SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Druckversion
Krieg und Frieden
Ein Essay zum Krieg in der Ukraine
Macht des Narrativs: Ukraine und Israel
Von Anis Hamadeh
Du hast Macht, wenn dein Narrativ stärker ist als die Realität. Die beiden Weber in Andersens Märchen hatten Macht, als sie dem Kaiser neue Kleider verkauften. Sie zerbrach zusammen mit dem Narrativ, als ein unschuldiges Kind es entlarvte. Nixons Version der Wirklichkeit platzte im Watergate-Skandal, Deutschlands Reichsfantasien starben mit Hitler. Wenn politische Narrative geschaffen werden, spricht man auch von Medienmanipulation oder „Spin“, wie im Film „Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt“ von 1997, wo es einem Spindoktor gelingt, von der Affäre des Präsidenten abzulenken, indem er einen Beinahe-Krieg anzettelt. Aber Moment! Narrative sind Erzählungen, also Konstrukte. Manchmal sieht eine Person die Dinge einfach anders als eine andere. Eine objektive Realität gibt es ja gar nicht, lässt sich mit Recht einwenden. Doch darum geht es hier nicht. Es geht eher um Julian Assange, der auf die Nacktheit des Kaisers hingewiesen hat und immer noch in Haft ist. Es geht um Menschen, die sinnlos in der Ukraine, in Palästina und an anderen Orten umgebracht und gequält werden. Es geht um eklatante Missstände, die von Narrativen weggeredet werden, und darum, dass Appelle nicht reichen, um das zu ändern.
Das Ukraine-Narrativ
Das Ukraine-Narrativ besagt im Kern, dass der russische Präsident Putin die unabhängige und freie Ukraine unprovoziert, also aus heiterem Himmel, militärisch angegriffen habe, um sie und vielleicht ganz Europa zu erobern; daher seien wir aus moralischen Gründen dazu verpflichtet, die ukrainische Regierung mit Waffen und allen anderen Notwendigkeiten zu unterstützen, wobei wir auch eigene Nachteile in Kauf nehmen müssen. Es ist ein mächtiges Narrativ, denn alle Fernsehsender verwenden es, alle Radiosender und alle Kioskmedien außer der Jungen Welt. Auch die Parteien, außer der AfD, und die Universitäten sowie viele Nichtregierungsorganisationen. Selbst eine Firma wie T-Online tummelt sich im Reigen und versucht, durch zur Schau gestellten Bellizismus einen Spitzenplatz auf dem Meinungsmarkt zu ergattern. Die Geschlossenheit ist auffällig, allerdings nicht verwunderlich, wenn man betrachtet, wie hart Abweichler angegangen werden – wobei man bereits als solcher gilt, wenn man Verhandlungen fordert. Als Journalist oder Politiker muss man also ständig um seinen Job und seine Karriere fürchten. Im befreundeten Ausland sieht es ähnlich aus.
Russland wiederum sieht die Dinge naturgemäß anders und verweist zum einen auf die kontinuierliche Nato-Erweiterung, die mit der Ukraine eine rote Linie überschreiten würde, und zum anderen auf die Sicherheit des russischen Teils der ukrainischen Bevölkerung, der seit 2014 zunehmend unter militärischen Angriffen leide. In diesem Kontext bekämpfe Russland auch die Verehrung ideologischer Verbrecher wie Stepan Bandera, einem antisemitischen Nazi-Kollaborateur früherer Zeiten.
Was sagt der Rest der Welt dazu? China hält sich traditionell aus den Angelegenheiten anderer Länder heraus und hat Russland nicht verurteilt. Allerdings hat die chinesische Regierung kürzlich die US-Hegemonie in der Welt überraschend scharf angegriffen und dabei vor allem Gewalt, doppelte Standards und irreführende Narrative kritisiert.[1] Auch Indien, Afrika, Lateinamerika, die arabische Welt und weite Teile Asiens berücksichtigen diese Aspekte in ihrer Beurteilung des Ukrainekriegs erkennbar stärker als wir im Westen, vor allem die Länder, die seit dem Elften September ins Fadenkreuz der USA geraten sind. Der US-General Wesley Clark sprach im Interview mit Amy Goodman 2007 von sieben Ländern, die die USA innerhalb von fünf Jahren hätten angreifen wollen: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan, Iran.[2] China hat nun einen Frieden zwischen dem Iran und Saudi-Arabien vermittelt, was unter anderem Hoffnung auf ein Ende des Kriegs im Jemen macht. Die unipolare Welt wird global gesehen zunehmend in Frage gestellt. Viele wünschen sich eine multipolare Welt.
So viel als Überblick über die verschiedenen Sichtweisen auf die Problematik in aller Welt. Was nun unser westliches Narrativ angeht, so verweisen Kritiker[3] auf verschiedene Defizite und Widersprüche, hier in acht Fragen zusammengefasst: Wenn wir Russland so verurteilen, müssen wir dann nicht auch die USA für ihre Angriffe auf andere Länder verurteilen? Wie hätten die USA reagiert, wenn sich der Warschauer Pakt in Mittelamerika ausgebreitet hätte? Ist es demokratisch, wenn die Politik Gegenmeinungen wie die von RT Deutsch nicht zulässt? Ist es verantwortbar, den Demokratieabbau in der Ukraine zu ignorieren, deren Regierung nach Parteien- und Medienverboten nun auch die Kirche ins Visier nimmt? Ist es verantwortbar, die Korruption und das Rechtsradikalenproblem in der ukrainischen Armee zu ignorieren? Warum wird der russische Angriff auf eine Entscheidung Putins reduziert und warum wird der als irrational dargestellt? Wieso werden die Sanktionen, die sich sowieso als nicht effektiv herausgestellt haben, von den meisten Sanktionierern auch noch unterlaufen? Welches Ende wird in diesem Konflikt angestrebt, wenn Verhandlungen ausgeschlossen sind – die Vernichtung Russlands?
