse-Imperium auf

Man kann durchaus sagen, dass Benito Mussolini ein fähiger, professionell arbeitender Journalist gewesen ist. Er bewegte sich Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts im Milieu der damals sehr starken Sozialistischen Partei Italiens (Partito Socialista Italiano — PSI). Die PSI war 1893 als Fusion unterschiedlichster linker Strömungen gegründet worden und in der italienischen Arbeiterklasse mindestens so gut verankert wie die SPD in der Zeit des deutschen Kaiserreichs. Das mediale Flaggschiff der italienischen Sozialisten war die Parteizeitung avanti! — auf Deutsch: Vorwärts, wie das Zentralorgan der SPD.

Nachdem Mussolini alles Mögliche ausprobiert und wieder verworfen hatte, heuerte er bei avanti! als Chefredakteur an. Er machte seinen Job so gut, dass sich die Auflage rasch steigerte und am Ende seiner Mitarbeit im Jahre 1914 die 100.000er-Auflage bereits überschritten wurde. Als profunder Kenner marxistischer Lehrinhalte ist Mussolini indes hier nicht in Erscheinung getreten. Die aufmerksamen Leser bemerkten neben anarcho-syndikalistischen Positionen auch immer wieder Versatzstücke der damals gerade in Mode gekommenen Philosophen Friedrich Nietzsche und Henri Bergson. Aber Mussolini brachte frischen Wind in den ansonsten eher betulichen sozialistischen Blätterwald.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges im Spätsommer 1914 war allerdings der Lackmustest für Mussolini. Denn die Sozialisten lehnten aus gutem Grund jede Form von Krieg ab, weil Kriege von der herrschenden Klasse aus niedrigsten Profitinteressen inszeniert werden und die international solidarische Arbeiterklasse damit nichts zu schaffen hat. Dennoch gab es in der PSI Kräfte, die für einen Kriegseintritt Italiens an der Seite Frankreichs plädierten. Frankreich war ja schließlich das Land der ersten erfolgreichen, wenngleich bürgerlichen Revolution.

Im Übrigen hatten die Italiener ihre nationale Einigung nicht zuletzt im Kampf gegen Österreich-Ungarn erkämpft. Und so tendiert auch Chefredakteur Mussolini immer mehr für ein Eingreifen Italiens auf der Seite der Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Russland. Doch zunächst schickt Mussolini andere Autoren vor, tritt dann jedoch selber am 18. Oktober 1914 in einem Artikel auf Seite 3 offen für den Kriegseintritt gegen die Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich ein (1). Der Vorstand der PSI fackelt nicht lange. Bevor die Sozialisten ihn feuern, kündigt Mussolini denn doch lieber gleich selber. Der Rauswurf aus der sozialistischen Partei ist dann nur noch reine Formsache.

Hatte Mussolini die Entfernung aus avanti! und PSI schon lange geplant? Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Denn schon einen Monat später geht Mussolini mit einer neuen Zeitung an den Start: Am 15. November 1914 erscheint seine Tageszeitung Il Popolo d’ Italia. Also: „Das Volk von Italien“. Unter dem Banner Il Popolo d’Italia steht jetzt ganz frech: Sozialistische Tageszeitung. Sozialisten dürften sich unter diesem Banner allerdings nicht geschart haben. Leser dieser Zeitung kamen eher aus dem bürgerlichen Milieu. Und das neue Kriegsblatt ist pfiffig gemacht. Aus dem Stand geht die Auflage auf 80.000 Exemplare. Nun weiß jeder, der es schon mal ausprobiert hat, dass man nicht einfach spontan eine Tageszeitung dieser Größenordnung in die Welt schleudern kann. Man braucht eine erfahrene Redaktion. Ein erfahrenes Team von Layoutern, die der Zeitung ein Gesicht geben. Eine Anzeigenabteilung. Einen Vertrieb. Eine verlässliche Druckerei. Das alles ist nicht in vier Wochen einfach mal so aus dem Hut zu zaubern.

Es ist eine durchaus anspruchsvolle Herausforderung, die Hintergründe dieses wundersamen Schnellstarts aufzuklären. Doch die italienische Seite der Online-Enzyklopädie Wikipedia gibt offenherzig Auskunft (2). Nicht weiter überraschend, sind es zunächst einmal italienische Konzerne, die ein nicht eben uneigennütziges Interesse an Zusatzgeschäften durch Kriege hegen: da ist zum Beispiel die Familie Agnelli aus Turin, denen der Autokonzern FIAT gehört. Oder die Gebrüder Mario und Pio Perrone vom italienischen Energiekonzern Ansaldo. Finanziers aus der Ölindustrie. Was sich allerdings die Zuckerindustrie von einem Krieg verspricht, erschließt sich nicht sofort. Stellvertretend für die italienische Regierung ist Außenminister Antonino Castello dabei. Und auch die italienische Diskontbank lässt sich nicht lumpen. Das bedeutet: Der Plan, die italienische Bevölkerung mit einer attraktiven Zeitung für den Krieg zu mobilisieren, war schon lange ausgefaltet. Die Infrastruktur stand bereit. Fehlte nur noch ein fähiger Chefredakteur. Nun konnte die Propagandamaschine für das Massensterben losgehen. Mussolini besetzte seinen Chefsessel.

