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Krieg und Frieden
Rede bei der Verleihung des Kölner Karlspreises der NRhZ an Michael Ballweg im Rahmen der Konferenz "Frieden ohne NATO", Köln, 25.11.2023
Lessing, Karl Marx und Michael Ballweg
Von Rudolph Bauer
Wenn Michael Ballweg, der „Querdenker“ und Demokrat, den nach Karl Marx benannten Kölner Karlspreis erhält, hat dies eine besondere Bewandtnis. Denn auch Marx war zu seiner Zeit eine Art Querdenker. Zusammen mit anderen Fortschrittlichen von damals hatte er sich für Demokratie und Freiheit eingesetzt. Wie Ballweg (und vielen seiner Mitstreiter und Mitstreiterinnen), so ist es auch Marx ergangen; er wurde von den Staatsorganen verfolgt. Mit dieser Feststellung ist eine wichtige Parallele erkennbar. Sie erklärt, weshalb jemand wie Michael Ballweg es verdient, nach neunmonatiger, ungerechtfertigter U-Haft mit dem Kölner Karlspreis ausgezeichnet zu werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle historisch etwas ausholen.
Überraschungslaudator Rudolph Bauer – Foto: Anneliese Fikentscher (Arbeiterfotografie)
Denn es sind Missverständnisse und bewusst geschürte Missdeutungen, die dafür verantwortlich sind, dass Marx – ähnlich wie auf verleumderische Weise auch Michael Ballweg und die Demokratie-Bewegung – nicht mit Demokratie und Freiheit in Verbindung gebracht wird, sondern fälschlicherweise und denunziatorisch mit Diktatur und Totalitarismus.
Es verhält sich bei Marx wie in der Lessing-Legende – so der Titel einer von Franz Mehring verfassten und 1893 veröffentlichten Streitschrift. Thema der Streitschrift war der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing.
Lessing wurde nach seinem Tod 1781 von der deutschen Reaktion in kulturnationalistischer Absicht militarisiert und zum kriegsbegeisterten Haudegen umgedeutet. Kulturnationalismus meint eine besondere Form des Chauvinismus. Dieser basiert auf der Ideologie, dass das eigene Volk allen anderen Völkern überlegen sei, und zwar nicht zuletzt wegen seiner besonderen kulturellen Leistungen. Die Ideologie einer Überlegenheit der Kultur- und Bildungsnation preußischer Provenienz – „das Volk der Dichter und Denker“! – erstreckte sich in der Folge auch auf andere Gebiete, nicht zuletzt auf das der militärischen Prävalenz.
Die nachromantisch-kulturnationalistische Legendenbildung hat den Autor Lessing umgedeutet zu einem kriegerischen und kriegsbegeisterten Nationalschriftsteller. Gegen diese politisch und medial gelenkte Missdeutung – Mehring nannte sie eine „Legende“, heute würde man sagen: gegen dieses Rezeptionsnarrativ – hat Franz Mehring angeschrieben. Er verfasste eine Streitschrift zur Richtigstellung. So – nämlich „Richtigstellung!“ – lautet übrigens auch der Buchtitel des äußerst lesenswerten Gesprächs von Mathias Bröckers mit Ballweg und seinem Anwalt Ralf Ludwig. (*)
In Mehrings Richtigstellung begegnen wir in der Gestalt Lessings keinem preußischen Militaristen, sondern einem höchst streitbaren und kritisch-widerständigem Schriftsteller seiner Zeit. Mehring charakterisiert Lessing als einen „edeln Vorkämpfer freier Menschheit“ und – Mehring war Marxist – als eine Leitfigur des sozialistischen Kämpfers. „Auf Lessing zurückgehen“, so bemerkte Mehring, „heißt fortschreiten.“
Ralf Ludwig, Rudolph Bauer, und Michael Ballweg - Foto: Senne Glanschneider (Arbeiterfotografie)
Aus der Sicht von Franz Mehring offenbaren Lessings unablässige Angriffe auf die feige Untertanengesinnung der „Philister“ seiner Zeit ein echt revolutionäres und revolutionär-demokratisches Denken. Mehring sieht in Lessing den bürgerlichen Klassenkämpfer und zugleich einen Vorkämpfer zur Befreiung der Arbeiterklasse. Lessing war, so Mehring, ein entschiedener Gegner des friederizianisch-preußischen Despotismus.