Kurz nach der russischen Invasion war es ja beinahe zu Verhandlungen gekommen, doch reiste der damalige britische Premier Boris Johnson nach Kiew und teilte im Fernsehen mit, dass die Ukraine nicht verhandeln dürfe, da man den Krieg weiterführen müsse.[4] Auch Israels Premier Naftali Bennett erklärte im Februar dieses Jahres, dass seine frühen Vermittlungsbemühungen vom Westen blockiert worden seien.[5] Die mehr als 100.000 Toten in der Ukraine wären also vermeidbar gewesen. Selbst Angela Merkel hat in ihrem Zeit-Interview zugegeben, dass die Minsk-Verträge, die ja unterzeichnet worden waren, um genau solche Eskalationen zu verhindern, ihrerseits nicht ernst gemeint waren, sondern der Ukraine Zeit verschaffen sollten.[6] Zeit wofür? Zeit für wen? Wer profitiert von diesem Krieg? Die Bevölkerung bestimmt nicht. Die Rüstungsindustrie schon, vor allem die des Hegemons; auch Banken und Investmentunternehmen. Im Januar erklärte der Präsident der Ukraine: „Es ist uns bereits gelungen, Interesse zu wecken und mit solchen Giganten der internationalen Finanz- und Investmentwelt wie Black Rock, J.P. Morgan und Goldman Sachs zusammenzuarbeiten. Amerikanische Marken wie Starlink oder Westinghouse sind bereits Teil unserer ukrainischen Lebensart geworden. Eure großartigen Verteidigungssysteme – wie HIMARS oder Bradleys – verbinden bereits unsere Geschichte der Freiheit mit euren Unternehmen. Wir warten auf Patriots. Wir schauen uns Abrams genau an.“[7]
Die Rolle der USA
Dass es sich beim Ukrainekrieg um mehr als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten handelt, ist wohl unstrittig, ebenso wie die herausragende Rolle der USA als Anführer der Nato in dieser Sache und als Hegemon. Dabei geben die drei Stimmen von Präsident Biden, Außenminister Blinken und Unterstaatssekretärin Victoria „Fuck the EU“ Nuland den Ton an. Was Hegemonie bedeutet, hat der französische Präsident Macron erfahren, der kürzlich forderte, dass Europa von den USA unabhängiger sein sollte, denn seine Äußerungen führten in vielen deutschen und westlichen Medien und Parteien zu tagelang anhaltender Schnappatmung. Ob er von Sinnen sei, fragte die Frankfurter Rundschau. Er verkennt die Verhältnisse, schrieb die Süddeutsche. Ist auf Macron noch Verlass?, wollte der Tagesspiegel wissen. Und so weiter, und so fort. Es muss sich um ein delikates Thema handeln, wenn so heftig auf die Forderung nach mehr Unabhängigkeit vom Hegemon reagiert wird.
Noch delikater ist offenbar die Sprengung der Pipelines Nord Stream 1 und 2 am 26.09.2022, denn Joe Biden hatte bei einer Pressekonferenz kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Beisein von Bundeskanzler Scholz unzweideutig versichert, dass die USA die Pipelines zerstören würden, sollten die Russen in die Ukraine einmarschieren.[8] Schon zuvor hatten sich US-Regierungen und -Kongresse kontinuierlich gegen die Pipeline ausgesprochen.[9] Nach der Sprengung war dann monatelang nicht viel zu hören gewesen, außer der Aussage, dass alle Untersuchungen geheim seien. Ausgerechnet Putin wurde im Mainstream verdächtigt, Biden in auffälliger Weise gar nicht. Als dann das journalistische Urgestein Seymour Hersh im Februar die These formulierte, dass die CIA das Unternehmen durchgeführt hat,[10] kam Bewegung in den Fall und es dauerte nicht lange, bis eine Gegenthese aufkam, die Medien beschäftigte und die USA entlastete. Das ist im Wesentlichen der Stand der Dinge. Das offizielle westliche Narrativ hält die USA programmatisch aus der Sache heraus, auch in Deutschland, wo Milliardenschäden durch diesen Terrorakt entstehen.
Trotz der langen Blutspur und allem, was die USA seit der Ausrufung des „Kriegs gegen den Terror“ und davor in der Welt angestellt haben, vertrauen unsere Journalisten und Politiker offenbar weiterhin darauf, dass eine Pax Americana die bestmögliche Option ist. Der Medienbeobachter und Spin-Kritiker Jeremy Earp schrieb kürzlich über die US-Mainstreammedien: „Anlässlich des 20. Jahrestages der mörderischen US-Invasion im Irak ist es unerlässlich, die Erinnerung an diesen Krieg zurückzufordern, und zwar nicht nur von den Vertretern der Bush-Regierung, die ihn begonnen haben, sondern auch von den Medienkonzernen, die dazu beigetragen haben, ihn zu verkaufen, und die seither versuchen, das Narrativ zu kontrollieren.“[11] Es sind zum Teil dieselben Leute, die den Irakkrieg propagiert haben, die nun den Ukrainekrieg unterstützen – und wir vertrauen ihnen wieder, obwohl die fantastischen Geschichten über Massenvernichtungswaffen, Inkubatoren und 9/11-Mittäterschaft schon lange aufgedeckt sind! Nur wenige Beteiligte haben Konsequenzen daraus gezogen. Der in den USA bekannte politische Kommentator Tucker Carlson gehört dazu. Er sagte kürzlich in einem Interview, dass er sich dafür schämt, damals den Angriffskrieg gegen den Irak propagiert zu haben.[12]
In linken westlichen Kreisen verschwinden die Themen Nato, Imperialismus, globale Gerechtigkeit und neokonservativer Kapitalismus zunehmend aus dem Diskurs, zugunsten anderer Debatten wie der Genderthematik und woken Werten. Wenn man sich an dieses dröhnende Schweigen nicht gewöhnen kann, stellt man sich unwillkürlich die Frage, wie viel der deutschen Außenpolitik eigentlich in Berlin gemacht wird und wie viel in Washington, denn wenn wir keine Vasallen sind, dann handeln wir doch so, als seien wir welche. Sind die USA für den Terrorakt auf Nord Stream verantwortlich, dann würde die Enthüllung zu einer Debatte führen, die auszutragen bei uns kaum jemand bereit ist, weil sie unser Lager in Frage stellt, ähnlich wie die Star-Whistleblower Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning das Lager in Frage stellen, also das mächtige Narrativ, in dem „wir“ die Guten sind. Für einen geschichtsbewussten Deutschen ist das kein akzeptables Vorgehen und ich glaube nicht, dass ich mit dieser Meinung alleinstehe.