Doch auch die Entente-Mächte hatten ein vitales Interesse, das offiziell noch neutrale Italien auf ihre Seite zu ziehen. Die Achsenmächte befanden sich bereits von Anfang an im Zangengriff: Großbritannien und Frankreich standen an der Westfront, Russland an der Ostfront. Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und Deutschland nun auch noch von der Südflanke den Boden heiß zu machen, wäre das Tüpfelchen auf dem „i“. Und so verwundert es nicht, dass wir als Sponsor auf britischer Seite Lord Northcliffe, mit bürgerlichem Namen Alfred Harmsworth, ausmachen können. Harmsworth hatte in den letzten dreißig Jahren zuvor die britische Presselandschaft radikal umgekrempelt. Er etablierte einen ganz neuen Zeitungstyp. Statt seriöser, neutraler Nachrichten überschwemmte er das Publikum mit Sensationsgeschichten, groß aufgemachten Lettern auf der Titelseite, die Aufregung und andere wenig vornehme Empfindungen wachriefen. Seine Daily Mail oder Daily Mirror fesselten mit Klatsch und Tratsch über die Royals, Tränengeschichten und Sport.

Das, was man in England Tabloid zu nennen pflegt. Zu Deutsch: Boulevard-Format. Harmsworth nutzte die Klaviatur der Emotionen auch dafür, um die Engländer bereit zu machen für einen Krieg gegen Deutschland. Sein know how ließ Harmsworth nun auch Mussolini zukommen. Russische Magnaten investierten ebenfalls in Mussolinis neues Blatt. Schon Ende Oktober war Mussolini mit seinem Fachkollegen Filippo Naldi, seines Zeichens Chefredakteur des Resto del Carlino in Bologna, nach Genf aufgebrochen, um dort Geld und Anzeigen bei Unternehmern und Politikern einzuwerben. Aufgrund dieser erfolgreichen Akquise erhielt Mussolini sogar direkte Unterstützungszahlungen von der französischen Regierung.

Die international eingefädelte Kriegspropaganda lief also zunächst wie geschmiert. Mussolini regierte von seinem Chefbüro aus wie ein Fürst. Das Büro war dekoriert mit einer Totenkopf-Fahne. Ein Emblem, das obligatorisch für faschistische Aktivisten werden sollte. Aber auf vielen Hochzeiten zugleich zu tanzen, wurde für Mussolini kurzzeitig zum Verhängnis. Die deutsch-schweizerische Agentur Haasenstein und Vogler hatte für das Anzeigenmanagement in Italien einen Giuseppe Jona als Subunternehmer verpflichtet. Als Jona feststellen musste, dass Mussolini beträchtliche Anzeigenaufträge an ihm vorbei eingeworben hatte, verklagte Jona Mussolini. Auf einen solchen Skandal hatten Mussolinis Gegner nur gewartet.

Bevor sie allerdings Mussolini journalistisch aufspießen konnten, wählte dieser einen gesellschaftlich akzeptierten Fluchtweg, gegen den niemand etwas vorbringen konnte. Denn mittlerweile hatte das Kriegswerben des Popolo d’Italia Früchte getragen. Am 23. Mai 1915 war Italien in den Ersten Weltkrieg auf der Seite der Entente gegen die Achsenmächte eingetreten. Mussolini entzog sich anstehenden Rechtsstreitigkeiten mit dem Anzeigenwerber Jona, indem er als Soldat in die Armee eintrat. Nunmehr unbehelligt, schickte er als Kriegsheld weiterhin Artikel durch den Popolo d’Italia an die Heimatfront. Der Rechtsstreit mit Jona war vergessen (3).

Mussolini als Knotenpunkt einer synthetischen „Bewegung“

Die italienische Bevölkerung stemmte sich in ihrer großen Mehrheit gegen eine Kriegsbeteiligung, auf welcher Seite auch immer. Und wir können hier exemplarisch studieren, wie im Zusammenspiel von Regierung und Presse durch die Fabrikation einer „öffentlichen Meinung“ das Ruder herumgerissen wird. Die italienische Regierung half mit beim Aufbau einer kriegsfreudigen Presse. Diese Presse setzt nunmehr scheinbar die Regierung mit ihren martialischen Forderungen unter Druck. Und die Regierung bedauert scheinheilig vor der real existierenden Mehrheit, dass sie auf massiven Druck der „öffentlichen Meinung“ ihre Politik ändern müsse.

Die so genannte „öffentliche Meinung“ ist fast immer das Kunstprodukt dieses geschickten Spiels über Bande zwischen Regierung, Konzernen und Medien. Und falls dieses Spiel über Bande nicht einwandfrei funktioniert, dann muss allerdings handgreiflich nachgeholfen werden. Das ist heute nicht anders als damals. Wenn heutzutage Demonstranten einfach zu zahlreich werden und zu viel Druck aufbauen und den Nimbus der Unbesiegbarkeit des Herrschaftssystems ernsthaft in Gefahr bringen, dann schickt die Fassadendemokratie nicht reguläre Polizeieinheiten, sondern die gefürchteten „Robocops“. Schwarze Schläger, komplett unkenntlich gemacht durch astronautische Ritter-Rüstungen. Dann ist Ruhe im Karton.

