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Literatur
Autobiografie des Künstlers Winfried Wolk: "Zwischen gestern und morgen – ich"
Ein Leben in den Umbrüchen der neueren deutschen Geschichte
Buchbesprechung von Renate Schoof

In der DDR war der Maler, Grafiker und Bildhauer Winfried Wolk ein bekannter Künstler, bis er in den 1970er-Jahren durch unvorsichtige Äußerungen, Intrigen und Stasi-Spitzeleien in Ungnade fiel. Geboren im Juni 1941 im Erzgebirge und aufgewachsen in Leipzig, wo er von 1963 bis 1969 zur ersten Schülergeneration der so genannten Leipziger Schule bei Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer gehörte, wurde er mit seinen Bildern und seiner Haltung zu einer der kritischen Stimmen der DDR.

In der gut zu lesenden, sympathisch ehrlichen und detailreichen Autobiografie „Zwischen gestern und morgen – ich“ gibt ein unangepasster Künstler Einblick in die ersten 48 Jahre seines Lebens. Das Buch endet 1989 mit der vergeblichen Hoffnung, dass alles besser, friedlicher, freundlicher und weniger korrupt werden möge.

Immer wieder verknüpft Winfried Wolk die Beschreibung des eigenen Lebens mit den politischen Bedingungen, wobei er die aggressive Großmachtpolitik der USA als bestimmenden Faktor dessen begreift, was im Zweiten Weltkrieg und danach in Westdeutschland, aber auch in Ostdeutschland geschieht. Dabei ignoriert er die überwiegend von den westlichen Siegermächten geprägte Geschichtsschreibung, und gräbt tiefer nach Gründen und Verantwortlichkeiten. Hiroshima und Nagasaki werden dabei ebenso wie die vielen Atomtests der Westmächte (Stichwort Bikini-Atoll), der Korea-Krieg oder die Gründung der NATO in Erinnerung gerufen.

Mit dem Wissen von 2022 zeigt Wolk den Beitrag des Westens zum Kalten Krieg und zur Verhärtung der Fronten zwischen der Sowjetunion und den USA auf. Er verdeutlicht, wie damals Drohungen, Provokationen, Schikanen und Angriffsplanungen von westlicher Seite maßgeblich zu einem Klima beitrugen, das der DDR wenig Spielraum für die angestrebte sozialistische Entwicklung bot und eine mehr freiheitliche Entfaltung verhinderte. Parabelhaft geht Christa Wolf in ihrem Roman „Kassandra“ auf dieses Problem ein, wenn sie beschreibt, wie der militärische Druck auf Troja, dort ausgeübt durch Griechenland, zu einer Militarisierung des Landes und der Gesellschaft führt. Bei Wolk werden diese Einflüsse der Politik auf das Leben eines Kindes und Heranwachsenden in der DDR, später dann des Soldaten, Berufstätigen, Studenten und schließlich des Künstlers unaufdringlich, aber durchaus überzeugend dargestellt.

Nach und nach entsteht das Bild einer Kindheit mit einer liebevollen, energisch-selbstbewussten Mutter und einem Vater, der erst 1946 aus Krieg und Gefangenschaft heimkommt. Der Fünfjährige erlebt etwas, das vielen seiner Generation widerfahren ist: Der von Militarismus und Krieg geprägte Vater begegnet dem Kind lieblos autoritär, was natürlich nicht ohne Folgen bleibt. Eindrucksvoll schildert Wolk, was damals begann und künftig wie ein roter Faden sein Leben durchzog: Das Wachsen an Widerständen.

Zuvor aber werden in den Beschreibungen Angst und Traumatisierung eines Vorschulkindes durch im Keller verbrachten Bombennächte spürbar, in denen auch die Mutter und andere Erwachsene der Todesbedrohung hilflos ausgeliefert sind: Eine Panik, die das Kind noch verfolgt, als es nach 1945 endlich mit anderen Kindern sorglos auf der Straße spielen kann.