Das Israel-Narrativ
Am 09.03.2023 sendete der NDR einen fünfminütigen Beitrag von Sophie Mühlmann mit dem suggestiven Titel: „Wie gefährlich ist der Schweizer Historiker Daniele Ganser?“ Eine Vertreterin der „Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ trat darin auf und andere Humanisten. Konkret untermauerte inhaltliche Vorwürfe kommen nicht vor, Ganser wird einfach verunglimpft. Er wolle Bücher verkaufen, lautet ein Vorwurf des vermutlich ehrenamtlich produzierten Beitrags, einem Musterbeispiel übrigens für mediale Manipulation und Hetze. Der YouTuber Benedikt Zeitner analysierte das Stück und entlarvte es als „schwarze Rhetorik“. Das interessanteste Zitat des Beitrags stammt von Yevgen Bruckmann von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, der zusammen mit anderen vor dem Gebäude demonstrierte, in dem Ganser über den Krieg in der Ukraine aufklärte. „Verschwörungstheorien sind immer strukturell antisemitisch und im Zweifel auch ganz direkt antisemitisch“, sagte der jüdische Ukrainer Bruckmann und es ging so über den Sender.[13] Hier haben wir also einen Historiker, der das offizielle Ukraine-Narrativ methodisch, geistreich und friedlich hinterfragt, und er wird beschossen mit einem Konstrukt, das mit seinem Vortrag nichts zu tun hat und offensichtlich an den Haaren herbeigezogen ist. Aber es funktioniert! Und Bruckmann ist beileibe kein Einzelfall: Googelt man „Verschwörungstheorien antisemitisch“ kommt man auf stolze 1,3 Millionen Einträge. Der Antisemitismusvorwurf hat sich verselbstständigt und eine ganz neue Qualität erreicht, denn einige Schlauberger haben herausgefunden, dass man ihn nicht nur auf allen Ebenen nutzen kann, um Israels Staatspolitik zu unterstützen, sondern auch, um jede Art von „Verschwörungstheorie“ sowie Kapitalismuskritik abzuwerten. Konsequenzen hat der Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs noch nie gehabt, sodass er sich zum Tummelplatz für Rassisten entwickelt hat. Seit wir in den deutschen Bundesländern offizielle sogenannte Antisemitismusbeauftragte haben, können wir sogar Juden Antisemitismus vorwerfen, wenn sie die Ideologie des Zionismus nicht akzeptieren.[14]
Bei uns in Deutschland ist das alles kein Problem, denn wir haben unser Narrativ und sind unbeirrt der Ansicht, dass man sich eine Sache nur fest genug einbilden muss, um die Realität damit zu überbieten. Unsere Vorfahren haben das begangen, was in unserem Narrativ „Singularität“ heißt. Die Vorstellung einer Singularität birgt zwei große Vorteile: Zum einen können wir ohne Weiteres Rechtsextreme verschiedener Länder und sogar Nazis in der Ukraine unterstützen, weil die deutsche Verfehlung eine Singularität war und damit per Definition mit nichts zu vergleichen oder überhaupt in Beziehung zu setzen ist. Sehr praktisch! Zum anderen können wir dadurch, dass wir uns von der Singularität unserer Ahnen strikt distanzieren, wieder eine große Klappe haben und die Welt belehren, wie es unsere Außenministerin Annalena Baerbock tut. Damit sind wir mitten im Israel-Narrativ, von dem der Antisemitismusvorwurf ein konstitutives Element ist. Während immer neue Gräueltaten geschahen und neue historische Erkenntnisse aufkamen, die die Staatsgründung betreffen, blieb dieses Narrativ jahrzehntelang starr. Demnach verteidigt sich Israel gegen die vielen Menschen und Länder, die Israel hassen, nur weil es jüdisch ist. Die Israel-Berichterstattung ist seit langer Zeit mehr Literatur als Journalismus. Wir nennen das „Staatsräson“. Wir haben unsere eigene Geschichte auf Palästina projiziert und in den Nahen und Mittleren Osten exportiert, weil das bequemer ist, als in den Spiegel zu sehen.
Es wird immer gesagt, dass dieser Staat ins Leben gerufen wurde, um eine sichere Heimstätte zu werden. Ich glaube das nicht mehr. Ich glaube, es ging darum, einen ewigen Zustand des Kampfes herzustellen. Tiefenpsychologisch gesteuert, nicht bewusst. Es ist ein Aufrechterhalten des Traumas und nicht der Erinnerung. 1948 haben proto-israelische Einheiten ungefähr 10.000 Palästinenser umgebracht und 750.000 vertrieben und enteignet. Schafft man sich so vielleicht eine sichere Heimat? Oder schafft man sich so Feinde, die man daraufhin immer weiter bekämpfen kann? Nachdem weder Massaker wie das in Deir Yassin noch die Ermordung des schwedischen Vermittlers Graf Folke Bernadotte irgendwelche Konsequenzen nach sich zog, war der Weg frei, der in direkter Linie bis in die heutige Zeit führt. Vielleicht erinnert sich noch jemand daran: Es hatte sogenannte Oslo-Verträge gegeben, mit denen endlich ein Frieden mit zwei Staaten erreicht werden sollte. Sobald Israel an der Reihe war, Zugeständnisse zu machen, hatte sich das Thema erledigt. Die jetzigen Machthaber im Land sind explizit nicht mehr bereit für Verhandlungen und es kräht kein Hahn danach. Zu den weiteren Etappen bis zur jetzigen Situation gehören die perversen Militärangriffe auf den Gazastreifen mit tausenden Toten und dem Einsatz von Phosphor[15], Schüsse von israelischen Scharfschützen auf friedliche Demonstranten in Gaza und die Ermordung der Journalistin Shireen Abu Akleh am 11.05.2022. Die Soldaten störten sogar noch ihre Beerdigung.[16] Deutschland hat darauf mit dem Verbot einer Mahnwache reagiert, um „Antisemitismus“ zu verhindern, nachdem zuvor bereits mehrere Demonstrationen verboten worden waren.[17] Konsequenzen für Israel gab es nicht.
Schon vor der Bildung des jetzigen Gruselkabinetts in Israel hatten das Töten von Menschen und die weitere Landnahme der Zionisten zugenommen, während sich an der menschenunwürdigen Situation in Gaza nichts geändert hatte. Und nun sind mit Smotrich und Ben Gvir Gestalten Minister in Israel geworden, neben denen Netanjahu moderat erscheint, sodass es sogar den USA zu viel wird. Und das will etwas heißen! Auf den Großdemonstrationen in Israel gegen die Regierung und deren Pläne geht es nicht um den Pogrom in Huwara am 26.02.2023 und die Unterdrückung der Palästinenser, sondern um eine „Demokratie“, die gerettet werden müsse.[18] Was für eine Demokratie soll das sein? Auf den politischen Druck kann die Regierung Netanjahu reagieren, indem sie einen neuen Krieg vom Zaun bricht, um Geschlossenheit herzustellen. Aktionen auf dem Tempelberg bieten sich traditionell zum Zündeln an, und die haben wir kürzlich erlebt. Bei den Tempelbergausschreitungen wurden übrigens palästinensischen Verhafteten Nummern angeheftet, was bereits in der zweiten Intifada so gehandhabt wurde und damals noch ein kleiner Skandal war.[19]
Was wir hier beobachten, ist, dass uns unser Fantasie-Israel um die Ohren fliegt, weil es der Realität trotz gewaltiger Anstrengungen nicht mehr standhält. So wird in unseren Öffentlichkeiten einerseits die BDS-Bewegung verteufelt und ausgegrenzt, die sich für Boykott, Devestieren (statt Investieren) und Sanktionen gegenüber denjenigen Organisationen in Israel einsetzt, die die Besatzung und Entmenschlichung fördern, andererseits jedoch wirkt es recht verständlich und gar nicht besonders antisemitisch, dass nun verschiedene Firmen darüber nachdenken, ihr Kapital aus Israel abzuziehen.[20] Smotrich und Ben Gvir sind nicht einfach ein Ärgernis oder eine Gefahr, sondern das vorläufige Ergebnis einer langen Entwicklung, in der der Antisemitismusvorwurf eine Schlüsselrolle spielt.