Mehrings Richtigstellung der Lessing-Legende lautet, kurz gefasst: Lessing sei es um Ehrlichkeit und Standfestigkeit gegangen. Er sei getrieben gewesen von einer unersättlichen Begierde des Wissens, vom Trachten nach Wahrheit, von der Solidarität mit allen Unterdrückten und vom Hass gegen jeden Unterdrücker.
Lessing sei motiviert gewesen durch seine grundsätzliche Abneigung gegen die Großen der Welt, gegen das Establishment. In steter Kampfbereitschaft gegen das Unrecht sowie im militanten Widerspruch gegen das Elend der politischen und sozialen Zustände habe Lessing die bescheidene, zugleich aber auch stolze Haltung des Rebellen und Widerständlers eingenommen. So weit, so gut – und so vorbildlich.
Wie schon erwähnt: Nach seinem Tod 1881 wurde Gotthold Ephraim Lessing von den deutschen Kulturnationalisten vereinnahmt und umgedeutet. In gleicher Weise, freilich auf ganz andere Art, ist es auch Karl Marx ergangen. Er wurde ebenfalls vereinnahmt und umgedeutet bzw. missinterpretiert.
So, wie man Lessing kulturnationalistisch verfälscht hatte, so wurde Marx teils in sozialdemokratisch-reformistischer bzw. linksrevisionistischer Absicht, nicht zuletzt und vor allem aber aus antikommunistischen Gründen teils verdreht, verkürzt, vereinnahmt, teils diffamiert, verleumdet, verfälscht und letztlich als totalitär beschuldigt: als verantwortlich für den sog. Stalinismus, für Pol Poth und für all das, was die Neue Zürcher Zeitung in einem Artikel am 30. Mai 2018 zum 200. Geburtstag von Karl Marx als „das moralische Desaster der kommunistischen Bewegung“ apostrophierte.
Nebenbei bemerkt: In diesem Zusammenhang war es nahezu wohltuend, zur Kenntnis zu nehmen, welche Einschätzung der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, Karl Marx damals zuteilwerden ließ : «Heute steht er (nämlich Marx) für Dinge, für die er nicht verantwortlich ist und für die er nicht die Ursache war, denn viele der Dinge, die er schrieb, wurden ins Gegenteil umformuliert.»
Man kann natürlich den Verdacht hegen, dass Juncker Marx auf ähnliche Weise zu vereinnahmen suchte, wie es Lessing nach seinem Tod durch die Kulturnationalisten ergangen war. Doch gegenwärtig ist die Marx-Legende vornehmlich immer noch eine der Ablehnung und Ausgrenzung, der Beschuldigung und Verdammung. Wer den Namen „Marx“ erwähnt, wird sogar unter sog. Linken schon mal z. B. der Spalterei bezichtigt.
In Wahrheit ist Marx, der Namensträger des Karlspreises – wenn man ihn politisch treffend einordnet – ein Demokrat gewesen. Er und Friedrich Engels forderten in der wichtigsten ihrer programmatischen Verlautbarungen, nämlich im „Kommunistischen Manifest“ von 1848, die „Erkämpfung der Demokratie“. Marx beteiligte sich konkret und aktiv-praktisch an der 1848er Revolution als Chefredakteur des in Köln erschienenen Tagesjournals „Neue Rheinische Zeitung“. Diese trug von der ersten bis zur damals letzten Ausgabe – also vom 1. Juni 1848 bis 19. Mai 1849 – den Untertitel „Organ der Demokratie“.
