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Literatur
Aus dem Roman "Am Kornsand", Leseprobe 2
Helga, 1970er Jahre
Von Ute Bales
Zum Inhalt: Der 18-jährige Hans Kaiser lässt sich im März 1945, nur ein paar Stunden bevor die Amerikaner kommen, am Rheinufer bei Nierstein (Am Kornsand) zu einer unfassbaren Tat überreden. Seine spätere Familie weiß nichts davon, bis 40 Jahre später der Stern darüber berichtet. Neben der Geschichte des Täters wird die seiner Tochter Helga erzählt. Helga leidet an einer Hautkrankheit, die Ende der 1970er Jahre in einem Verschickungsheim auf der Insel Föhr kuriert werden soll. Im Verschickungsheim ist sie vom ersten Tag an der Brutalität der Erzieherinnen ausgesetzt. Mit tiefen seelischen Narben kehrt sie nach Hause zurück. Jahre später wird sie mit der Tat ihres Vaters konfrontiert. Der Roman beschäftigt sich mit Schuld, mit der Unmöglichkeit von Sühne und mit den Fragen, wer ist Opfer, wer ist Täter? Dabei zeigt sich, dass Schuld individuell ist und persönlich getragen werden muss. Hintergrund ist das historisch verbriefte Kornsandverbrechen. Es folgt Leseprobe 2 (Helga, 1970er Jahre).
Helga fragt sich oft, woher eigentlich diese Unruhe kommt, dieses Unstete und Schreckhafte. Woher kommt dieser Ausschlag, dieses nicht enden wollende Jucken und Kratzen, das Fingernägelkauen, das Gefühl nicht am richtigen Platz zu sein? Manchmal tauchen Bilder auf, vereinzelt und unscharf, kurze Blitzlichter, die sie nicht zusammenbringt und die doch zu ihr gehören.
In den Nächten liegt sie oft wach. Stundenlang starrt sie vom Fenster aus in den Nachthimmel, während sie dem regelmäßigen Atmen ihrer Schwester, mit der sie das Zimmer teilt, zuhört und dem Rascheln und Knistern, wenn die sich von einer Seite auf die andere dreht und aufschreckt, wenn sie beim Namen gerufen wird.
Moni! Schläfst du schon?
Ach, lass mich schlafen.
Aber ich kann nicht schlafen.
Sei ruhig und schlaf endlich. Ich bin so müde.
Im Sommer ist der Ausschlag besser zu ertragen als im Winter und juckt auch weniger. Das liegt an der Sonne, die die offenen Stellen austrocknet und zuweilen sogar heilen lässt. Im Winter sind es die Wollpullis, deren krause Fasern den Juckreiz derart befeuern, dass die Haut sich anfühlt, als würde sie glühen. Dann kann Helga weder stillsitzen, noch sich mit anderem befassen. Immer wieder wandern ihre Hände zu den juckenden Stellen, immer wieder reißt sie mit ihren Fingernägeln Wunden auf. Das Kratzen tut gut, aber die Linderung hält nur kurz, das Kribbeln kommt wieder, immer wieder.
Der Juckreiz ist der Grund, dass die Nächte so unruhig sind. Schon der kleinste Reiz auf der Haut, das Betttuch oder eine unachtsame Berührung mit den Händen verursachen Qualen, gegen die sie sich nur mit Kratzen wehren kann.
Dann setzt auch meist der Harndrang ein, sie wankt durch den Flur, dünnhäutig und furchtsam. Am Morgen erwacht sie mit Striemen auf Armen, Beinen oder am Hals, die oft auch bluten. Besonders die Ellenbogen und die Innenseiten der Arme sehen furchtbar aus. Die Haut ist an diesen Stellen dicker, außerdem rot und geschwollen. Manchmal nässen die Hautstellen oder es bilden sich Bläschen, die mit der Zeit aufplatzen und später verkrusten. Auch Risse entstehen, regelrechte Hautfurchen, für die sie sich schämt.
Sie hat schon viel ausprobiert, Salben und Cremes aus der Apotheke, Kräuter von einem Wunderheiler, allerhand Hausmittel. Nichts davon hilft, außer langärmeligen Kleidungsstücken. Sie verdecken zumindest die Wunden.
Die Mutter findet das ständige Kratzen ekelhaft. »Ja, ekelhaft. Kannst du nicht aufhören? Man muss sich doch beherrschen können!« Ständig fährt sie sie an. Nein, sie kann nicht aufhören. Es ist wie ein Zwang. Sie kratzt und kratzt, bis es blutet. Es ist ein Kreislauf. Es juckt, sie kratzt, es blutet, es heilt, es juckt und sie kratzt wieder.