So weit darf es aber gar nicht kommen. Das ist nämlich schon eine soziale Bankrotterklärung. Besser ist es, wenn scheinbar von der Staatsmacht unabhängige Bürgerwehren ihrer Empörung über Pazifisten, Umweltaktivisten oder sonstige Konzerngegner durch handgreiflichen Terror Ausdruck verleihen. Und so war es auch schon im Italien des Jahres 1915. Erste organisierte Schlägerbanden schüchterten die Kriegsgegner ein. Die Idee, den Staat als sichtbaren Regisseur der Repression aus der Wahrnehmung herauszunehmen und gedungene, scheinbar staatsferne Schläger vorzuschicken, stammt vom zaristischen Geheimdienst Ochrana in Russland. Der Reformstau durch die Zaren führte zu immer stärker anschwellenden sozialen Protesten. Die Ochrana engagierte frustrierte Kleinbürger und erzählte den Leuten, Schuld an allem Übel dieser Welt seien die Juden. Die als sogenannte Schwarzhunderter berüchtigten Mörderbanden veranstalteten furchtbare Pogrome in russischen Juden-Ghettos. In Italien waren derart groß angelegte Terrorkommandos am Anfang des Kriegseintritts noch nicht erforderlich.

Die Lage änderte sich jedoch schlagartig, als im Jahre 1917 die deutschen Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, die de facto als Militärregenten herrschten, den bolschewistischen Agitator Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, im plombierten Zug, ausgestattet mit sehr viel Geld, von Zürich nach Petrograd beförderten (4). Die Zaren waren bereits gestürzt. Aber die liberale Regierung unter Kerenskij unternahm nichts, um Russland aus dem Kriegsgeschehen herauszuziehen. Lenin und seine Mitstreiter ergriffen die Macht. Das änderte alles. Russland beendete den Krieg gegen Deutschland.

Die Entente war nun massiv geschwächt und befand sich in der Defensive. Außerdem veröffentlichte Leo Trotzki bislang unbekannte Geheimverträge, die die Kombattanten der Entente-Mächte mit Italien abgeschlossen hatten (5). Plötzlich erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass die Entente-Staaten sich keineswegs in einem Abwehrkampf gegen die angeblich kriegslüsternen Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich zusammengefunden hatten. Vielmehr waren sie in diesen Krieg gezogen, um die Beute-Filetstücke der Achsenmächte zu tranchieren und diese sodann freundschaftlich untereinander aufzuteilen.

Und so erfuhr die Öffentlichkeit dann auch, dass Italien im so genannten Vertrag von London, unterzeichnet am 26. April 1915 dortselbst, von den Briten beträchtliche territoriale Zugewinne versprochen bekam. Italien sollte das mehrheitlich von deutschsprachigen Bürgern bewohnte Südtirol erhalten. Weiterhin aus dem Osmanischen Reich die Regionen Antalya, Konya und Smyrna; dann die ägäische Inselgruppe der Dodekanes; auf dem Balkan die Gebiete Dalmatien, Triest und Istrien. Dazu einen Teil der deutschen Kolonien in Afrika. In Afrika sollte Italien die bereits von ihm besetzten Gebiete in Libyen behalten können. Zusätzlich schenkten die Engländer den Italienern großzügig auch noch Äthiopien, das bislang noch nicht unter das Joch des Kolonialismus geraten war. Zudem sollte Italien für Albanien in der Außenpolitik den Vormund abgeben.

Als dieses perverse Geschacher bekannt wurde, ging eine Welle der Empörung durch die Völker der westlichen Welt. Die französischen Rekruten verließen ihre Schützengräben und gingen nach Hause, um endlich ihre Felder zu bestellen. Die Kriegsunlust erreichte solche Ausmaße, dass der Krieg kaum noch weitergeführt werden konnte. Auch die Italiener, die eigentlich nur von einer verlorenen Schlacht zur nächsten verlorenen Schlacht taumelten, mussten jetzt wieder zur Schlachtbank getragen werden. Keine Frage, dass man jetzt mehr denn je einen begnadeten Agitator wie Mussolini benötigte.

Da traf es sich gut, dass Mussolini im Militärdienst schwer verwundet wurde. Nicht in der offenen Feldschlacht. Sondern bei einer Gefechtsübung im Hinterland. Im August 1917 wurde er ausgemustert und kehrte an seinen Arbeitsplatz beim Popolo d’Italia zurück. Und da kommt Sir Samuel Hoare, später geadelt zum 1. Viscount Templewood, ins Bild. Ein englischer Oberschicht-Schnösel von siebenundzwanzig Jahren, der seine Karriere gerade als Agent beim britischen Geheimdienst in Russland begonnen hat. Dem jungen Lord sitzt der Schock über die ruppige Vertreibung der russischen Zarenfamilie vom Thron noch in den Gliedern, als ihn seine Vorgesetzten nunmehr nach Italien versetzen. Hoare soll dafür sorgen, dass die Italiener weiterhin im Bündnis mit der Entente verbleiben. Angesichts der kümmerlichen Performance der italienischen Streitkräfte kein leichtes Unterfangen.

