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Literatur
Johannes Heinrichs: Das Recht nicht zu lügen
Ein offenbares Geheimnis
Buchbesprechung von Oliver Mörchel
Der unlängst 80 Jahre alt gewordene Johannes Heinrichs, Verfasser von mittlerweile 46 Büchern und 151 Fachaufsätzen, Lexikonbeiträgen und Artikeln zu nahezu allen bedeutenden philosophischen Themen, über die sich ein Mensch Gedanken machen kann, hat hiermit nun ein sehr persönliches Werk vorgelegt. In dessen Untertitel heißt es: „Der Ex-Jesuit im autobiografischen Interview über sexuelle Heuchelei, Staatskirchentum und die akademische Diskurskrankheit“: ein Untertitel, der nur einige Themen nennt, die in diesem bemerkenswerten Buch zur Sprache kommen. In zehn Kapiteln regt dabei Gesprächspartner Korai Peter Stemmann den Philosophen an, sein gehaltvolles Leben in erzählerischen Passagen Revue passieren zu lassen; gemäß dem Titel – ein Zitat Albert Camus‘ – zu „Freiheit und Wahrhaftigkeit des Ausdrucks“.
Nach einem Anstoß gebenden Briefwechsel erzählt dieser in den ersten Kapiteln von seiner Kindheit und Jugend in Duisburg/Rheinhausen, von Kriegs- und Nachkriegszeiten, von Heimat wie Fremdheit darin, in der „musikalischen Bäckerei“ Heinrichs, einer Familie, in der „mehr durch Singen als durch Sprechen kommuniziert wurde“. Darin eingebunden manche zukunftsweisende Anekdoten.
Sinnträchtig bereits im September 1942 die Umstände seiner Geburt: die bedenklich verzögerte Erkenntnis der Hebamme, dass nach der Entbindung eines ersten Kindes, eines Mädchens, es sich da im Mutterleib wohl nicht um eine Nachgeburt handeln könne, die so auf sich warten ließ, sondern um ein unerwartetes zweites Kind: den Zwilling, Johannes.
Wir lesen von einem frühen kleinen Einheitserleben beim Kneten auf der Veranda. Solche werden allerdings nicht übermäßig aufgeblasen, sondern: „Jedes ungestörte, wache Kind hat mehr oder weniger solche Lichtblicke gespeichert“. Sodann aber auch die Angsterfahrung des „Herausfallens“ – beim über den Rand der Veranda Herausgehobenwerden durch einen Gesellen. Ebenso interessant wie dezent lesen sich Begebenheiten aus der Schulzeit wie ein kleines „Urerlebnis mit dem Wunderwerk Sprache“: die staunende Entdeckung, dass man in ihr Bedeutungen übertragen, das eine für das andere nehmen kann. – Das alles wird auf eine sehr angenehm unpathetisch-tiefgründige Weise nahbar und authentisch erzählt. Wie bei dem Schüler mehr und mehr der Sinn für alles Innere wächst, auch eine recht frühe dichterische Begabung und eben die „philosophisch-theologische“, wenngleich der Junge im konfessionell getönten Unterricht „von anderen Religionen nur ein abstraktes und tendenziöses Zerrbild“ erfährt, „von Anthroposophie […] rein gar nichts“, „von deren theosophischer Quelle noch weniger als nichts“, sodass man sich mit ihm fragt: hat sich das etwa geändert?
Der Autor setzt hinzu: „als gäbe es für unser Gemeinwesen keine Alternative zu den kirchlichen Großlieferanten, ja Monopolisten, für Ethik und abendländische Kultur und als sei deren offensichtliche Überprivilegierung durch Staats-Kirchen-Verträge […] ein unabänderlicher Volkswille“. – So kann man als Leser ein Stück weit nachvollziehen, wie so ein junger, geistig sehr wacher Mensch aus einer Handwerksfamilie zu dem Entschluss kommt, sich einem kirchlichen Orden mit dem Grundsatz anzuschließen: „Contemplativus in actione: ,inmitten der Aktivität selbst kontemplativ sein‘ und ,Gott finden in allen Dingen‘, vor allem im Tun“. Er wird ihm eine zweite, geistige Familie – eine verhängnisvolle, teils „ödipale Art von Mutterbindung“, aus der sich völlig zu befreien ein langer Weg für „Carissimus“ Heinrichs werden wird…
Spannend ist es, aus dem Innern eines solchen Ordens zu erfahren, vom streng durchgetakteten Tagesablauf inklusive „Gewissenserforschung“ zweimal täglich, vom Umgang der Novizen miteinander und dem Geistesleben. Viel Interessantes und Intimes durchdringt sich in diesen Kapiteln, und man muss bei allem durchaus sagen, dass es dem Autor hier gelingt, in der Gesamtbetrachtung nicht ungerecht zu werden.