Trotz seiner Verletzungen zeichnet Wolk das Schicksal seines ihm zeitlebens fremd gebliebenen Vaters mit Verständnis und Empathie nach und berichtet von Ereignissen, die dessen Charakter geformt haben. 1906 in Posen geboren, wuchs der Vater als Zögling der Militär-Knaben-Erziehungs-Anstalt Annaburg auf, nachdem sein Vater, also Wolks Großvater, im Ersten Weltkrieg gefallen war. In dieser Zeit, aber auch später, hatte er kaum Kontakt zu seiner Mutter. Es waren Umstände, die ihn zu einem strengen, freudlosen Menschen werden ließen, der seiner Ehefrau und seinem Sohn nicht gerecht zu werden vermochte.

Hinzu kam, dass der Vater, der vor dem Krieg als Zollbeamten gearbeitet hatte und Mitglied der NSDAP gewesen war, in der DDR als „Belasteter“ beruflich und gesellschaftlich nur schwer Fuß fassen konnte. So wundert es nicht, dass die Familie der Regierung der DDR wie auch dem neuen Gesellschaftssystem misstrauisch und letztlich ablehnend gegenüber stand.

Als Stalin den Westmächten USA, Großbritannien und Frankreich am 10. März 1952 anbot, in beiden Teilen Deutschlands freie Wahlen mit dem Ziel durchzuführen, ein vereintes Deutschland in die Neutralität zu entlassen (sog. Stalin-Note), war Winfried Wolk zehn Jahre alt. Seine Eltern hofften, dass damit die deutsche Teilung zu Ende wäre. Doch das Angebot Stalins wurde von Adenauer und den westlichen Alliierten als Täuschungsmanöver abgetan.

Dazu schreibt Wolk, dass Stalin klar gewesen sei, dass die SED und die westdeutschen Kommunisten keine reale Chance hatten, diese Wahl zu gewinnen. Dennoch wäre, so meint Wolk, „ein neutrales Deutschland in der Mitte Europas für die sowjetische Seite ein bedeutender Sicherheitsgarant“ gewesen, „was den Verlust ihres Einflusses auf den kleineren Ostteil durchaus wettgemacht hätte“. Aber ein neutraler deutscher Staat habe „nicht im Interesse der USA“ gelegen, denen es vor allem darum gegangen sei, „den westdeutschen Separatstaat zum wichtigsten europäischen Vorposten ihrer Einflusssphäre zu machen.“

Vom Koreakrieg (1950 bis 1953) und von vielen anderen politischen Ereignissen schreibt Wolk vor allem aus heutiger Sicht, denn damals hatte er als Schuljunge ganz andere Probleme, u.a. mit der Mangelwirtschaft in der DDR, die er beim Lebensmitteleinkauf für die Familie und später bei der Wohnungssuche und Materialbeschaffung zu spüren bekam. Auch der Weg zum Kunststudium, das er 1963 beginnen konnte, erwies sich als unerwartet schwierig. Er führte, verursacht durch nicht eingehaltene Versprechen einflussreicher Vertrauenspersonen, über den Militärdienst, ein Praktikum in einer Buchdruckerei und einer Ausbildung zum Schriftsetzer.

Ausführlich beschreibt Wolk die Atmosphäre und das Miteinander an der Kunsthochschule sowie das echte Interesse der damals in der DDR schon anerkannten, durchaus kritischen Künstler Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer am künstlerischen Nachwuchs. Pro Jahrgang wurden nur wenige Studenten ausgebildet, dafür aber gründlich und intensiv.

Immer wieder werden sich nicht nur im Westen geborene und aufgewachsene Leserinnen und Leser zu Vergleichen mit dem eigenen Leben herausgefordert fühlen. Insofern kann das Buch für die Älteren zu einer Zeitreise werden, etwa zur documenta 6 mit Beuys’ Honigpumpe. Im gleichen Jahr, 1977, wurden dort zum ersten Mal Werke von DDR-Malern und -Grafikern ausgestellt.

