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Aktueller Online-Flyer vom 27. Juli 2024  

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Kultur und Wissen
Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant
Die UN-Charta – Anspruch und Wirklichkeit
Von Wolfgang Effenberger

Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant stehe ich hier in seinem Geburtsort an seinem Denkmal im Campus der Kant-Universität von Kaliningrad (Königsberg) – einer Nachbildung des nach dem 2. Weltkrieg verschollenen Originals. Kant gilt als einer der wirkmächtigsten Denker überhaupt. Seit über 100 Jahren sind im Tokio Tempelgarten der Philosophie in einer Bildrolle die Weltweisen Buddha, Konfuzius, Sokrates und Kant vereint. Zu Ehren Kants sollte hier in Kaliningrad am 23. und 24. April 2024 die 1. Internationale öffentliche Konferenz "Zum ewigen Frieden" stattfinden. Geladen waren vor allem Kulturschaffende, Journalisten und Politikwissenschaftler aus Russland und Deutschland, die an einer positiven Entwicklung der gegenseitigen Beziehungen interessiert sind. Kurzfristig sagte die Stadt Kaliningrad aus Sicherheitsgründen die Konferenz ab. Hoffen wir, dass im April 2025 die II. Internationale gesellschaftliche Konferenz stattfinden kann. Sie ist dem 230-jährigen Jubiläum von Kants politischem und philosophischem Traktat "Zum ewigen Frieden" gewidmet.



Und hier nun mein spontan am Denkmal gehaltenen Kurzvortrag. Er ist überschrieben:


Die UN-Charta – Anspruch und Wirklichkeit

kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs trafen sich Vertreter von 50 Staaten im Opernhaus von San Francisco, um die Gründung der Vereinten Nationen vorzubereiten.

In der Einladung zur Gründungskonferenz war das Ziel dieser zu schaffenden Organisation fest umrissen: „Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. (i)

Wie sollte etwas aufrechterhalten werden, was es bis dahin noch nicht gegeben hatte? Für Weltfrieden und internationale Sicherheit musste erst ein neuer Rahmen geschaffen werden. Die "Charta der Vereinten Nationen" – ein Regelwerk, in dem sich die beteiligten Nationen bei offizieller Gleichberechtigung zu einer friedlichen Regelung aller internationalen Streitfragen verpflichteten. Auf jede Gewaltmaßnahme gegen die Unversehrtheit und Unabhängigkeit anderer Staaten sollte künftig verzichtet werden. 

In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen wurde festgehalten: „WIR, DIE VOLKER DER VEREINTEN NATIONEN – FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen gewahrt werden können, … um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN. (ii)

150 Jahre zuvor hatte der damals 71-jährige Philosoph Immanuel Kant die Schrift Zum Ewigen Frieden veröffentlicht. Darin machte er sich Gedanken über die Regeln einer globalen Friedensordnung.

Im ersten Abschnitt stellen sechs Präliminar-Artikel die Vorbedingungen des Friedens dar: sie sollen sozusagen einen "Vorfrieden" (iii) sichern.

In einem zweiten Schritt müssen die rechtlichen Grundsätze so aufgestellt werden, dass sich kriegerische Handlungen dauerhaft nicht lohnen.

Dazu ist im zweiten Abschnitt die Verrechtlichung des Friedens durch drei Definitiv-Artikel festgeschrieben.

Es folgen zwei Zusatz-Artikel und ein philosophischer Anhang. Ohne inhaltliche Berücksichtigung dieser Maximen sei der Friede nur provisorisch, "ein bloßer Waffenstillstand" (iv).

Zusammengefasst geht es in den Präliminar-Artikeln darum
  • dass kein ungerechter Frieden mit dem Keim zu künftigen Konflikten geschlossen werden darf (wie z.B. nach dem Ersten Weltkrieg der Frieden von Versailles),
  • dass Staatsgebiete nicht getauscht oder erworben werden können,
  • dass stehende Heere abgebaut werden müssen und
  • dass „keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden“ sollen.
Der Erste Weltkrieg z.B. konnte nur mit massiver Unterstützung der Entente durch Kredite der Wall Street über Jahre geführt werden, und da die Schuldenpapiere bei einer Niederlage der Entente wertlos geworden wären, mussten die USA schließlich 1917 in den Krieg eintreten.

Diese Schulden der Entente führten letztlich zur Festschreibung von Deutschlands Alleinschuld in Artikel 231 des Versailler Vertrags, denn Einer musste die Zeche schließlich zahlen! (v) 

Der wichtigste Präliminarartikel lautet: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates gewalttätig einmischen.“

Dieses Verbot gewaltsamer Interventionen findet sich auch in der UN-Charta wieder. Die Geschichte Vietnams, Afghanistans und des Irak zeigt, dass Großmächte offenbar dazu nicht bereit sind.