Da sind – wenngleich im Orden untersagt – partikulare Freundschaften, die ihn bereichern, sich in „beglückende[r] Gegenseitigkeit“ vertiefen, und nicht nur zu Gedanken und Gedichten animieren… „Man kann das Menschliche nicht verbieten“. Überhaupt, merkt man, ist es immer spannend, wo das Denken das Leben nicht behindert, sondern durchdringt und unterscheiden hilft. Heinrichs schildert am eigenen Beispiel das Wirken verschiedener Dimensionen der Liebe – Sexus, Eros, Philia, Agape –, ihr Wechselspiel wie das unheilvolle Umschlagen derselben, wo weggesteckt werden muss, was nicht sein darf, geschweige denn, wo Christus „der einzige wirkliche Freund“ zu sein hat.
Denkwürdig sind solche Erlebnisse von Freundschaft; Beziehungen verschiedenster Art ziehen sich durch das ganze Buch. Es ist wesentlich für den Menschen wie für den Philosophen und spiegelt sich hier im Gesprächsstil wieder: das Dialogische.
In Anknüpfung an Denker wie Martin Buber und Gotthard Günther macht Heinrichs auf das „logische Problem des Du“ aufmerksam, das eine grundsätzlich andere Qualität gegenüber der Subjekt-Objekt-Beziehung beansprucht im wahrsten Sinne – man kann es ansprechen und Antwort erwarten –, die in der „Gegenseitigkeit“ liegt. So gerät das Hin und Her der Freundschaft zum Entdeckungszusammenhang der „interpersonalen Reflexion“, eines gelebten Prinzips, mit dem sich soziale Systeme erklären lassen; was der Autor denn in umfangreicher Form dargelegt hat, etwa in „Logik des Sozialen. Wie Gesellschaft entsteht“ – im Brückenschlag zwischen Handlungstheorie à la Habermas und Systemtheorie à la Luhmann.
Heinrichs zeigt schlicht, wie sich schon im Aneinanderdenken oder im Blickwechsel unterschiedliche Stufen dieses Prinzips ausleben, von der einseitigen sozusagen gegenständlichen Art, über die strategische, ferner die gegenseitig-kommunikative, bis hin zu einer vierten, der metakommunikativen Stufe, die (ausdrücklicher) Ausdruck der Gegenseitigkeit ist, wie in Form einer Verabredung. Es verblüfft, dass dieses erstaunlich einfach nachzuvollziehende Sozialprinzip, das offenbar so folgenreich ist, dass sein Entdecker daraus sogar einen 444 Seiten starken Entwurf zur „Revolution der Demokratie. Eine konstruktive Bewusstseinsrevolution“ in Buchform entwickeln konnte sowie in Kurzform ein „Demokratiemanifest“, nicht einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu sein scheint und akademisch diskutiert wird.
Über Innerakademisches an kirchlichen wie weltlichen Hochschulen, von kirchlich-staatlichen Übereinkünften, von schleierhaften Berufungs- und Forschungsantragsverfahren weiß Heinrichs einiges zu berichten ebenso wie über die in den Geisteswissenschaften weitverbreitete „Krankheit des Diskurses“, unter dem sehr vieles durchgeht, was nur irgendeinen Redezusammenhang hat statt den des logisch-begrifflichen systematischen Denkens. Liest man all das, kommt man nicht umhin, sich zu fragen, warum jemand, der schneller als üblich sein Studium macht, unter den Ordens- und Kirchenleuten als der aufstrebende Denker hofiert, von der Universität Bonn für seine Doktorarbeit über „Die Logik der ‚Phänomenologie des Geistes‘ [von Hegel]“mit Preis ausgezeichnet und an der päpstlichen Gregoriana in Rom mit einer Professur bedacht wird, sich viele Jahre als Ghostwriter verdingen muss, nicht zuletzt.