Fußnoten:
[1] Chinesisches Außenministerium (20.02.2023): US Hegemony and Its Perils: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjbxw/202302/t20230220_11027664.html
[2] General Wesley Clark (2007): "Seven countries video", z.B. unter https://www.youtube.com/watch?v=6Knt3rKTqCk
[3] Kritiker des westlichen Ukraine-Narrativs sind zum Beispiel die Medien The Grayzone (Max Blumenthal & Aaron Maté), The Real News Network (Chris Hedges), Moats – The Mother of all Talkshows (George Galloway), The Duran (Alexander Mercouris & Alex Christoforou), WION (Indien), Hindustan Times, The Hill, Novara Media, Redacted (Natali & Clayton Morris), Nachdenkseiten, Hintergrund.de, Junge Welt, RT Deutsch, Neue Rheinische Zeitung, acTVism Munich, Investig'Action (Michel Collon), BreakThrough News (Rania Khalek); auch Sahra Wagenknecht, Oscar Lafontaine, Daniele Ganser, Alina Lipp, Michael Lüders, Seymour Hersh, Jeffrey Sachs, Douglas Macgregor, Scott Ritter, Russell Brand, Noam Chomsky.
[4] Tamás Orbán (08.09.2022): The War Could Have Ended Months Ago — But the West Didn’t Want It To. https://www.hungarianconservative.com/articles/politics/the-war-could-have-ended-months-ago-but-the-west-didnt-want-it-to/ ; Gulf Insider (01.09.2022): Western allies led by UK’s Johnson sabotaged tentative Ukraine-Russia peace deal. https://www.gulf-insider.com/western-allies-led-by-uks-johnson-sabotaged-tentative-ukraine-russia-peace-deal/
[5] Umang Sharma (06.02.2023): Ex-Israel PM Naftali Bennett blames West for thwarting possibility of peace between Russia, Ukraine. https://www.firstpost.com/world/ex-israel-prime-minister-naftali-bennett-blames-west-for-thwarting-possibility-of-peace-between-russia-ukraine-12112962.html
[6] Der Tagesspiegel (09.12.2022): „Absolut unerwartet“: Putin zeigt sich enttäuscht von Merkel wegen Äußerungen zur Ukraine. https://www.tagesspiegel.de/politik/absolut-unerwartet-putin-zeigt-sich-enttauscht-von-merkel-wegen-ausserungen-zur-ukraine-9006844.html
[7] Wolodymyr Selenskyj (23.01.2023): President of Ukraine's address to the participants of the meeting of the National Association of State Chambers. https://www.president.gov.ua/en/news/pislya-zavershennya-vijni-amerikanskij-biznes-mozhe-stati-lo-80561
[8] Reuters (07.02.2022): No Nord Stream 2 if Russia invades Ukraine, President Joe Biden says. https://youtu.be/oSPfXLPUJHM
[9] Congressional Research Service (10.03.2022): Russia’s Nord Stream 2 Natural Gas Pipeline to Germany Halted. - „Successive Congresses and U.S. Administrations have opposed Nord Stream 2, reflecting concerns about European dependence on Russian energy and Russian aggression in Ukraine.“ https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11138
[10] Seymour Hersh (08.02.2023): How America Took Out The Nord Stream Pipeline. https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
[11] Jeremy Earp (22.03.2023): Government Mendacity and Media Complicity Made the Catastrophic Iraq Invasion Possible. https://www.counterpunch.org/2023/03/22/government-mendacity-and-media-complicity-made-the-catastrophic-iraq-invasion-possible/
[12] Russell Brand (23.03.2023): Tucker Carlson regrets his part in promoting the Iraq war. https://youtu.be/v5dRFj_6W5U
[13] Benedikt Zeitner (13.03.2023): Schwarze Rhetorik und manipulative Methoden beim NDR: Hetzbeitrag über Daniele Ganser: https://youtu.be/w2-Qt3Z4jKw (Minute 21:45) Wer sich ein Bild über Daniele Ganser machen will, kann seine Vorträge auf https://www.youtube.com/c/DanieleGanserOffiziell/videos sehen.
[14] siehe z.B. acTVism Munich (12.04.2023): Zensur in Deutschland – Dr. Shir Hever. https://youtu.be/Dt48pPO53Ug . English (22.03.2023): Censorship in Germany – Dr. Shir Hever. https://www.youtube.com/watch?v=cE-c9G7VT1M
[15] Human Rights Watch (25.03.2009): Rain of Fire: Israel’s Unlawful Use of White Phosphorus in Gaza. https://www.hrw.org/report/2009/03/25/rain-fire/israels-unlawful-use-white-phosphorus-gaza
[16] Al Jazeera (01.12.2022): The Killing of Shireen Abu Akleh. https://network.aljazeera.net/en/press-releases/al-jazeera-english%E2%80%99s-fault-lines-releases-film-killing-shireen-abu-akleh. Film auf YouTube (38 min): https://youtu.be/SXy9SUDqUHk
[17] Lea Fauth (16.05.2022): Nach Verbot von Pro-Palästina-Demos: Falsches Demokratieverständnis. https://taz.de/Nach-Verbot-von-Pro-Palaestina-Demos/!5852524/
[18] The Grayzone (11.04.2023): Israel's ruling fanatics push for Armageddon. https://youtu.be/WKsZh7YdHdw (Minute 29:30)
[19] ebenda, Minute 2:00
[20] Daniel Boguslaw (05.03.2023): In Bulldozing Israeli Democracy, Benjamin Netanyahu Could Become the BDS Movement’s Greatest Ally. https://theintercept.com/2023/03/05/israel-benjamin-netanyahu-bds-boycott/
Mit Dank übernommen von anis-online - dort erschienen am 14.04.2023
Online-Flyer Nr. 810 vom 26.04.2023
Druckversion
Krieg und Frieden
Ein Essay zum Krieg in der Ukraine
Macht des Narrativs: Ukraine und Israel
Von Anis Hamadeh
Du hast Macht, wenn dein Narrativ stärker ist als die Realität. Die beiden Weber in Andersens Märchen hatten Macht, als sie dem Kaiser neue Kleider verkauften. Sie zerbrach zusammen mit dem Narrativ, als ein unschuldiges Kind es entlarvte. Nixons Version der Wirklichkeit platzte im Watergate-Skandal, Deutschlands Reichsfantasien starben mit Hitler. Wenn politische Narrative geschaffen werden, spricht man auch von Medienmanipulation oder „Spin“, wie im Film „Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt“ von 1997, wo es einem Spindoktor gelingt, von der Affäre des Präsidenten abzulenken, indem er einen Beinahe-Krieg anzettelt. Aber Moment! Narrative sind Erzählungen, also Konstrukte. Manchmal sieht eine Person die Dinge einfach anders als eine andere. Eine objektive Realität gibt es ja gar nicht, lässt sich mit Recht einwenden. Doch darum geht es hier nicht. Es geht eher um Julian Assange, der auf die Nacktheit des Kaisers hingewiesen hat und immer noch in Haft ist. Es geht um Menschen, die sinnlos in der Ukraine, in Palästina und an anderen Orten umgebracht und gequält werden. Es geht um eklatante Missstände, die von Narrativen weggeredet werden, und darum, dass Appelle nicht reichen, um das zu ändern.