Der britische Historiker Peter Martland hatte sich vor einigen Jahren durch Hoares Hinterlassenschaften gearbeitet und dabei Dokumente gefunden, die belegen, dass Mussolini von der englischen Regierung jede Woche einen Betrag von 100 Pfund Sterling ab Herbst 1917 für die Dauer von „mindestens einem Jahr“ erhalten hat. Umgerechnet auf heutige Kaufkraft wären das jede Woche 6.000 Pfund Sterling (6). Also etwa 7.000 Euro die Woche. Macht 364.000 Euro im Jahr. Wobei man damals für dasselbe Geld deutlich mehr einkaufen konnte als heute. Während Historiker Martland vermutet, Mussolini habe das Geld für Frauengeschichten ausgegeben, ist eher anzunehmen, dass er das Geld bestimmungsgemäß für den Ausbau der Zeitung eingesetzt hat. Und immer mehr auch für eine neue Aufgabe: nämlich für die Gründung einer paramilitärischen Schocktruppe, um die nun drastisch zunehmenden Friedensdemonstrationen in Italien zu zerschlagen. Mussolini wurde zum Knotenpunkt der zukünftigen faschistischen „Bewegung“. Zunächst sind die Auftritte der Mussolini-Schläger eher sporadisch. Doch die Infrastruktur des schwarzen Terrors wird von nun an konsequent ausgebaut. Das ist aus Sicht der Kriegsprofiteure und Konzernherren auch dringend geboten.

Denn nach dem Sieg der Bolschewisten in Russland ist das Selbstbewusstsein der europäischen Arbeiterbewegung massiv angewachsen. Es ist also, so scheint es, offenkundig möglich, die Diktatur der Bourgeoisie zu brechen! Die europäischen Kriegstreiber stehen nach dem Ausstieg Russlands aus der Entente-Koalition ziemlich begossen da. Erst durch den Eintritt der USA in den europäischen Krieg kann die Entente gerade noch mit verbrannter Kutte davonkommen. Als der Krieg im Jahre 1918 zu Ende ist, gestaltet sich die Situation für Siegerländer und Verliererländer zumindest in Europa absolut gleich. Denn auch die Kriegsgewinner Großbritannien und Frankreich sind massiv verarmt und können sich nur durch den Raubbau an Deutschland im Rahmen des Versailler Vertrags halbwegs über Wasser halten. Und durch Wilsons Vierzehn-Punkte-Plan entstehen viele kleine, kaum lebensfähige Ministaaten in Europa, die sich rasch bei amerikanischen Großbanken bis über die Halskrausen verschulden. Zudem ist in Wirklichkeit der Krieg noch lange nicht vorbei. Das neu entstandene Polen beginnt sofort einen mörderischen Krieg gegen die Sowjetunion. Das Baltikum wiederum erlebt einen furchtbaren Stellvertreterkrieg der Westmächte gegen die Sowjetunion.

Italien ist offiziell Sieger im Ersten Weltkrieg. Das merkt nur keiner. Denn das Land ist ebenfalls noch viel ärmer als vor dem Krieg. Die Staatsautorität ist zerrüttet. 650.000 junge Italiener sind im Krieg gefallen. Eine Million weitere Italiener sind verstümmelt. Fabriken sind verwaist. Agrarflächen liegen brach. Arme Sieger. Kein bisschen besser dran als die deutschen Leidensgenossen. Der frühe Vordenker des italienischen Faschismus, Gabriele D’Annunzio, prägt deshalb den Begriff der vittoria mutilata, also des verstümmelten Krieges.

Angesichts dessen, dass der Staat als Ordnungsfaktor vollkommen ausgefallen ist, beginnen sich die Menschen draußen im Lande, wohl oder übel, selber zu verwalten. Bauern übernehmen die Felder, die den Großagrariern gehören, und bestellen sie in Eigenverantwortung. Arbeiter beginnen, die verwahrlosten Fabrikhallen instand zu setzen.

Ein ganz ähnliches Bild wie in Deutschland zur gleichen Zeit. Die Autonomie der Arbeiter und Bauern ist schlicht aus der Not geboren. Und ganz gewiss haben die Instandbesetzer zunächst nicht an den Beginn einer kommunistischen Gesellschaftsordnung gedacht. Doch der neuen russischen Sowjetföderation wird durch die Kommunistische Internationale das Muster einer weltweiten Vergesellschaftung auf der Grundlage bolschewistischer Konzepte krampfhaft aufgepfropft. Es beteiligen sich an den Fabrikbesetzungen Hunderttausende Arbeiter. Sie bilden in ihren Betrieben Arbeiterräte. Produktionsabläufe werden zum ersten Mal durch demokratische Entscheidungen gesteuert.