Die Erringung der Demokratie, von der im Kommunistischen Manifest die Rede ist, setzte Marx gleich mit der „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“. Erklärtes Ziel war es, den kapitalistischen Klassenwiderspruch in der Gesellschaft aufzuheben. Dabei verwendete Marx den Begriff der „Diktatur des Proletariats“, und zwar nicht als Programm, sondern als abstrakte Antithese zur formaldemokratischen Herrschaftsform der „Diktatur der Bourgeoisie“.
Diesen Zusammenhang gilt es zu beachten: Die historische, genauer: die politik- und sozialgeschichtliche Kontextualisierung ist erforderlich und entscheidend, um aus der Marx’schen Formulierung nicht ein totalitäres Projekt abzuleiten.
Im politischen Kontext der Mitte des 19. Jahrhunderts und als abstrakte Negation der formaldemokratisch verbrämten Diktatur der Bourgeoisie hat die polemische Rede von der „Diktatur des Proletariats“ einen fortschrittlich-revolutionären Sinn. Gemeint ist dabei aber nicht Volksunterdrückung durch ein mehrheitliches Parteienkartell, sondern wahre Volksmehrheit: nämlich die Volksmehrheit der vom Kapital ausgebeuteten Werktätigen sowie der in den ausgebeuteten Kolonien Unterdrückten.
Später, ab 1871, ersetzte Marx die Formel der abstrakten Negation – also der abstrakten Gegenüberstellung: Diktatur der Bourgeoisie versus Diktatur des Proletariats –, durch die ausführliche und konkrete Beschreibung der demokratischen Verfahrensweisen während der Pariser Kommune. Marx hat an die Stelle der abstrakten Negation der Diktatur der Bourgeoisie das konkret-anschauliche Konzept der Kommune gesetzt.
Hier ist freilich leider eine wichtige Ergänzung erforderlich: Denn Friedrich Engels ist es gewesen, der diesen programmatisch wichtigen Fortschritt in Richtung einer konkreten Negation dadurch zunichtegemacht hat, dass er 1891 – Marx war bereits tot; er starb 1883 – eigenwillig und auf völlig missverständliche Weise erklärte: „Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ – Falsch, denn die Kommune war die proletarische Demokratie, die bis heute als Vorbild für rätedemokratische Konzepte und basisorientierte Handlungsansätze dienen kann und richtungweisend ist.
Das Ergebnis meiner, dem Vorbild von Mehring im Fall Lessings folgenden Richtigstellung und Korrektur der Marx-Legende lautet: Karl Marx war ein Demokrat, ein Fundamentaldemokrat. Was seine philosophische Denkweise betrifft, war er ein linkshegelianischer Querdenker. Sein wissenschaftliches Ansehen und sein politischer Einsatz für die Ausgebeuteten und Unterdrückten wurden missdeutet bzw. missbraucht für reformistische, revisionistische und offen antikommunistische Zwecke.
Die Verleihung des Karl-Marx-Preises ist daher eine wegweisende Auszeichnung und Verpflichtung zugleich. Sie ist kein folkloristisches Ritual, keine nostalgische Selbstbeweihräucherung, kein politisches Alibi. Mit der Auszeichnung von Michael Ballweg verbindet sich vielmehr eine ganz besondere Bedeutung. Denn er, Michael Ballweg, wird zugleich stellvertretend für alle diejenigen ausgezeichnet, die – genauso wie er – widerständig den gesundheitstotalitären Softfaschismus und neokolonialen Überwachungskapitalismus bekämpft haben und aufgerufen sind, weiterhin wachsam zu bleiben.