Der Vater, eigentlich strenger als die Mutter, zeigt mehr Verständnis. Von einer Kur an der Nordsee verspricht er sich was, von salziger Seeluft, gut für solche Hautgeschichten. Er telefoniert mit einem Arzt, den er von früher kennt. Einer, der solche Sachen behandelt.
An die See muss das Kind, bestätigt der Arzt, und ist sicher, dass eine frische Meeresbrise und viel Bewegung Allergien zum Verschwinden brächten. Borkum ist im Gespräch, dann St. Peter Ording. Schließlich Wyk auf Föhr.
Sie wehrt sich, will nicht an die Nordsee. Dorthin haben sie Onkel Hein geschickt, den Bruder des Vaters. Onkel Hein war damals noch ein Kind, nur sechs Jahre alt. Sie kennt Heins Geschichten von der Hitlerjugend, von Wettkämpfen, Geländespielen, von Heimabenden. Auch die Geschichte von seiner Verschickung hat er oft erzählt. Neun Monate ist er damals von seinen Eltern getrennt worden, nur hin und wieder waren Postkarten erlaubt. Keine Besuche. Dafür Stubenappell, Gesundheitsappell, Fahnenappell.
Einmal hatte sich Onkel Hein nicht getraut, an einem Seil über einen Bach zu hangeln. Da war er ausgelacht worden und am Abend hatte der Lagerführer ihn in ein Betttuch wickeln lassen, das von ein paar Jungs vorher in kaltes Wasser getaucht worden war. Onkel Hein hatte in diesem nassen, kalten Tuch auf einem Fliesenboden liegen müssen. Die ganze Nacht und ganz allein.
Ute Bales: Am Kornsand
Rhein-Mosel-Verlag, Zell 2023, ISBN: 9 78 3898014656, gebunden, mit Schutzumschlag, 200 Seiten, 22,80 Euro
Siehe auch:
Zu ihrem neuen Roman "Am Kornsand"
Was Vergangenheit mit Gegenwart macht
Von Ute Bales
NRhZ 810 vom 26.04.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28583
Leseprobe 1: Rheinufer
NRhZ 811 vom 17.05.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28614
Online-Flyer Nr. 812 vom 31.05.2023
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Literatur
Aus dem Roman "Am Kornsand", Leseprobe 2
Helga, 1970er Jahre
Von Ute Bales
Zum Inhalt: Der 18-jährige Hans Kaiser lässt sich im März 1945, nur ein paar Stunden bevor die Amerikaner kommen, am Rheinufer bei Nierstein (Am Kornsand) zu einer unfassbaren Tat überreden. Seine spätere Familie weiß nichts davon, bis 40 Jahre später der Stern darüber berichtet. Neben der Geschichte des Täters wird die seiner Tochter Helga erzählt. Helga leidet an einer Hautkrankheit, die Ende der 1970er Jahre in einem Verschickungsheim auf der Insel Föhr kuriert werden soll. Im Verschickungsheim ist sie vom ersten Tag an der Brutalität der Erzieherinnen ausgesetzt. Mit tiefen seelischen Narben kehrt sie nach Hause zurück. Jahre später wird sie mit der Tat ihres Vaters konfrontiert. Der Roman beschäftigt sich mit Schuld, mit der Unmöglichkeit von Sühne und mit den Fragen, wer ist Opfer, wer ist Täter? Dabei zeigt sich, dass Schuld individuell ist und persönlich getragen werden muss. Hintergrund ist das historisch verbriefte Kornsandverbrechen. Es folgt Leseprobe 2 (Helga, 1970er Jahre).
Helga fragt sich oft, woher eigentlich diese Unruhe kommt, dieses Unstete und Schreckhafte. Woher kommt dieser Ausschlag, dieses nicht enden wollende Jucken und Kratzen, das Fingernägelkauen, das Gefühl nicht am richtigen Platz zu sein? Manchmal tauchen Bilder auf, vereinzelt und unscharf, kurze Blitzlichter, die sie nicht zusammenbringt und die doch zu ihr gehören.
In den Nächten liegt sie oft wach. Stundenlang starrt sie vom Fenster aus in den Nachthimmel, während sie dem regelmäßigen Atmen ihrer Schwester, mit der sie das Zimmer teilt, zuhört und dem Rascheln und Knistern, wenn die sich von einer Seite auf die andere dreht und aufschreckt, wenn sie beim Namen gerufen wird.
Moni! Schläfst du schon?