Zugleich aber stellt sich über diesen Lebensbeschreibungen die Frage, ob nicht gerade solches sich durch alle möglichen Widerstände und Außenseitertum Hindurcharbeiten-Müssen des Philosophen ganz persönliche schicksalhafte Schule der Wahrhaftigkeit werden musste und schließlich diesen durch und durch eigenständigen „Denkweg“ hervorgebracht hat, von welchem noch einmal konzentriert weiterführend der gleichnamige Anhang zeugt. In einem seiner Gedichte heißt es: „Wählen wir // als Erwählte // uns nicht zu schonen. // Denn die Geheimnisse schonen uns nicht.“
Heinrichs, der sich im Zuge einer Gastprofessur am Institut für Sozialökologie der Berliner Humboldtuni Anfang der 2000er, inzwischen doch noch offiziell Professor nennen darf, hat, wie er mit dieser Autobiografie beweist, nichts von dem vertrockneten Stil von Kanzeln oder wohlbewahrter Lehrstühle. Reines Referieren von Gedanken, ermüdend historisierende Gelehrsamkeit findet man nirgends bei ihm. Aus eigener Quelle inspiriert, kühn und streng durchdacht muss es genannt werden, Johannes Heinrichs‘ Lebenswerk, in dem sich sowohl eine sozialethische Wirtschaftstheorie, eine so dringliche philosophische Analyse des Gesellschaftsproblems Migration als auch ein fünfbändiges Grundlagenwerk zum Thema „Sprache“ samt tiefenfundierter Stilistik findet – all das, man kann’s kaum glauben, aus einem Guss, hergeleitet aus jener reflexiven Struktur, die sich, wie skizziert, bereits im Blickwechsel zwischen zweien zeigt.
In Zeiten der „Entzweiung“, wie Hegel sagen würde, da „die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie“.
Es ist nicht nur diesem Hegel-Weiterdenker Heinrichs selbst zu wünschen, dass durch Das Recht nicht zu lügen viele Menschen solch ein Bedürfnis verspüren mögen.
Johannes Heinrichs: Das Recht nicht zu lügen
Europa Buch Verlag, Berlin 2023, 497 Seiten, 19,50 Euro
Online-Flyer Nr. 818 vom 06.09.2023
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Johannes Heinrichs: Das Recht nicht zu lügen
Ein offenbares Geheimnis
Buchbesprechung von Oliver Mörchel
Der unlängst 80 Jahre alt gewordene Johannes Heinrichs, Verfasser von mittlerweile 46 Büchern und 151 Fachaufsätzen, Lexikonbeiträgen und Artikeln zu nahezu allen bedeutenden philosophischen Themen, über die sich ein Mensch Gedanken machen kann, hat hiermit nun ein sehr persönliches Werk vorgelegt. In dessen Untertitel heißt es: „Der Ex-Jesuit im autobiografischen Interview über sexuelle Heuchelei, Staatskirchentum und die akademische Diskurskrankheit“: ein Untertitel, der nur einige Themen nennt, die in diesem bemerkenswerten Buch zur Sprache kommen. In zehn Kapiteln regt dabei Gesprächspartner Korai Peter Stemmann den Philosophen an, sein gehaltvolles Leben in erzählerischen Passagen Revue passieren zu lassen; gemäß dem Titel – ein Zitat Albert Camus‘ – zu „Freiheit und Wahrhaftigkeit des Ausdrucks“.
Nach einem Anstoß gebenden Briefwechsel erzählt dieser in den ersten Kapiteln von seiner Kindheit und Jugend in Duisburg/Rheinhausen, von Kriegs- und Nachkriegszeiten, von Heimat wie Fremdheit darin, in der „musikalischen Bäckerei“ Heinrichs, einer Familie, in der „mehr durch Singen als durch Sprechen kommuniziert wurde“. Darin eingebunden manche zukunftsweisende Anekdoten.
Sinnträchtig bereits im September 1942 die Umstände seiner Geburt: die bedenklich verzögerte Erkenntnis der Hebamme, dass nach der Entbindung eines ersten Kindes, eines Mädchens, es sich da im Mutterleib wohl nicht um eine Nachgeburt handeln könne, die so auf sich warten ließ, sondern um ein unerwartetes zweites Kind: den Zwilling, Johannes.