Der kommunistische Vordenker Antonio Gramsci versucht, den Abläufen eine Richtung hin zum Sowjetkommunismus zu geben. Gramsci, Nachfahre albanischer Einwanderer, der durch eine schwere Verletzung in der Kindheit verwachsen ist und nur eine Körpergröße von ein Meter fünfzig aufweist, ist zweifellos einer der einflussreichsten und bedeutendsten Intellektuellen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Allerdings dürfte er mit seiner Deutung der Autonomie der Produktion in Industrie und Landwirtschaft als Freifahrtschein in den Kommunismus den Bogen überspannt haben. Anstatt das Bürgertum mit ins Boot zu nehmen, wurde diese Klientel durch revolutionäre Ungeduld massiv verprellt. Niemand hat das besser auf den Punkt gebracht als der Altmeister der Sozialistischen Partei Italiens, Filippo Turati:

„Es sind jede Menge Leute der Mittelkasse, der Kleinbürger, der Intellektuellen, der Liberalen, Leute, die an den Aufstieg des Sozialismus auch ihre Hoffnungen auf Fortschritt und Freiheit geknüpft hatten, die wir jetzt mit Blutvergießen und einer drohenden Diktatur auf die andere Seite treiben. Die Gewalt ist fast immer ein Mittel, das auf jene zurückfällt, die sie einsetzen. Das wissen zumindest jene Sozialisten, die mit brutaler Gewalt, dreister Anmaßung und ihren roten Tribunalen die Emilia (eine Region in Norditalien) tyrannisiert haben.“

Turati war ein innerparteilicher Gegner von Gramsci. Inwieweit er die Verhältnisse überzeichnet haben könnte, lässt sich heute schlecht beurteilen. Jedoch schließt die Fokussierung auf Arbeiter und Bauern automatisch bürgerliche Elemente aus. So ist unstreitig, dass die Kommunisten in der Sozialistischen Partei das Potenzial der gesellschaftlichen Transformation ohne Notwendigkeit verengt haben. Und auf diese Weise den Faschisten fahrlässig massenhaft Sympathisanten und Mitstreiter zugetrieben haben. Dabei war die qualitative und quantitative Überlegenheit des fortschrittlichen Lagers in den Jahren 1919 und 1920 derart offensichtlich, dass diese Jahre als biennio rosso, also als die zwei Roten Jahre in die Geschichte eingegangen sind.

Das zeigte sich eindrucksvoll bei der Parlamentswahl, die am 16. November 1919 stattfand. Die bislang regierenden Liberalen wurden fast vollständig hinweggefegt. Die sozialistische Partei PSI wurde mit 32,3 Prozent die mit Abstand stärkste Partei. Auf dem zweiten Platz landete mit 20,5 Prozent die Partito Popolare Italiano (PPI), die zum ersten Mal zur Wahl angetreten war. Es handelte sich um eine Partei des aufgeklärten, sozial sensiblen Katholizismus. Ihr Vorsitzender Luigi Sturzo erwies sich in den folgenden Jahren als aufrichtiger Antifaschist. Somit ergab sich für Italien eine ganz ähnliche Situation wie in Deutschland in der Weimarer Republik. Dort trugen die SPD und das katholische Zentrum als wichtige Säulen gemeinsam über viele Jahre die demokratische Verfassung. Diesen Part hätten PSI und die katholische PPI in Italien auch übernehmen können, mit einer weitaus klareren Mehrheit als in Deutschland.

Jedoch löst sich diese überwältigende Mehrheit rasch in Luft auf. Die aus Moskau gesteuerte Komintern gibt die Weisung aus, wer sich ihr anschließen wolle, müsse sich unverzüglich in eine kommunistische Partei umbenennen und alle Mitglieder ausschließen, die diese Umbenennung nicht mittragen wollen. Gramsci vollzieht die Umbenennung in Partita Comunista Italiano (PCI). Altmeister Filippo Turati schart alle Sozialisten um sich, die nicht unter einem kommunistischen Dach unterkommen wollen und gründet 1922 die Partito Socialista Unitario (PSU). Und Luigi Sturzo von der katholischen PPI wird durch Intrigen aus dem Umfeld des Papstes aus der Partei gemobbt.

Leichtes Spiel also für die Attacke der Faschisten. Und Mussolini kommt als Schaltstelle des neu formierten Faschismus eine Schlüsselstellung zu. Er hat den Überblick. Die Adressen. Den Kontakt zu den Sponsoren. Von Mailand aus werden die faschistischen Zellen, die sich überall im Land bilden, immer weiter zusammengeführt. Das Logo der neuen privatwirtschaftlich organisierten Repression gegen Sozialisten und Gewerkschaftler ist das Rutenbündel, das Fasces. Mit dem Fasces hatten im antiken Rom die Bodyguards den bedeutenden Politikern ihren Weg durch die Menschenmenge gebahnt. Auf die Ruten aufgepflanzt ein Beil. Wer nun dem Politiker Verwünschungen entgegenschleuderte, bekam vielleicht mal eins mit der Rute übergezogen. Wer aber dem Senator an Leib und Leben wollte, dem wurde möglicherweise mit der Axt den Schädel gespalten. Sehr anheimelnd. In Bezugnahme auf diese schöne alte Sitte aus dem antiken Rom wählten die Mussolini-Schläger das Rutenbündel zu ihrem Wahrzeichen. Eine klare programmatische Aussage, die Mussolini in einer Ansprache in Neapel am 24. Oktober 1922 auf den Punkt brachte: „Unser Programm ist einfach: wir wollen Italien beherrschen!“ (7)