Das Ukraine-Narrativ
Das Ukraine-Narrativ besagt im Kern, dass der russische Präsident Putin die unabhängige und freie Ukraine unprovoziert, also aus heiterem Himmel, militärisch angegriffen habe, um sie und vielleicht ganz Europa zu erobern; daher seien wir aus moralischen Gründen dazu verpflichtet, die ukrainische Regierung mit Waffen und allen anderen Notwendigkeiten zu unterstützen, wobei wir auch eigene Nachteile in Kauf nehmen müssen. Es ist ein mächtiges Narrativ, denn alle Fernsehsender verwenden es, alle Radiosender und alle Kioskmedien außer der Jungen Welt. Auch die Parteien, außer der AfD, und die Universitäten sowie viele Nichtregierungsorganisationen. Selbst eine Firma wie T-Online tummelt sich im Reigen und versucht, durch zur Schau gestellten Bellizismus einen Spitzenplatz auf dem Meinungsmarkt zu ergattern. Die Geschlossenheit ist auffällig, allerdings nicht verwunderlich, wenn man betrachtet, wie hart Abweichler angegangen werden – wobei man bereits als solcher gilt, wenn man Verhandlungen fordert. Als Journalist oder Politiker muss man also ständig um seinen Job und seine Karriere fürchten. Im befreundeten Ausland sieht es ähnlich aus.
Russland wiederum sieht die Dinge naturgemäß anders und verweist zum einen auf die kontinuierliche Nato-Erweiterung, die mit der Ukraine eine rote Linie überschreiten würde, und zum anderen auf die Sicherheit des russischen Teils der ukrainischen Bevölkerung, der seit 2014 zunehmend unter militärischen Angriffen leide. In diesem Kontext bekämpfe Russland auch die Verehrung ideologischer Verbrecher wie Stepan Bandera, einem antisemitischen Nazi-Kollaborateur früherer Zeiten.
Was sagt der Rest der Welt dazu? China hält sich traditionell aus den Angelegenheiten anderer Länder heraus und hat Russland nicht verurteilt. Allerdings hat die chinesische Regierung kürzlich die US-Hegemonie in der Welt überraschend scharf angegriffen und dabei vor allem Gewalt, doppelte Standards und irreführende Narrative kritisiert.[1] Auch Indien, Afrika, Lateinamerika, die arabische Welt und weite Teile Asiens berücksichtigen diese Aspekte in ihrer Beurteilung des Ukrainekriegs erkennbar stärker als wir im Westen, vor allem die Länder, die seit dem Elften September ins Fadenkreuz der USA geraten sind. Der US-General Wesley Clark sprach im Interview mit Amy Goodman 2007 von sieben Ländern, die die USA innerhalb von fünf Jahren hätten angreifen wollen: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan, Iran.[2] China hat nun einen Frieden zwischen dem Iran und Saudi-Arabien vermittelt, was unter anderem Hoffnung auf ein Ende des Kriegs im Jemen macht. Die unipolare Welt wird global gesehen zunehmend in Frage gestellt. Viele wünschen sich eine multipolare Welt.
So viel als Überblick über die verschiedenen Sichtweisen auf die Problematik in aller Welt. Was nun unser westliches Narrativ angeht, so verweisen Kritiker[3] auf verschiedene Defizite und Widersprüche, hier in acht Fragen zusammengefasst: Wenn wir Russland so verurteilen, müssen wir dann nicht auch die USA für ihre Angriffe auf andere Länder verurteilen? Wie hätten die USA reagiert, wenn sich der Warschauer Pakt in Mittelamerika ausgebreitet hätte? Ist es demokratisch, wenn die Politik Gegenmeinungen wie die von RT Deutsch nicht zulässt? Ist es verantwortbar, den Demokratieabbau in der Ukraine zu ignorieren, deren Regierung nach Parteien- und Medienverboten nun auch die Kirche ins Visier nimmt? Ist es verantwortbar, die Korruption und das Rechtsradikalenproblem in der ukrainischen Armee zu ignorieren? Warum wird der russische Angriff auf eine Entscheidung Putins reduziert und warum wird der als irrational dargestellt? Wieso werden die Sanktionen, die sich sowieso als nicht effektiv herausgestellt haben, von den meisten Sanktionierern auch noch unterlaufen? Welches Ende wird in diesem Konflikt angestrebt, wenn Verhandlungen ausgeschlossen sind – die Vernichtung Russlands?