Wir lesen von einem frühen kleinen Einheitserleben beim Kneten auf der Veranda. Solche werden allerdings nicht übermäßig aufgeblasen, sondern: „Jedes ungestörte, wache Kind hat mehr oder weniger solche Lichtblicke gespeichert“. Sodann aber auch die Angsterfahrung des „Herausfallens“ – beim über den Rand der Veranda Herausgehobenwerden durch einen Gesellen. Ebenso interessant wie dezent lesen sich Begebenheiten aus der Schulzeit wie ein kleines „Urerlebnis mit dem Wunderwerk Sprache“: die staunende Entdeckung, dass man in ihr Bedeutungen übertragen, das eine für das andere nehmen kann. – Das alles wird auf eine sehr angenehm unpathetisch-tiefgründige Weise nahbar und authentisch erzählt. Wie bei dem Schüler mehr und mehr der Sinn für alles Innere wächst, auch eine recht frühe dichterische Begabung und eben die „philosophisch-theologische“, wenngleich der Junge im konfessionell getönten Unterricht „von anderen Religionen nur ein abstraktes und tendenziöses Zerrbild“ erfährt, „von Anthroposophie […] rein gar nichts“, „von deren theosophischer Quelle noch weniger als nichts“, sodass man sich mit ihm fragt: hat sich das etwa geändert?
Der Autor setzt hinzu: „als gäbe es für unser Gemeinwesen keine Alternative zu den kirchlichen Großlieferanten, ja Monopolisten, für Ethik und abendländische Kultur und als sei deren offensichtliche Überprivilegierung durch Staats-Kirchen-Verträge […] ein unabänderlicher Volkswille“. – So kann man als Leser ein Stück weit nachvollziehen, wie so ein junger, geistig sehr wacher Mensch aus einer Handwerksfamilie zu dem Entschluss kommt, sich einem kirchlichen Orden mit dem Grundsatz anzuschließen: „Contemplativus in actione: ,inmitten der Aktivität selbst kontemplativ sein‘ und ,Gott finden in allen Dingen‘, vor allem im Tun“. Er wird ihm eine zweite, geistige Familie – eine verhängnisvolle, teils „ödipale Art von Mutterbindung“, aus der sich völlig zu befreien ein langer Weg für „Carissimus“ Heinrichs werden wird…
Spannend ist es, aus dem Innern eines solchen Ordens zu erfahren, vom streng durchgetakteten Tagesablauf inklusive „Gewissenserforschung“ zweimal täglich, vom Umgang der Novizen miteinander und dem Geistesleben. Viel Interessantes und Intimes durchdringt sich in diesen Kapiteln, und man muss bei allem durchaus sagen, dass es dem Autor hier gelingt, in der Gesamtbetrachtung nicht ungerecht zu werden.
Da sind – wenngleich im Orden untersagt – partikulare Freundschaften, die ihn bereichern, sich in „beglückende[r] Gegenseitigkeit“ vertiefen, und nicht nur zu Gedanken und Gedichten animieren… „Man kann das Menschliche nicht verbieten“. Überhaupt, merkt man, ist es immer spannend, wo das Denken das Leben nicht behindert, sondern durchdringt und unterscheiden hilft. Heinrichs schildert am eigenen Beispiel das Wirken verschiedener Dimensionen der Liebe – Sexus, Eros, Philia, Agape –, ihr Wechselspiel wie das unheilvolle Umschlagen derselben, wo weggesteckt werden muss, was nicht sein darf, geschweige denn, wo Christus „der einzige wirkliche Freund“ zu sein hat.
Denkwürdig sind solche Erlebnisse von Freundschaft; Beziehungen verschiedenster Art ziehen sich durch das ganze Buch. Es ist wesentlich für den Menschen wie für den Philosophen und spiegelt sich hier im Gesprächsstil wieder: das Dialogische.
In Anknüpfung an Denker wie Martin Buber und Gotthard Günther macht Heinrichs auf das „logische Problem des Du“ aufmerksam, das eine grundsätzlich andere Qualität gegenüber der Subjekt-Objekt-Beziehung beansprucht im wahrsten Sinne – man kann es ansprechen und Antwort erwarten –, die in der „Gegenseitigkeit“ liegt. So gerät das Hin und Her der Freundschaft zum Entdeckungszusammenhang der „interpersonalen Reflexion“, eines gelebten Prinzips, mit dem sich soziale Systeme erklären lassen; was der Autor denn in umfangreicher Form dargelegt hat, etwa in „Logik des Sozialen. Wie Gesellschaft entsteht“ – im Brückenschlag zwischen Handlungstheorie à la Habermas und Systemtheorie à la Luhmann.