Michael Ballweg sowie alle Demokraten/Demokratinnen und Querdenker/Querdenkerinnen stehen sowohl in der Mut machenden demokratischen Tradition eines Karl Marx und seiner Mitstreiter als auch in einer verantwortungsvollen und schwierigen Bewährungsprobe mit Blick auf unsere verfinsterte Gegenwart und auf die in vielfacher Weise gefährdete Zukunft der Menschheit und des vom atomaren Militarismus bedrohten Planeten.
Ebenso wie Mehring formulierte: „Auf Lessing zurückgehen, heißt fortschreiten“, so können wir heute mit Überzeugung davon ausgehen, dass es zutrifft zu sagen: Auf Marx zurückgehen, heißt fortschreiten.
Ralf Ludwig, Rudolph Bauer, Anneliese Fikentscher, Sabiene Jahn, Michael Ballweg und Andreas Neumann - Foto: Senne Glanschneider (Arbeiterfotografie)
*) Michael Ballweg, Ralf Ludwig: Richtigstellung! Es war noch nie falsch, quer zu denken. Ein Gespräch mit Mathias Bröckers. Nachwort von Rudolph Bauer. Frankfurt/Main: Tiger Press 2023
Siehe auch:
Filmclips
25./26. November 2023
FRIEDEN OHNE NATO ::: konferenz in köln ::: video-dokumentation
Von Arbeiterfotografie
NRhZ 825 vom 14.02.2024
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28980
Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25. und 26. November 2023 in Köln
NATO raus aus Deutschland – NATO raus aus Europa
Von NRhZ-Redaktion
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28909
Vortrag bei der Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25. und 26. November 2023 in Köln
Der Weg zum Frieden: NATO raus aus Deutschland – NATO raus aus Europa
Von Andreas Neumann
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28873
Kurzfassung des Vortrags bei der Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25./26. November 2023 in Köln
Im Zangengriff von Militär und Kapital - Methoden des US-Imperiums von Hitler-Faschismus bis Ukraine-Krieg
Von Werner Rügemer
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28910
Vortrag bei der Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25. und 26. November 2023 in Köln
Die Kriegstreiber im Visier - Grundrechtebewegung, authentisches Friedensbewegung und Neuer Krefelder Appell
Von Ansgar Klein
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28906
Vortrag bei der Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25. und 26. November 2023 in Köln
Full Spectrum Dominance – Herrschaftsstrategien von USA und NATO
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28875
Vortrag bei der Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25. und 26. November 2023 in Köln
Todesstaub made in USA – verstrahlt, vergiftet, vertuscht – Uranmunition verseucht die Welt
Von Frieder Wagner
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28907
Vortrag bei der Konferenz "Frieden ohne NATO" am 25. und 26. November 2023 in Köln
Was heißt hier völkerrechtswidrig? – Über die Kriege von 1999 bis heute – Jugoslawien bis Ukraine
Von Klaus Hartmann
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28908
Nachwort zum Buch "Richtigstellung!" von Michael Ballweg, Mathias Bröckers und Ralf Ludwig
Deserteur, Mönch, Digitalaktivist, Igel und Karlspreisträger
Von Rudolph Bauer
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28876
Pressemitteilung vom 16. November 2023
Michael Ballweg kritisiert fortbestehenden Arrest seines Vermögens als unverhältnismäßig
Von Querdenken 711
NRhZ 822 vom 01.12.2023
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28877
Online-Flyer Nr. 822 vom 01.12.2023
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Krieg und Frieden
Rede bei der Verleihung des Kölner Karlspreises der NRhZ an Michael Ballweg im Rahmen der Konferenz "Frieden ohne NATO", Köln, 25.11.2023
Lessing, Karl Marx und Michael Ballweg
Von Rudolph Bauer
Wenn Michael Ballweg, der „Querdenker“ und Demokrat, den nach Karl Marx benannten Kölner Karlspreis erhält, hat dies eine besondere Bewandtnis. Denn auch Marx war zu seiner Zeit eine Art Querdenker. Zusammen mit anderen Fortschrittlichen von damals hatte er sich für Demokratie und Freiheit eingesetzt. Wie Ballweg (und vielen seiner Mitstreiter und Mitstreiterinnen), so ist es auch Marx ergangen; er wurde von den Staatsorganen verfolgt. Mit dieser Feststellung ist eine wichtige Parallele erkennbar. Sie erklärt, weshalb jemand wie Michael Ballweg es verdient, nach neunmonatiger, ungerechtfertigter U-Haft mit dem Kölner Karlspreis ausgezeichnet zu werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle historisch etwas ausholen.