Am 15. August 1921 ergab eine weitere Parlamentswahl für die neue „bürgerliche“ Einheitsliste blocco nazionale 20 Prozent, während die PSI beträchtliche Stimmenverluste hinnehmen musste. Im nationalen Block waren Mussolinis Faschisten mit 34 Parlamentssitzen huckepack mitgenommen worden. Ein erster Einstieg in die Institutionen. Anlass genug, im November 1921 endlich die Partito Nazionale Fascista zu gründen. Der Staatsapparat und die italienischen Unternehmer wollen den Vormarsch der Faschisten an die Macht. Kontakte werden hergestellt zum Generalstab des italienischen Militärs, zu General Badoglio. Zum Papst, der den PPI-Vorsitzenden Sturzo zum Rückzug nötigt. Auch zur Regierung gibt es regelmäßige Kontakte. Mussolini ist als der neue starke Mann schon lange vorbestimmt. Im März 1922 macht Mussolini eine Auslandsreise, die ihn unter anderem nach Berlin führt. Dort trifft er sich schon ganz staatsmännisch mit Reichskanzler Joseph Wirth, mit Außenminister Walther Rathenau, mit Gustav Stresemann und mit dem einflussreichen liberalen Journalisten Theodor Wolff.

Währenddessen suchen seine blutrünstigen squadres, organisierte Mörderbanden in schwarzen Hemden und Feuerwaffen, eine linke Hochburg nach der anderen auf und hinterlassen eine Spur des Entsetzens, mit Toten und Verletzten. Der Staatsapparat sieht indes keinen Handlungsbedarf. Die Regierung ist entweder zu schwach oder aber vollkommen unwillig, vom Gewaltmonopol Gebrauch zu machen. In einem letzten Aufbäumen organisiert die Linke am 1. August 1922 einen Generalstreik, der aber am bereits am 3. August aufgrund martialischer Drohungen der Mussolini-Recken abgeblasen wird.

Das war’s. Jetzt ist der Weg auf Rom frei für die offene Machtergreifung durch die Faschisten. Die Faschisten-Partei PNF veranstaltet am 28. Oktober 1922 noch einen Parteitag, den Mussolini in Richtung Mailand verlässt. Der Marsch auf Rom ist angekündigt. Ministerpräsident Luigi Facta, ein Mann der Liberalen, schwach und unentschlossen, will zunächst nicht Armee und Polizei mobilisieren, um die Faschisten zu bremsen. Kurz vor dem Marsch auf Rom ersucht er dann doch den König Viktor Emmanuel III., einen labilen Mann mit einer Körpergröße von 1,53 Meter, den Ausnahmezustand zu verhängen. Doch der Monarch weigert sich. So marschieren, je nach Berichterstatter, zwischen 5.000 und 35.000 Mussolini-Faschisten am 28. Oktober in Rom ein. Mussolini wird derweil in Mailand von den maßgebenden Unternehmern dringend aufgefordert, in Rom die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Mussolinis heroischer Marsch nach Rom sieht so aus, dass er im Nachtexpress im Pyjama schlafend die Strecke von Mailand absolviert und am Morgen des 30. Oktobers erst mal im Hotel eincheckt, um sich dann im Schwarzhemd zum König zu begeben. Viktor Emmanuel ernennt den Duce zum neuen Regierungschef, der daraufhin, wiederum nach heroischem Kampf, am 31. Oktober eine „Siegesparade“ abnimmt.

Eine einzige Slapstick-Nummer. Keiner kümmert sich mehr um irgendwelche demokratisch-parlamentarischen Regeln. Vielmehr sind die Regeln der Demokratie den Mächtigen Italiens einfach zu blöd. Wie ein Kind, das ein Brettspiel in genau dem Moment mitsamt dem Tisch umschmeißt, wenn das Spiel zu seinen Ungunsten ausgehen könnte.

Die Politik der blanken Faust. Nun vereinigt sich die faschistische PNF noch mit der rechtskonservativen Assoziatione Nazionalista Italiana, was Mussolinis Partei plötzlich zu einer Massenpartei anschwellen lässt. Im November 1923 darf das neu gewählte Parlament dann seine eigene Entmachtung durch das Acerbo-Gesetz beschließen. Das Acerbo-Gesetz legt fest, dass die relativ stärkste Partei nach der Wahl automatisch zwei Drittel der Abgeordneten-Mandate zugeteilt bekommt. Nach dieser Selbstentmachtung wollen sich die Abgeordneten im Dezember 1923 wieder treffen. Doch der König schickt sie nach Hause. Bei der Neuwahl nach dem Acerbo-Gesetz am 6. April 1924 hat Mussolini jetzt endlich seine erschlichene Zweidrittel-Mehrheit, um Italien nach eigenem Bilde zu formen.

Doch gibt es eine hässliche Episode, die den Duce fast um die Früchte seiner Bemühungen gebracht hätte. Denn der Abgeordnete Giacomo Matteotti, seines Zeichens Generalsekretär der gemäßigt sozialdemokratischen Turati-Partei PSU, hält im manipulierten Mussolini-Parlament eine extrem mutige Rede. Er entlarvt kriminelle Machenschaften und Manipulationen rund um die letzte Parlamentswahl. Er deutet auch die Beziehungen der Mussolini-Faschisten zu US-amerikanischen Konzernen an. Zum Beispiel spricht er über die Unterstützung der Faschisten durch den Ölkonzern Standard Oil. Das hätte er wohl besser nicht machen sollen. Denn am 10. Juni 1924 zerren sechs Herren Matteotti vom Trottoir in ein Auto, fahren mit ihm an den Stadtrand, um ihn dort zu ermorden. Dieser Mord löst selbst bei Liberalen und Konservativen große Empörung aus. Doch Mussolini tritt vollkommen abgebrüht im Parlament auf und übernimmt die gesamte persönliche Verantwortung für das Verbrechen. Und regiert munter weiter. Niemand kann oder will ihn daran hindern. Wie heißt es so schön? Was wir hier sehen, ist die „normative Kraft des Faktischen“ in voller Aktion.