Kurz nach der russischen Invasion war es ja beinahe zu Verhandlungen gekommen, doch reiste der damalige britische Premier Boris Johnson nach Kiew und teilte im Fernsehen mit, dass die Ukraine nicht verhandeln dürfe, da man den Krieg weiterführen müsse.[4] Auch Israels Premier Naftali Bennett erklärte im Februar dieses Jahres, dass seine frühen Vermittlungsbemühungen vom Westen blockiert worden seien.[5] Die mehr als 100.000 Toten in der Ukraine wären also vermeidbar gewesen. Selbst Angela Merkel hat in ihrem Zeit-Interview zugegeben, dass die Minsk-Verträge, die ja unterzeichnet worden waren, um genau solche Eskalationen zu verhindern, ihrerseits nicht ernst gemeint waren, sondern der Ukraine Zeit verschaffen sollten.[6] Zeit wofür? Zeit für wen? Wer profitiert von diesem Krieg? Die Bevölkerung bestimmt nicht. Die Rüstungsindustrie schon, vor allem die des Hegemons; auch Banken und Investmentunternehmen. Im Januar erklärte der Präsident der Ukraine: „Es ist uns bereits gelungen, Interesse zu wecken und mit solchen Giganten der internationalen Finanz- und Investmentwelt wie Black Rock, J.P. Morgan und Goldman Sachs zusammenzuarbeiten. Amerikanische Marken wie Starlink oder Westinghouse sind bereits Teil unserer ukrainischen Lebensart geworden. Eure großartigen Verteidigungssysteme – wie HIMARS oder Bradleys – verbinden bereits unsere Geschichte der Freiheit mit euren Unternehmen. Wir warten auf Patriots. Wir schauen uns Abrams genau an.“[7]
Die Rolle der USA
Dass es sich beim Ukrainekrieg um mehr als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten handelt, ist wohl unstrittig, ebenso wie die herausragende Rolle der USA als Anführer der Nato in dieser Sache und als Hegemon. Dabei geben die drei Stimmen von Präsident Biden, Außenminister Blinken und Unterstaatssekretärin Victoria „Fuck the EU“ Nuland den Ton an. Was Hegemonie bedeutet, hat der französische Präsident Macron erfahren, der kürzlich forderte, dass Europa von den USA unabhängiger sein sollte, denn seine Äußerungen führten in vielen deutschen und westlichen Medien und Parteien zu tagelang anhaltender Schnappatmung. Ob er von Sinnen sei, fragte die Frankfurter Rundschau. Er verkennt die Verhältnisse, schrieb die Süddeutsche. Ist auf Macron noch Verlass?, wollte der Tagesspiegel wissen. Und so weiter, und so fort. Es muss sich um ein delikates Thema handeln, wenn so heftig auf die Forderung nach mehr Unabhängigkeit vom Hegemon reagiert wird.
Noch delikater ist offenbar die Sprengung der Pipelines Nord Stream 1 und 2 am 26.09.2022, denn Joe Biden hatte bei einer Pressekonferenz kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Beisein von Bundeskanzler Scholz unzweideutig versichert, dass die USA die Pipelines zerstören würden, sollten die Russen in die Ukraine einmarschieren.[8] Schon zuvor hatten sich US-Regierungen und -Kongresse kontinuierlich gegen die Pipeline ausgesprochen.[9] Nach der Sprengung war dann monatelang nicht viel zu hören gewesen, außer der Aussage, dass alle Untersuchungen geheim seien. Ausgerechnet Putin wurde im Mainstream verdächtigt, Biden in auffälliger Weise gar nicht. Als dann das journalistische Urgestein Seymour Hersh im Februar die These formulierte, dass die CIA das Unternehmen durchgeführt hat,[10] kam Bewegung in den Fall und es dauerte nicht lange, bis eine Gegenthese aufkam, die Medien beschäftigte und die USA entlastete. Das ist im Wesentlichen der Stand der Dinge. Das offizielle westliche Narrativ hält die USA programmatisch aus der Sache heraus, auch in Deutschland, wo Milliardenschäden durch diesen Terrorakt entstehen.
Trotz der langen Blutspur und allem, was die USA seit der Ausrufung des „Kriegs gegen den Terror“ und davor in der Welt angestellt haben, vertrauen unsere Journalisten und Politiker offenbar weiterhin darauf, dass eine Pax Americana die bestmögliche Option ist. Der Medienbeobachter und Spin-Kritiker Jeremy Earp schrieb kürzlich über die US-Mainstreammedien: „Anlässlich des 20. Jahrestages der mörderischen US-Invasion im Irak ist es unerlässlich, die Erinnerung an diesen Krieg zurückzufordern, und zwar nicht nur von den Vertretern der Bush-Regierung, die ihn begonnen haben, sondern auch von den Medienkonzernen, die dazu beigetragen haben, ihn zu verkaufen, und die seither versuchen, das Narrativ zu kontrollieren.“[11] Es sind zum Teil dieselben Leute, die den Irakkrieg propagiert haben, die nun den Ukrainekrieg unterstützen – und wir vertrauen ihnen wieder, obwohl die fantastischen Geschichten über Massenvernichtungswaffen, Inkubatoren und 9/11-Mittäterschaft schon lange aufgedeckt sind! Nur wenige Beteiligte haben Konsequenzen daraus gezogen. Der in den USA bekannte politische Kommentator Tucker Carlson gehört dazu. Er sagte kürzlich in einem Interview, dass er sich dafür schämt, damals den Angriffskrieg gegen den Irak propagiert zu haben.[12]
In linken westlichen Kreisen verschwinden die Themen Nato, Imperialismus, globale Gerechtigkeit und neokonservativer Kapitalismus zunehmend aus dem Diskurs, zugunsten anderer Debatten wie der Genderthematik und woken Werten. Wenn man sich an dieses dröhnende Schweigen nicht gewöhnen kann, stellt man sich unwillkürlich die Frage, wie viel der deutschen Außenpolitik eigentlich in Berlin gemacht wird und wie viel in Washington, denn wenn wir keine Vasallen sind, dann handeln wir doch so, als seien wir welche. Sind die USA für den Terrorakt auf Nord Stream verantwortlich, dann würde die Enthüllung zu einer Debatte führen, die auszutragen bei uns kaum jemand bereit ist, weil sie unser Lager in Frage stellt, ähnlich wie die Star-Whistleblower Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning das Lager in Frage stellen, also das mächtige Narrativ, in dem „wir“ die Guten sind. Für einen geschichtsbewussten Deutschen ist das kein akzeptables Vorgehen und ich glaube nicht, dass ich mit dieser Meinung alleinstehe.