Wolks Reise mit seinen Lehrern zu dieser „Weltausstellung der Kunst“ wurde zu einem Abenteuer. Entgeistert, aber auch amüsiert nahm er die großen Unterschiede zum Kunstschaffen der DDR wahr. Während im Westen Abstraktion und Beliebigkeit vorherrschten, ging es Wolk und seinen DDR-Kollegen um inhaltliche Auseinandersetzung. Und obwohl sein Werk eine unübersehbare Gesellschaftskritik enthielt, die unerwünscht war, hatte er Ausstellungen und erhielt namhafte Preise, wenn auch einige seiner Bilder nach dem Kauf durch ein Museum dort im Archiv verschwanden.

Trotz zunehmender Schwierigkeiten gelang es Wolk, sich als Bürger der DDR zu arrangieren. Eine eindrucksvolle Leistung ist sein Vermögen zum Perspektivwechsel, was beispielsweise in seinen Ausführungen zur Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann zum Ausdruck kommt. Auch bezeugen mehrere Kapitel der 463 Seiten umfassenden Autobiografie eine nicht gerade selbstverständliche Gemeinschaftsfähigkeit, mit der Wolk Verantwortung für andere übernahm und Vorteile nicht für sich, sondern insbesondere für jüngere Künstler durchzusetzen vermochte.

Da er eine mühsam durchgesetzte Reisefreiheit genoss, konnte Wolk Studienreisen unternehmen, die ihn unter anderem nach Indien und Nepal führten, wo er ausstellte und an Symposien teilnahm. Außerdem pflegte er schon zu DDR-Zeiten freundschaftliche Beziehungen zu Menschen in Westdeutschland, was ihm kurz vor der Wende einige Ausstellungen im Westen ermöglichte. Als langjähriges Mitglied der Ost-CDU (was ihn vor der Mitgliedschaft in der SED bewahren sollte) avancierte er in der Umbruchzeit plötzlich zu einem oft eingeladenen Medienstar, der von Hans-Dietrich Genscher, Norbert Blüm und Helmut Kohl begrüßt wurde und ein langes Gespräch mit Rita Süssmuth, der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundestages, führten konnte.

1989 wollte Winfried Wolk nach seinen Bekundungen dann dazu beitragen, die alten Verkrustungen in der DDR aufzubrechen. Bei Interviews – zum Beispiel in der ZDF-Sendung „heute journal“ – sei es ihm vor allem darum gegangen, in dieser schwierigen Situation zu deeskalieren, um Blutvergießen zu verhindern. Und als von Wiedervereinigung gesprochen wurde, hoffte er darauf, dass Gesamtdeutschland endlich einen Friedensvertrag bekäme. Damals nannte ihn die BILD-Zeitung einen „großen DDR-Politiker“, und das war er – wenn auch in einem anderen Sinne – in der Tat, wie aus seinen Aufzeichnungen herauszulesen ist.

Als jedoch der aus dem Hut gezauberte Lothar de Maizière in seinem Beisein zum Vorsitzenden der Ost-CDU gewählt wurde, ahnte Wolk bereits, dass sich mit einem „Sieg“ über den realen Sozialismus nichts Wesentliches ändern würde. Dennoch wurde die kurz darauf folgende Öffnung der Grenzen für ihn zu einem unerwarteten Geschenk, denn sie ersparte ihm die Flucht vor Strafverfolgung in der DDR.

Besonders hervorzuheben ist Wolks Fähigkeit zur Selbstreflexion, mit der er sich Klarheit über sein Leben in dieser schwierigen Epoche zwischen 1941 und 1989 verschafft. Das macht sein Buch über die Dokumentation dieser Zeit hinaus zu einer lesenswerten, lehrreichen Lektüre. Der Autor ist auch nach 1989 ein Zeitzeuge geblieben, der nicht aufgehört hat, Politik und Gesellschaft mit kritischen Augen zu sehen und zu hinterfragen. Von den Verhältnissen im „wiedervereinigten“ Deutschland, soll eine Fortsetzung handeln, an der Winfried Wolk zurzeit arbeitet.


Winfried Wolk: „Zwischen gestern und morgen – ich“, Teil I



Pegasus Bücher, Laubach 2022, Taschenbuch, 463 Seiten, 12,90 Euro

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