Schon der Irak-Krieg 1991 spielte sich in einer völkerrechtlichen Grauzone ab und ließ den damaligen UN-Generalsekretär Perez de Cuellar am ersten Tag der Luftangriffe auf Bagdad von einer "Niederlage der Vereinten Nationen" sprechen.

Und seit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 spielen die UN und das Völkerrecht für die Vereinigten Staaten gar keine Rolle mehr.

Auch darf das „wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden nicht unmöglich“ gemacht werden – wie im Fall von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion keine zwei Jahre nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts, ein massiver Vertrauensbruch, der noch verschärft wurde durch die Ermordung von annähernd drei Millionen russischen Kriegsgefangenen.

„Irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes“, erläutert Kant in seiner Begründung, „muss mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte.“ Ein Ausrottungskrieg würde „den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen.“ (vi)

Der erste Definitivartikel verlangt eine bürgerliche, möglichst „republikanische“ Verfassung der einzelnen Staaten, damit nicht Willkürakte von Diktatoren die Koexistenz der Staaten gefährden.

Darauf folgt die zentrale Forderung nach einem Föderalismus freier Staaten. Für Kant mündet jede Art von Weltstaat in eine Despotie. (vii)

Die Bürger der einzelnen Staaten sollen sich in fremden Staaten frei bewegen können, doch soll das Weltbürgerrecht "auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein", das heißt, es handelt sich um ein Besuchsrecht, kein Bleibe- oder gar Eroberungsrecht.

Kant verweist hier auf die unfaire Kolonialpolitik bei der Besiedlung Amerikas und Afrikas. (viii)

Idealistische Erwartungen dämpfte Kant mit der Einsicht, dass die Macht des Geldes immer wieder für Krieg und Zerstörung sorgen wird, dass unter der „Heeresmacht, der Bundesmacht und der Geldmacht die Letztere wohl das zuverlässigste Kriegswerkzeug sein dürfte“. (ix)

Das zeigte sich bereits am Ende des Zweiten Weltkriegs. Zum 1. Juli 1945 sollte mit dem von Winston Churchill in Auftrag gegebenen Kriegsplan „Operation Unthinkable“ die damalige Sowjetunion zurückgeworfen und ein unabhängiges Polen wiederhergestellt werden. (x)

Unmittelbar nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki beauftragte US-Präsident Harry S. Truman General Eisenhower mit der Entwicklung von nuklearen Angriffsplänen gegen sowjetische Industriestädte.

Am 4. April 1949 wurde die NATO offiziell als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion gegründet. Der erste Generalsekretär der NATO und Chefplaner von Unthinkable, Lord Ismay, formulierte salopp die Aufgabe der NATO: »die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten« (xi).

Im Bündnisvertrag wurde festgehalten, dass wirtschaftlicher Wiederaufbau und wirtschaftliche Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit seien – daher der Marshallplan.

Nur 8 Monate später verabschiedeten die USA den Kriegsplan »Dropshot«. In der »Grundannahme« heißt es wörtlich:  »Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.«

Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29.000 hochexplosive Bomben auf 200 Ziele in einhundert Städten abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt. Als dann jedoch 1957 der Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für Dropshot wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.

Nachdem die USA 1999 ohne UN-Mandat Rest-Jugoslawien angriffen und sich seither die "Interventionen" selbst mandatieren, steht in der westlichen Politik die Phrase der "regelbasierten internationalen Ordnung" hoch im Kurs.

Es geht um die Hegemonie der USA. Dieses Ziel sprach US-Präsident Barack Obama am 28. Mai 2014 in West Point klar aus. Der damals frisch gekürte Friedensnobelpreisträger erläuterte vor den applaudierenden Offiziersanwärtern:

„Ich glaube an den amerikanischen Exzeptionalismus mit jeder Faser meines Seins. Was uns jedoch exzeptionell macht, ist nicht unsere Fähigkeit, uns über internationale Normen und den Rechtsstaat hinwegzusetzen, es ist unsere Bereitschaft, sie durch unsere Handlungen zu bekräftigen“ (xii). Handlungen, die viel Elend und Zerstörung über die Welt gebracht haben.

Im US-Strategiepapier vom 27. Oktober 2022 nannte US-Präsident Biden als Hauptziele:
  • Abbau der wachsenden multidisziplinären Bedrohung durch China
  • Abschreckung der von Russland ausgehenden Herausforderung in Europa
  • Ausschluss jedes Verzichts auf einen nuklearen Erstschlag.
In den Handreichungen des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses vom 15. November 2022 ist zu lesen: „Um regionale Hegemonie in Eurasien zu verhindern, sind anscheinend viele militärische Operationen der USA im 1. und 2. Weltkrieg und zahlreiche militärische Kriegseinsätze und alltägliche Operationen der USA seit dem 2. Weltkrieg zu einem nicht geringen Teil zur Unterstützung dieses Ziels durchgeführt worden."