Das Israel-Narrativ
Am 09.03.2023 sendete der NDR einen fünfminütigen Beitrag von Sophie Mühlmann mit dem suggestiven Titel: „Wie gefährlich ist der Schweizer Historiker Daniele Ganser?“ Eine Vertreterin der „Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ trat darin auf und andere Humanisten. Konkret untermauerte inhaltliche Vorwürfe kommen nicht vor, Ganser wird einfach verunglimpft. Er wolle Bücher verkaufen, lautet ein Vorwurf des vermutlich ehrenamtlich produzierten Beitrags, einem Musterbeispiel übrigens für mediale Manipulation und Hetze. Der YouTuber Benedikt Zeitner analysierte das Stück und entlarvte es als „schwarze Rhetorik“. Das interessanteste Zitat des Beitrags stammt von Yevgen Bruckmann von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, der zusammen mit anderen vor dem Gebäude demonstrierte, in dem Ganser über den Krieg in der Ukraine aufklärte. „Verschwörungstheorien sind immer strukturell antisemitisch und im Zweifel auch ganz direkt antisemitisch“, sagte der jüdische Ukrainer Bruckmann und es ging so über den Sender.[13] Hier haben wir also einen Historiker, der das offizielle Ukraine-Narrativ methodisch, geistreich und friedlich hinterfragt, und er wird beschossen mit einem Konstrukt, das mit seinem Vortrag nichts zu tun hat und offensichtlich an den Haaren herbeigezogen ist. Aber es funktioniert! Und Bruckmann ist beileibe kein Einzelfall: Googelt man „Verschwörungstheorien antisemitisch“ kommt man auf stolze 1,3 Millionen Einträge. Der Antisemitismusvorwurf hat sich verselbstständigt und eine ganz neue Qualität erreicht, denn einige Schlauberger haben herausgefunden, dass man ihn nicht nur auf allen Ebenen nutzen kann, um Israels Staatspolitik zu unterstützen, sondern auch, um jede Art von „Verschwörungstheorie“ sowie Kapitalismuskritik abzuwerten. Konsequenzen hat der Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs noch nie gehabt, sodass er sich zum Tummelplatz für Rassisten entwickelt hat. Seit wir in den deutschen Bundesländern offizielle sogenannte Antisemitismusbeauftragte haben, können wir sogar Juden Antisemitismus vorwerfen, wenn sie die Ideologie des Zionismus nicht akzeptieren.[14]
Bei uns in Deutschland ist das alles kein Problem, denn wir haben unser Narrativ und sind unbeirrt der Ansicht, dass man sich eine Sache nur fest genug einbilden muss, um die Realität damit zu überbieten. Unsere Vorfahren haben das begangen, was in unserem Narrativ „Singularität“ heißt. Die Vorstellung einer Singularität birgt zwei große Vorteile: Zum einen können wir ohne Weiteres Rechtsextreme verschiedener Länder und sogar Nazis in der Ukraine unterstützen, weil die deutsche Verfehlung eine Singularität war und damit per Definition mit nichts zu vergleichen oder überhaupt in Beziehung zu setzen ist. Sehr praktisch! Zum anderen können wir dadurch, dass wir uns von der Singularität unserer Ahnen strikt distanzieren, wieder eine große Klappe haben und die Welt belehren, wie es unsere Außenministerin Annalena Baerbock tut. Damit sind wir mitten im Israel-Narrativ, von dem der Antisemitismusvorwurf ein konstitutives Element ist. Während immer neue Gräueltaten geschahen und neue historische Erkenntnisse aufkamen, die die Staatsgründung betreffen, blieb dieses Narrativ jahrzehntelang starr. Demnach verteidigt sich Israel gegen die vielen Menschen und Länder, die Israel hassen, nur weil es jüdisch ist. Die Israel-Berichterstattung ist seit langer Zeit mehr Literatur als Journalismus. Wir nennen das „Staatsräson“. Wir haben unsere eigene Geschichte auf Palästina projiziert und in den Nahen und Mittleren Osten exportiert, weil das bequemer ist, als in den Spiegel zu sehen.
Es wird immer gesagt, dass dieser Staat ins Leben gerufen wurde, um eine sichere Heimstätte zu werden. Ich glaube das nicht mehr. Ich glaube, es ging darum, einen ewigen Zustand des Kampfes herzustellen. Tiefenpsychologisch gesteuert, nicht bewusst. Es ist ein Aufrechterhalten des Traumas und nicht der Erinnerung. 1948 haben proto-israelische Einheiten ungefähr 10.000 Palästinenser umgebracht und 750.000 vertrieben und enteignet. Schafft man sich so vielleicht eine sichere Heimat? Oder schafft man sich so Feinde, die man daraufhin immer weiter bekämpfen kann? Nachdem weder Massaker wie das in Deir Yassin noch die Ermordung des schwedischen Vermittlers Graf Folke Bernadotte irgendwelche Konsequenzen nach sich zog, war der Weg frei, der in direkter Linie bis in die heutige Zeit führt. Vielleicht erinnert sich noch jemand daran: Es hatte sogenannte Oslo-Verträge gegeben, mit denen endlich ein Frieden mit zwei Staaten erreicht werden sollte. Sobald Israel an der Reihe war, Zugeständnisse zu machen, hatte sich das Thema erledigt. Die jetzigen Machthaber im Land sind explizit nicht mehr bereit für Verhandlungen und es kräht kein Hahn danach. Zu den weiteren Etappen bis zur jetzigen Situation gehören die perversen Militärangriffe auf den Gazastreifen mit tausenden Toten und dem Einsatz von Phosphor[15], Schüsse von israelischen Scharfschützen auf friedliche Demonstranten in Gaza und die Ermordung der Journalistin Shireen Abu Akleh am 11.05.2022. Die Soldaten störten sogar noch ihre Beerdigung.[16] Deutschland hat darauf mit dem Verbot einer Mahnwache reagiert, um „Antisemitismus“ zu verhindern, nachdem zuvor bereits mehrere Demonstrationen verboten worden waren.[17] Konsequenzen für Israel gab es nicht.
Schon vor der Bildung des jetzigen Gruselkabinetts in Israel hatten das Töten von Menschen und die weitere Landnahme der Zionisten zugenommen, während sich an der menschenunwürdigen Situation in Gaza nichts geändert hatte. Und nun sind mit Smotrich und Ben Gvir Gestalten Minister in Israel geworden, neben denen Netanjahu moderat erscheint, sodass es sogar den USA zu viel wird. Und das will etwas heißen! Auf den Großdemonstrationen in Israel gegen die Regierung und deren Pläne geht es nicht um den Pogrom in Huwara am 26.02.2023 und die Unterdrückung der Palästinenser, sondern um eine „Demokratie“, die gerettet werden müsse.[18] Was für eine Demokratie soll das sein? Auf den politischen Druck kann die Regierung Netanjahu reagieren, indem sie einen neuen Krieg vom Zaun bricht, um Geschlossenheit herzustellen. Aktionen auf dem Tempelberg bieten sich traditionell zum Zündeln an, und die haben wir kürzlich erlebt. Bei den Tempelbergausschreitungen wurden übrigens palästinensischen Verhafteten Nummern angeheftet, was bereits in der zweiten Intifada so gehandhabt wurde und damals noch ein kleiner Skandal war.[19]
Was wir hier beobachten, ist, dass uns unser Fantasie-Israel um die Ohren fliegt, weil es der Realität trotz gewaltiger Anstrengungen nicht mehr standhält. So wird in unseren Öffentlichkeiten einerseits die BDS-Bewegung verteufelt und ausgegrenzt, die sich für Boykott, Devestieren (statt Investieren) und Sanktionen gegenüber denjenigen Organisationen in Israel einsetzt, die die Besatzung und Entmenschlichung fördern, andererseits jedoch wirkt es recht verständlich und gar nicht besonders antisemitisch, dass nun verschiedene Firmen darüber nachdenken, ihr Kapital aus Israel abzuziehen.[20] Smotrich und Ben Gvir sind nicht einfach ein Ärgernis oder eine Gefahr, sondern das vorläufige Ergebnis einer langen Entwicklung, in der der Antisemitismusvorwurf eine Schlüsselrolle spielt.