Mussolini und die Wall Street

Der aufrechte sozialistische Abgeordnete Matteotti hat die Faschisten an einer extrem verwundbaren Stelle erwischt und damit sein eigenes Todesurteil ausgesprochen. Der US-amerikanische Konzern Standard Oil und die hinter ihm stehende Rockefeller-Dynastie sind hier nur ein Synonym für den beträchtlichen Anteil, den angloamerikanische Machtzentren am raketenhaften Aufstieg des Duce unstreitig hatten.

Der Mord an Matteotti ist nicht nur die Wegscheide von der „konstitutionellen“ Phase der Mussolini-Herrschaft hinein in die totalitäre faschistische Diktatur. Er ist zudem der Beginn der Öffnung italienischer Ressourcen und Märkte für das angloamerikanische Kapital. Denn der Reformsozialist Matteotti wusste entschieden zu viel über die Kungeleien Mussolinis mit britischen und amerikanischen Ölkonzernen. Die Ölfirma Sinclair Oil hat mit dem Duce heimlich Verträge abgeschlossen, die geltendem italienischem Recht eklatant widersprechen (8).

Obwohl es ausländischen Konzernen verboten war, in Italien Öl zu schöpfen, erlaubte Mussolini der Sinclair Oil Explorationen in Sizilien und in der Emilia Romagna. Matteotti hatte in London von hohen Funktionären der britischen Labour Partei entsprechende Dokumente ausgehändigt bekommen, die er im italienischen Parlament sodann der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Wäre ihm das gelungen, dann wäre Mussolini politisch erledigt gewesen. Also musste Matteotti mitsamt der kompromittierenden Akten von der Bildfläche verschwinden. Die Dokumente hätten auch offengelegt, dass sich hinter Sinclair Oil sowohl Standard Oil als auch die britische Anglo-Persian Oil Company verbargen. Das ist besonders delikat, weil Standard Oil den Konkurrenten Sinclair Oil gerade ein Jahr zuvor aus dem Geschäft mit der sowjetischen Ölgesellschaft Azneft herausgekickt hat, wobei auch der US-Präsident Harding unter rätselhaften Umständen zu Tode kam (9).

Hinter Sinclair und Standard Oil stand das damals weltweit mächtigste Bankhaus JP Morgan. Seit der Machtübernahme in Washington durch die Republikaner im Jahre 1921 hatte sich die Regierung der USA praktisch aus der aktiven Gestaltung der Außenpolitik verabschiedet. Jene elf Jahre bis zur erneuten Regierungsverantwortung durch die Demokraten gingen in die Geschichtsbücher ein als die Ära der vermeintlichen „amerikanischen Isolation“. Tatsächlich wurde aber die amerikanische Außenpolitik in jenen Jahren von den Großbanken der Wall Street gestaltet. Abgespeckt und reduziert auf die nackte Geopolitik des maximalen Profits. So verwarfen die USA zwar die Regelungen des Vertrags von Versailles. Die Methode, stattdessen Europa durch Mega-Kredite gewaltlos einzukaufen, erwies sich als äußerst effizient. In Folge des Dawes-Planes flossen rund 110 Millionen US-Dollar in die deutsche Wirtschaft und sorgten für die Roaring Twenties.

Die 110 Millionen Dollar kann man nach heutigem Kurswert getrost in 110 Milliarden Dollar übersetzen. Und auch der erheblich kleineren Wirtschaft Italiens lieh das Bankenkonsortium um JP Morgan die stolze Summer von 100 Millionen US-Dollar aus (10). Dazu musste Mussolini jetzt stabile politische Verhältnisse als Gegenleistung garantieren. Der Kredit aus Übersee erfolgte also exakt nach der Ermordung Matteottis, als der offene italienische Faschismus in den geschlossenen Faschismus überging (11). Der starke Mann bei JP Morgan war Thomas Lamont. Lamont zirkulierte durch die europäischen Hauptstädte, um mit den Regierungen das optimale Investitionsklima festzulegen. Ihm folgte sodann der Wall-Street-Wirtschaftsanwalt John McCloy von der Kanzlei Cravath, Henderson & de Gersdorff. McCloy blieb sogar ein ganzes Jahr in Rom, um den Duce so kompetent wie möglich bei der Anlage der amerikanischen Mega-Kredite zu beraten (12).

Es folgten die Goldenen Jahre des Mussolini-Faschismus. Wie von Zauberhand schien dem Duce nunmehr alles zu gelingen. Politiker, Wissenschaftler, Presseleute und Wirtschaftsführer antichambrierten und wieselten um den großen Mussolini. Churchill besuchte Mussolini und wusste zu berichten, dass für England der Faschismus nicht nötig sei (13). Aber für ein derart vom Bolschewismus bedrängtes Land wie Italien sei der Faschismus genau das Richtige.