Überraschungslaudator Rudolph Bauer – Foto: Anneliese Fikentscher (Arbeiterfotografie)
Denn es sind Missverständnisse und bewusst geschürte Missdeutungen, die dafür verantwortlich sind, dass Marx – ähnlich wie auf verleumderische Weise auch Michael Ballweg und die Demokratie-Bewegung – nicht mit Demokratie und Freiheit in Verbindung gebracht wird, sondern fälschlicherweise und denunziatorisch mit Diktatur und Totalitarismus.
Es verhält sich bei Marx wie in der Lessing-Legende – so der Titel einer von Franz Mehring verfassten und 1893 veröffentlichten Streitschrift. Thema der Streitschrift war der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing.
Lessing wurde nach seinem Tod 1781 von der deutschen Reaktion in kulturnationalistischer Absicht militarisiert und zum kriegsbegeisterten Haudegen umgedeutet. Kulturnationalismus meint eine besondere Form des Chauvinismus. Dieser basiert auf der Ideologie, dass das eigene Volk allen anderen Völkern überlegen sei, und zwar nicht zuletzt wegen seiner besonderen kulturellen Leistungen. Die Ideologie einer Überlegenheit der Kultur- und Bildungsnation preußischer Provenienz – „das Volk der Dichter und Denker“! – erstreckte sich in der Folge auch auf andere Gebiete, nicht zuletzt auf das der militärischen Prävalenz.
Die nachromantisch-kulturnationalistische Legendenbildung hat den Autor Lessing umgedeutet zu einem kriegerischen und kriegsbegeisterten Nationalschriftsteller. Gegen diese politisch und medial gelenkte Missdeutung – Mehring nannte sie eine „Legende“, heute würde man sagen: gegen dieses Rezeptionsnarrativ – hat Franz Mehring angeschrieben. Er verfasste eine Streitschrift zur Richtigstellung. So – nämlich „Richtigstellung!“ – lautet übrigens auch der Buchtitel des äußerst lesenswerten Gesprächs von Mathias Bröckers mit Ballweg und seinem Anwalt Ralf Ludwig. (*)
In Mehrings Richtigstellung begegnen wir in der Gestalt Lessings keinem preußischen Militaristen, sondern einem höchst streitbaren und kritisch-widerständigem Schriftsteller seiner Zeit. Mehring charakterisiert Lessing als einen „edeln Vorkämpfer freier Menschheit“ und – Mehring war Marxist – als eine Leitfigur des sozialistischen Kämpfers. „Auf Lessing zurückgehen“, so bemerkte Mehring, „heißt fortschreiten.“
Ralf Ludwig, Rudolph Bauer, und Michael Ballweg - Foto: Senne Glanschneider (Arbeiterfotografie)
Aus der Sicht von Franz Mehring offenbaren Lessings unablässige Angriffe auf die feige Untertanengesinnung der „Philister“ seiner Zeit ein echt revolutionäres und revolutionär-demokratisches Denken. Mehring sieht in Lessing den bürgerlichen Klassenkämpfer und zugleich einen Vorkämpfer zur Befreiung der Arbeiterklasse. Lessing war, so Mehring, ein entschiedener Gegner des friederizianisch-preußischen Despotismus.