Ach, lass mich schlafen.
Aber ich kann nicht schlafen.
Sei ruhig und schlaf endlich. Ich bin so müde.
Im Sommer ist der Ausschlag besser zu ertragen als im Winter und juckt auch weniger. Das liegt an der Sonne, die die offenen Stellen austrocknet und zuweilen sogar heilen lässt. Im Winter sind es die Wollpullis, deren krause Fasern den Juckreiz derart befeuern, dass die Haut sich anfühlt, als würde sie glühen. Dann kann Helga weder stillsitzen, noch sich mit anderem befassen. Immer wieder wandern ihre Hände zu den juckenden Stellen, immer wieder reißt sie mit ihren Fingernägeln Wunden auf. Das Kratzen tut gut, aber die Linderung hält nur kurz, das Kribbeln kommt wieder, immer wieder.
Der Juckreiz ist der Grund, dass die Nächte so unruhig sind. Schon der kleinste Reiz auf der Haut, das Betttuch oder eine unachtsame Berührung mit den Händen verursachen Qualen, gegen die sie sich nur mit Kratzen wehren kann.
Dann setzt auch meist der Harndrang ein, sie wankt durch den Flur, dünnhäutig und furchtsam. Am Morgen erwacht sie mit Striemen auf Armen, Beinen oder am Hals, die oft auch bluten. Besonders die Ellenbogen und die Innenseiten der Arme sehen furchtbar aus. Die Haut ist an diesen Stellen dicker, außerdem rot und geschwollen. Manchmal nässen die Hautstellen oder es bilden sich Bläschen, die mit der Zeit aufplatzen und später verkrusten. Auch Risse entstehen, regelrechte Hautfurchen, für die sie sich schämt.
Sie hat schon viel ausprobiert, Salben und Cremes aus der Apotheke, Kräuter von einem Wunderheiler, allerhand Hausmittel. Nichts davon hilft, außer langärmeligen Kleidungsstücken. Sie verdecken zumindest die Wunden.
Die Mutter findet das ständige Kratzen ekelhaft. »Ja, ekelhaft. Kannst du nicht aufhören? Man muss sich doch beherrschen können!« Ständig fährt sie sie an. Nein, sie kann nicht aufhören. Es ist wie ein Zwang. Sie kratzt und kratzt, bis es blutet. Es ist ein Kreislauf. Es juckt, sie kratzt, es blutet, es heilt, es juckt und sie kratzt wieder.
Der Vater, eigentlich strenger als die Mutter, zeigt mehr Verständnis. Von einer Kur an der Nordsee verspricht er sich was, von salziger Seeluft, gut für solche Hautgeschichten. Er telefoniert mit einem Arzt, den er von früher kennt. Einer, der solche Sachen behandelt.
An die See muss das Kind, bestätigt der Arzt, und ist sicher, dass eine frische Meeresbrise und viel Bewegung Allergien zum Verschwinden brächten. Borkum ist im Gespräch, dann St. Peter Ording. Schließlich Wyk auf Föhr.
Sie wehrt sich, will nicht an die Nordsee. Dorthin haben sie Onkel Hein geschickt, den Bruder des Vaters. Onkel Hein war damals noch ein Kind, nur sechs Jahre alt. Sie kennt Heins Geschichten von der Hitlerjugend, von Wettkämpfen, Geländespielen, von Heimabenden. Auch die Geschichte von seiner Verschickung hat er oft erzählt. Neun Monate ist er damals von seinen Eltern getrennt worden, nur hin und wieder waren Postkarten erlaubt. Keine Besuche. Dafür Stubenappell, Gesundheitsappell, Fahnenappell.
Einmal hatte sich Onkel Hein nicht getraut, an einem Seil über einen Bach zu hangeln. Da war er ausgelacht worden und am Abend hatte der Lagerführer ihn in ein Betttuch wickeln lassen, das von ein paar Jungs vorher in kaltes Wasser getaucht worden war. Onkel Hein hatte in diesem nassen, kalten Tuch auf einem Fliesenboden liegen müssen. Die ganze Nacht und ganz allein.
Ute Bales: Am Kornsand
Rhein-Mosel-Verlag, Zell 2023, ISBN: 9 78 3898014656, gebunden, mit Schutzumschlag, 200 Seiten, 22,80 Euro
Siehe auch:
Zu ihrem neuen Roman "Am Kornsand"
Was Vergangenheit mit Gegenwart macht
Von Ute Bales
NRhZ 810 vom 26.04.2023
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Leseprobe 1: Rheinufer
NRhZ 811 vom 17.05.2023
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