Wenn wir heute auf dem Globus die aktuellen Kriege und Konflikte wahrnehmen, so sind die Verwerfungslinien rund um den 1. Weltkrieg zu erkennen - ein Krieg, der laut dem deutschen Philosophen Oswald Spengler bereits 1911 begonnen hat:
  • die Besetzung der marokkanischen Städte Fes und Rabat durch Frankreich,
  • der Krieg Italiens gegen das Osmanische Reich in Tripolitanien,
  • die britischen Aktivitäten in Ägypten und Persien,
  • die Besetzung Koreas durch Japan;
  • 1912 und 1913 dann die beiden Balkankriege.
Im Zentrum Europas damals die boomende Handelsnation Deutschland mit großen Exportüberschüssen – ein Dorn im Auge des im Niedergang befindlichen Kolonialimperiums Großbritannien.

Die aufstrebende Macht ist heute China, das, wie damals Deutschland, im Visier der absteigenden Großmacht USA steht. Die Parallelen sind unübersehbar. Im September 2014 wurde vom Pentagon das Dokument „Win in a Complex World 2020-2040“ verabschiedet, das die amerikanischen Streitkräfte auf einen Krieg gegen Russland und China vorbereitet.

Angesichts der Tatsache, „dass in den etwa 200 größeren zwischenstaatlichen Kriegen und Bürgerkriegen, Befreiungskriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen, Staatsstreichen, Guerilla- und Konterguerillaaktionen seit 1945 unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 15 und 32 Millionen Menschen ihr Leben ließen“ (xiii) scheint ein globaler Frieden im Sinne Kants ferner denn je.

Es scheint eher eine umgekehrte Tendenz zu geben: Das Völkerrecht wird zunehmend missachtet, die Menschen werden getäuscht und belogen, Konflikte eher geschürt als beigelegt und Massenvernichtungspotenzial einsatzbereit gehalten anstatt abgebaut. Und das Ganze im Namen der Humanität! Wir brauchen nach dem gescheiterten Völkerbund und der korrumpierten UN – beide gezeugt im Geist des Krieges – eine im Geist des Friedens gebildete Völkergemeinschaft, die nicht im Dienst unipolarer Machtinteressen steht.

Doch eine Reform wird nicht ausreichen. Das System der UN ist unter falschen Vorzeichen installiert und weiter missbraucht worden und somit irreparabel.

Darauf habe ich bereits im Mai 2013 in einem Vortrag über den Reformvorschlag der G-4-Staaten von 2004 hingewiesen. (xiv) Die UN muss durch eine zeitgemäße, nicht US-dominierte Organisation ersetzt werden. Das ist keineswegs naiv, sondern unerlässlich, wollen wir nicht im allgemeinen aggressiven Chaos untergehen.

Kants Argumentation hat bis heute ihre Aktualität behalten. Daher bleibt "Zum ewigen Frieden" eine Grundschrift der Weltfriedensbewegung. (xv) Eine unipolare Welt wird immer in Despotismus enden. Der Respekt der Staaten untereinander lässt nur eine multipolare Weltordnung zu.

Kant weist immer wieder darauf hin, dass Staaten keine Sachen sind, die man einfach einkassieren oder besitzen kann: „Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinem Sitz hat) eine Habe. Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber, …, als Pfropfreis einem anderen Staate einzuverleiben heißt, seine Existenz als eine moralische Person aufheben und aus der Letzteren eine Sache machen, und widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken lasst“. (xvi)

Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft nachgewiesen, dass alle nicht-empirische Erkenntnis auf Vorstellungen beruht, und daher subjektiv ist. Da die menschliche Erkenntnis also im wesentlichen auf die empirische Erfahrung begrenzt ist - alles andere ist Vorstellung - muss in einem friedlichen Umfeld auch die Vorstellung des Anderen respektiert werden!


Kant mit Buddha, Sokrates und Konfutse (Bumaburo Watanabe 1885)


Wolfgang Effenberger, 1946 kurz nach der Vertreibung der Eltern aus Schlesien in Lohne geboren, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete "atomare Gefechtsfeld" in Europa und studierte abends zusätzlich Politikwissenschaft. Nach zwölfjähriger Dienstzeit schied er aus, studierte in München Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete dann bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik und setzt sich mit Reden und Vorträgen aktiv für den Frieden ein. Zuletzt erschienen vom ihm Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber stille Profiteure 1914 und heute (2014, zusammen mit dem ehem. Staatssekretär Willy Wimmer) Trilogie: Europas Verhängnis 14/18 2018/19 „Schwarzbuch EU & NATO“ – Warum die Welt keinen Frieden findet (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" – Von Geo- bis Biopolitik – Plutokraten transformieren die Welt (2022)

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