Heinrichs zeigt schlicht, wie sich schon im Aneinanderdenken oder im Blickwechsel unterschiedliche Stufen dieses Prinzips ausleben, von der einseitigen sozusagen gegenständlichen Art, über die strategische, ferner die gegenseitig-kommunikative, bis hin zu einer vierten, der metakommunikativen Stufe, die (ausdrücklicher) Ausdruck der Gegenseitigkeit ist, wie in Form einer Verabredung. Es verblüfft, dass dieses erstaunlich einfach nachzuvollziehende Sozialprinzip, das offenbar so folgenreich ist, dass sein Entdecker daraus sogar einen 444 Seiten starken Entwurf zur „Revolution der Demokratie. Eine konstruktive Bewusstseinsrevolution“ in Buchform entwickeln konnte sowie in Kurzform ein „Demokratiemanifest“, nicht einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu sein scheint und akademisch diskutiert wird.
Über Innerakademisches an kirchlichen wie weltlichen Hochschulen, von kirchlich-staatlichen Übereinkünften, von schleierhaften Berufungs- und Forschungsantragsverfahren weiß Heinrichs einiges zu berichten ebenso wie über die in den Geisteswissenschaften weitverbreitete „Krankheit des Diskurses“, unter dem sehr vieles durchgeht, was nur irgendeinen Redezusammenhang hat statt den des logisch-begrifflichen systematischen Denkens. Liest man all das, kommt man nicht umhin, sich zu fragen, warum jemand, der schneller als üblich sein Studium macht, unter den Ordens- und Kirchenleuten als der aufstrebende Denker hofiert, von der Universität Bonn für seine Doktorarbeit über „Die Logik der ‚Phänomenologie des Geistes‘ [von Hegel]“mit Preis ausgezeichnet und an der päpstlichen Gregoriana in Rom mit einer Professur bedacht wird, sich viele Jahre als Ghostwriter verdingen muss, nicht zuletzt.
Zugleich aber stellt sich über diesen Lebensbeschreibungen die Frage, ob nicht gerade solches sich durch alle möglichen Widerstände und Außenseitertum Hindurcharbeiten-Müssen des Philosophen ganz persönliche schicksalhafte Schule der Wahrhaftigkeit werden musste und schließlich diesen durch und durch eigenständigen „Denkweg“ hervorgebracht hat, von welchem noch einmal konzentriert weiterführend der gleichnamige Anhang zeugt. In einem seiner Gedichte heißt es: „Wählen wir // als Erwählte // uns nicht zu schonen. // Denn die Geheimnisse schonen uns nicht.“
Heinrichs, der sich im Zuge einer Gastprofessur am Institut für Sozialökologie der Berliner Humboldtuni Anfang der 2000er, inzwischen doch noch offiziell Professor nennen darf, hat, wie er mit dieser Autobiografie beweist, nichts von dem vertrockneten Stil von Kanzeln oder wohlbewahrter Lehrstühle. Reines Referieren von Gedanken, ermüdend historisierende Gelehrsamkeit findet man nirgends bei ihm. Aus eigener Quelle inspiriert, kühn und streng durchdacht muss es genannt werden, Johannes Heinrichs‘ Lebenswerk, in dem sich sowohl eine sozialethische Wirtschaftstheorie, eine so dringliche philosophische Analyse des Gesellschaftsproblems Migration als auch ein fünfbändiges Grundlagenwerk zum Thema „Sprache“ samt tiefenfundierter Stilistik findet – all das, man kann’s kaum glauben, aus einem Guss, hergeleitet aus jener reflexiven Struktur, die sich, wie skizziert, bereits im Blickwechsel zwischen zweien zeigt.
In Zeiten der „Entzweiung“, wie Hegel sagen würde, da „die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie“.
Es ist nicht nur diesem Hegel-Weiterdenker Heinrichs selbst zu wünschen, dass durch Das Recht nicht zu lügen viele Menschen solch ein Bedürfnis verspüren mögen.
Johannes Heinrichs: Das Recht nicht zu lügen
Europa Buch Verlag, Berlin 2023, 497 Seiten, 19,50 Euro
Online-Flyer Nr. 818 vom 06.09.2023
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