Mehrings Richtigstellung der Lessing-Legende lautet, kurz gefasst: Lessing sei es um Ehrlichkeit und Standfestigkeit gegangen. Er sei getrieben gewesen von einer unersättlichen Begierde des Wissens, vom Trachten nach Wahrheit, von der Solidarität mit allen Unterdrückten und vom Hass gegen jeden Unterdrücker.
Lessing sei motiviert gewesen durch seine grundsätzliche Abneigung gegen die Großen der Welt, gegen das Establishment. In steter Kampfbereitschaft gegen das Unrecht sowie im militanten Widerspruch gegen das Elend der politischen und sozialen Zustände habe Lessing die bescheidene, zugleich aber auch stolze Haltung des Rebellen und Widerständlers eingenommen. So weit, so gut – und so vorbildlich.
Wie schon erwähnt: Nach seinem Tod 1881 wurde Gotthold Ephraim Lessing von den deutschen Kulturnationalisten vereinnahmt und umgedeutet. In gleicher Weise, freilich auf ganz andere Art, ist es auch Karl Marx ergangen. Er wurde ebenfalls vereinnahmt und umgedeutet bzw. missinterpretiert.
So, wie man Lessing kulturnationalistisch verfälscht hatte, so wurde Marx teils in sozialdemokratisch-reformistischer bzw. linksrevisionistischer Absicht, nicht zuletzt und vor allem aber aus antikommunistischen Gründen teils verdreht, verkürzt, vereinnahmt, teils diffamiert, verleumdet, verfälscht und letztlich als totalitär beschuldigt: als verantwortlich für den sog. Stalinismus, für Pol Poth und für all das, was die Neue Zürcher Zeitung in einem Artikel am 30. Mai 2018 zum 200. Geburtstag von Karl Marx als „das moralische Desaster der kommunistischen Bewegung“ apostrophierte.
Nebenbei bemerkt: In diesem Zusammenhang war es nahezu wohltuend, zur Kenntnis zu nehmen, welche Einschätzung der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, Karl Marx damals zuteilwerden ließ : «Heute steht er (nämlich Marx) für Dinge, für die er nicht verantwortlich ist und für die er nicht die Ursache war, denn viele der Dinge, die er schrieb, wurden ins Gegenteil umformuliert.»
Man kann natürlich den Verdacht hegen, dass Juncker Marx auf ähnliche Weise zu vereinnahmen suchte, wie es Lessing nach seinem Tod durch die Kulturnationalisten ergangen war. Doch gegenwärtig ist die Marx-Legende vornehmlich immer noch eine der Ablehnung und Ausgrenzung, der Beschuldigung und Verdammung. Wer den Namen „Marx“ erwähnt, wird sogar unter sog. Linken schon mal z. B. der Spalterei bezichtigt.
In Wahrheit ist Marx, der Namensträger des Karlspreises – wenn man ihn politisch treffend einordnet – ein Demokrat gewesen. Er und Friedrich Engels forderten in der wichtigsten ihrer programmatischen Verlautbarungen, nämlich im „Kommunistischen Manifest“ von 1848, die „Erkämpfung der Demokratie“. Marx beteiligte sich konkret und aktiv-praktisch an der 1848er Revolution als Chefredakteur des in Köln erschienenen Tagesjournals „Neue Rheinische Zeitung“. Diese trug von der ersten bis zur damals letzten Ausgabe – also vom 1. Juni 1848 bis 19. Mai 1849 – den Untertitel „Organ der Demokratie“.
Die Erringung der Demokratie, von der im Kommunistischen Manifest die Rede ist, setzte Marx gleich mit der „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“. Erklärtes Ziel war es, den kapitalistischen Klassenwiderspruch in der Gesellschaft aufzuheben. Dabei verwendete Marx den Begriff der „Diktatur des Proletariats“, und zwar nicht als Programm, sondern als abstrakte Antithese zur formaldemokratischen Herrschaftsform der „Diktatur der Bourgeoisie“.