Der Direktor der New Yorker Columbia-Universität, Nicolas Murray Butler, war oft bei seinem Freund Benito zu Besuch und empfahl ex cathedra eine solche Regierungsform auch für die USA (14).

Das nahmen sich dann auch mächtige Oligarchen in den USA zu Herzen. Als zum Entsetzen der US-Eliten im Jahre 1932 der Demokrat Franklin Delano Roosevelt den Amtsinhaber Herbert Hoover mit einem Erdrutschsieg hinwegfegte, versuchten sie, Roosevelt schon vor seiner Vereidigung durch ein Attentat aus dem Weg zu räumen. Als das misslang, versuchten dieselben Oligarchen im Jahre 1934 Roosevelt durch einen Putsch zu entmachten und den legendären General der Marine Corps, Smedley Butler, als Mussolini-Kopie in Washington zu installieren.

Doch Butler blieb loyal und informierte Roosevelt über die faschistischen Putsch-Pläne. Roosevelt machte keinen großen Wind aus dieser Geschichte (15). Aber er nahm von nun an die Außenpolitik in die eigenen Hände. Und die Oligarchen der Wall Street stürzten sich ab jetzt auf Deutschland, das mittlerweile faschistisch regiert wurde und dabei weit attraktivere Investitionsmöglichkeiten bot wie Italien. Und so kommt es, dass sich Historiker immer noch wundern, warum ab den frühen 1930er-Jahren plötzlich der italienische Mussolini-Faschismus massiv an Dynamik verliert. Und fragen sich zudem, warum Italien in seinen diversen Kriegen auf der ganzen Linie versagt hat. Während zur gleichen Zeit die deutsche Wehrmacht, ausgestattet mit neuester amerikanischer Technologie, die Welt das Fürchten lehrt.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist auch der Hitler-Faschismus zusammengebrochen und kann Mussolini nicht länger beschützen. Mussolini wird von antifaschistischen Partisanen aufgegriffen. Sie erschießen ihn und knüpfen ihn dann mit den Füßen nach oben an einen Laternenpfahl. Der Marsch nach Rom im Schlafwagenabteil endete verdientermaßen im Kehrichthaufen der Geschichte.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Titel des Artikels: „Dalla neutralità assoluta alla neutralità attiva ed operante“. Auf Deutsch: „Von einer absoluten Neutralität zu einer aktiven und handelnden Neutralität“.
(2) https://it.wikipedia.org/wiki/Benito_Mussolini#Mussolini_diviene_interventista_e_viene_espulso_dal_PSI
(3) https://it.wikipedia.org/wiki/Il_Popolo_d%27Italia
(4) Sebastian Haffner: Der Teufelspakt. Seite 7ff
(5) https://www.youtube.com/watch?v=11r1ZGsumJ4
(6) https://www.theguardian.com/world/2009/oct/13/benito-mussolini-recruited-mi5-italy
(7) https://schmid.welt.de/2019/05/09/mussolinis-instinkt-in-deutschland-dauerte-es-nach-dem-ersten-weltkrieg-14-jahre-bis-das-land-endgueltig-eine-totalitaere-wendung-nahm-in-italien-ging-das-viel-schneller/
(8) https://primolevicenter.org/printed-matter/the-matteotti-murder-and-the-origins-of-mussolinis-totalitarian-fascist-regime-in-italy/
(9) https://apolut.net/history-der-raetselhafte-tod-des-praesidenten-harding/
(10) https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_W._Lamont
(11) Ich erlaube mir hier eine Analogie aus dem deutschen Strafvollzug: offener und geschlossener Strafvollzug. Offener Faschismus ist demzufolge eine Herrschaft durch Faschisten, bei der Instrumente der repräsentativen Demokratie zumindest formal noch existent sind. Die Faschisten aber bereits das letzte Wort haben. Demgegenüber sind beim geschlossenen Faschismus alle Institutionen der Demokratie auch offiziell abgeschafft. Es herrschen totalitäre Verhältnisse.
(12) Walter Isaacson/Evan Thomas: The Wise Men. Six Friends and the world they made. 1986 New York. S. 122
(13) https://www.nytimes.com/1927/01/21/archives/churchill-extols-fascismo-for-italy-he-declares-it-has-taught-the.html
(14) Hermann Ploppa: Hitlers Amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus. Marburg 2016. Seiten 55/56
(15) https://apolut.net/history-der-misslungene-putsch-gegen-praesident-roosevelt/


Hermann Ploppa ist Politologe und Publizist. Er hat zahlreiche Artikel über die Eliten der USA veröffentlicht, unter anderem über den einflussreichen Council on Foreign Relations. 2008 veröffentlichte er „Hitlers Amerikanische Lehrer“, in dem er bislang nicht beachtete Einflüsse US-amerikanischer Stiftungen und Autoren auf den Nationalsozialismus offenlegte. Sein Bestseller „Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern“ sorgt nach wie vor für angeregte öffentliche Diskussionen.



Erstveröffentlichung am 28. Oktober 2022 bei Rubikon

Online-Flyer Nr. 800  vom 02.11.2022

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