Fußnoten:
[1] Chinesisches Außenministerium (20.02.2023): US Hegemony and Its Perils: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjbxw/202302/t20230220_11027664.html
[2] General Wesley Clark (2007): "Seven countries video", z.B. unter https://www.youtube.com/watch?v=6Knt3rKTqCk
[3] Kritiker des westlichen Ukraine-Narrativs sind zum Beispiel die Medien The Grayzone (Max Blumenthal & Aaron Maté), The Real News Network (Chris Hedges), Moats – The Mother of all Talkshows (George Galloway), The Duran (Alexander Mercouris & Alex Christoforou), WION (Indien), Hindustan Times, The Hill, Novara Media, Redacted (Natali & Clayton Morris), Nachdenkseiten, Hintergrund.de, Junge Welt, RT Deutsch, Neue Rheinische Zeitung, acTVism Munich, Investig'Action (Michel Collon), BreakThrough News (Rania Khalek); auch Sahra Wagenknecht, Oscar Lafontaine, Daniele Ganser, Alina Lipp, Michael Lüders, Seymour Hersh, Jeffrey Sachs, Douglas Macgregor, Scott Ritter, Russell Brand, Noam Chomsky.
[4] Tamás Orbán (08.09.2022): The War Could Have Ended Months Ago — But the West Didn’t Want It To. https://www.hungarianconservative.com/articles/politics/the-war-could-have-ended-months-ago-but-the-west-didnt-want-it-to/ ; Gulf Insider (01.09.2022): Western allies led by UK’s Johnson sabotaged tentative Ukraine-Russia peace deal. https://www.gulf-insider.com/western-allies-led-by-uks-johnson-sabotaged-tentative-ukraine-russia-peace-deal/
[5] Umang Sharma (06.02.2023): Ex-Israel PM Naftali Bennett blames West for thwarting possibility of peace between Russia, Ukraine. https://www.firstpost.com/world/ex-israel-prime-minister-naftali-bennett-blames-west-for-thwarting-possibility-of-peace-between-russia-ukraine-12112962.html
[6] Der Tagesspiegel (09.12.2022): „Absolut unerwartet“: Putin zeigt sich enttäuscht von Merkel wegen Äußerungen zur Ukraine. https://www.tagesspiegel.de/politik/absolut-unerwartet-putin-zeigt-sich-enttauscht-von-merkel-wegen-ausserungen-zur-ukraine-9006844.html
[7] Wolodymyr Selenskyj (23.01.2023): President of Ukraine's address to the participants of the meeting of the National Association of State Chambers. https://www.president.gov.ua/en/news/pislya-zavershennya-vijni-amerikanskij-biznes-mozhe-stati-lo-80561
[8] Reuters (07.02.2022): No Nord Stream 2 if Russia invades Ukraine, President Joe Biden says. https://youtu.be/oSPfXLPUJHM
[9] Congressional Research Service (10.03.2022): Russia’s Nord Stream 2 Natural Gas Pipeline to Germany Halted. - „Successive Congresses and U.S. Administrations have opposed Nord Stream 2, reflecting concerns about European dependence on Russian energy and Russian aggression in Ukraine.“ https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11138
[10] Seymour Hersh (08.02.2023): How America Took Out The Nord Stream Pipeline. https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
[11] Jeremy Earp (22.03.2023): Government Mendacity and Media Complicity Made the Catastrophic Iraq Invasion Possible. https://www.counterpunch.org/2023/03/22/government-mendacity-and-media-complicity-made-the-catastrophic-iraq-invasion-possible/
[12] Russell Brand (23.03.2023): Tucker Carlson regrets his part in promoting the Iraq war. https://youtu.be/v5dRFj_6W5U
[13] Benedikt Zeitner (13.03.2023): Schwarze Rhetorik und manipulative Methoden beim NDR: Hetzbeitrag über Daniele Ganser: https://youtu.be/w2-Qt3Z4jKw (Minute 21:45) Wer sich ein Bild über Daniele Ganser machen will, kann seine Vorträge auf https://www.youtube.com/c/DanieleGanserOffiziell/videos sehen.
[14] siehe z.B. acTVism Munich (12.04.2023): Zensur in Deutschland – Dr. Shir Hever. https://youtu.be/Dt48pPO53Ug . English (22.03.2023): Censorship in Germany – Dr. Shir Hever. https://www.youtube.com/watch?v=cE-c9G7VT1M
[15] Human Rights Watch (25.03.2009): Rain of Fire: Israel’s Unlawful Use of White Phosphorus in Gaza. https://www.hrw.org/report/2009/03/25/rain-fire/israels-unlawful-use-white-phosphorus-gaza
[16] Al Jazeera (01.12.2022): The Killing of Shireen Abu Akleh. https://network.aljazeera.net/en/press-releases/al-jazeera-english%E2%80%99s-fault-lines-releases-film-killing-shireen-abu-akleh. Film auf YouTube (38 min): https://youtu.be/SXy9SUDqUHk
[17] Lea Fauth (16.05.2022): Nach Verbot von Pro-Palästina-Demos: Falsches Demokratieverständnis. https://taz.de/Nach-Verbot-von-Pro-Palaestina-Demos/!5852524/
[18] The Grayzone (11.04.2023): Israel's ruling fanatics push for Armageddon. https://youtu.be/WKsZh7YdHdw (Minute 29:30)
[19] ebenda, Minute 2:00
[20] Daniel Boguslaw (05.03.2023): In Bulldozing Israeli Democracy, Benjamin Netanyahu Could Become the BDS Movement’s Greatest Ally. https://theintercept.com/2023/03/05/israel-benjamin-netanyahu-bds-boycott/
Mit Dank übernommen von anis-online - dort erschienen am 14.04.2023
Online-Flyer Nr. 810 vom 26.04.2023
Druckversion
NEWS
KÖLNER KLAGEMAUER
FILMCLIP
FOTOGALERIE