Diesen Zusammenhang gilt es zu beachten: Die historische, genauer: die politik- und sozialgeschichtliche Kontextualisierung ist erforderlich und entscheidend, um aus der Marx’schen Formulierung nicht ein totalitäres Projekt abzuleiten.
Im politischen Kontext der Mitte des 19. Jahrhunderts und als abstrakte Negation der formaldemokratisch verbrämten Diktatur der Bourgeoisie hat die polemische Rede von der „Diktatur des Proletariats“ einen fortschrittlich-revolutionären Sinn. Gemeint ist dabei aber nicht Volksunterdrückung durch ein mehrheitliches Parteienkartell, sondern wahre Volksmehrheit: nämlich die Volksmehrheit der vom Kapital ausgebeuteten Werktätigen sowie der in den ausgebeuteten Kolonien Unterdrückten.
Später, ab 1871, ersetzte Marx die Formel der abstrakten Negation – also der abstrakten Gegenüberstellung: Diktatur der Bourgeoisie versus Diktatur des Proletariats –, durch die ausführliche und konkrete Beschreibung der demokratischen Verfahrensweisen während der Pariser Kommune. Marx hat an die Stelle der abstrakten Negation der Diktatur der Bourgeoisie das konkret-anschauliche Konzept der Kommune gesetzt.
Hier ist freilich leider eine wichtige Ergänzung erforderlich: Denn Friedrich Engels ist es gewesen, der diesen programmatisch wichtigen Fortschritt in Richtung einer konkreten Negation dadurch zunichtegemacht hat, dass er 1891 – Marx war bereits tot; er starb 1883 – eigenwillig und auf völlig missverständliche Weise erklärte: „Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ – Falsch, denn die Kommune war die proletarische Demokratie, die bis heute als Vorbild für rätedemokratische Konzepte und basisorientierte Handlungsansätze dienen kann und richtungweisend ist.
Das Ergebnis meiner, dem Vorbild von Mehring im Fall Lessings folgenden Richtigstellung und Korrektur der Marx-Legende lautet: Karl Marx war ein Demokrat, ein Fundamentaldemokrat. Was seine philosophische Denkweise betrifft, war er ein linkshegelianischer Querdenker. Sein wissenschaftliches Ansehen und sein politischer Einsatz für die Ausgebeuteten und Unterdrückten wurden missdeutet bzw. missbraucht für reformistische, revisionistische und offen antikommunistische Zwecke.
Die Verleihung des Karl-Marx-Preises ist daher eine wegweisende Auszeichnung und Verpflichtung zugleich. Sie ist kein folkloristisches Ritual, keine nostalgische Selbstbeweihräucherung, kein politisches Alibi. Mit der Auszeichnung von Michael Ballweg verbindet sich vielmehr eine ganz besondere Bedeutung. Denn er, Michael Ballweg, wird zugleich stellvertretend für alle diejenigen ausgezeichnet, die – genauso wie er – widerständig den gesundheitstotalitären Softfaschismus und neokolonialen Überwachungskapitalismus bekämpft haben und aufgerufen sind, weiterhin wachsam zu bleiben.
Michael Ballweg sowie alle Demokraten/Demokratinnen und Querdenker/Querdenkerinnen stehen sowohl in der Mut machenden demokratischen Tradition eines Karl Marx und seiner Mitstreiter als auch in einer verantwortungsvollen und schwierigen Bewährungsprobe mit Blick auf unsere verfinsterte Gegenwart und auf die in vielfacher Weise gefährdete Zukunft der Menschheit und des vom atomaren Militarismus bedrohten Planeten.
Ebenso wie Mehring formulierte: „Auf Lessing zurückgehen, heißt fortschreiten“, so können wir heute mit Überzeugung davon ausgehen, dass es zutrifft zu sagen: Auf Marx zurückgehen, heißt fortschreiten.
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25./26. November 2023
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NRhZ 822 vom 01.12.2023
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