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Aktueller Online-Flyer vom 26. Dezember 2024  

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Kultur und Wissen
Eine freundschaftliche Lehrer-Schüler-Beziehung kann zum friedlichen Miteinander der Menschen führen
Vertrauen in sich selbst gewinnen
Von Rudolf Hänsel

Journalisten, Politiker sowie deren Berater und Auftraggeber spekulieren nur noch über die Wahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkrieges. Dabei ist es der sehnlichste Wunsch der Bürger, in Frieden und Freiheit zu leben, den Acker zu bestellen, ein Dach über dem Kopf zu haben und die Zukunft der Kinder zu sichern. Um dieses friedliche Miteinander zu realisieren, müssen bereits die Kinder in Familie und Schule seelische Eigenschaften beziehungsweise einen Charakter entwickeln, der dieses friedliche Miteinander als höchstes Gut empfindet. Das ist möglich, wenn die Erziehung in Elternhaus und Schule die Förderung und Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls in den Mittelpunkt stellt. Auf eine verwöhnende und verzärtelnde sowie zu strenge, harte und autoritäre Erziehung sollte dabei nach Möglichkeit verzichtet werden.

Hat man sich in der Vergangenheit die erzieherische Aufgabe als sehr leicht vorgestellt, weil man glaubte, dass der Charakter des Kindes bereits von Geburt an festgelegt sei und man deshalb keiner besonderen Kenntnisse bedürfe, sondern lediglich eines gesunden Menschenverstands, so wissen wir heute, dass der Charakter des Menschen mitsamt seinen Eigenschaften nicht angeboren ist.

Alle seelischen Eigenschaften entwickeln sich im Erlebnis der Umwelt, in der sich das Kind befindet, in der Beziehung zu Vater, Mutter, Geschwistern und Lehrern. In diesen Beziehungen nimmt das Kind jene Wesenszüge an, die sich im Laufe seiner Entwicklung als soziale oder asoziale Eigenschaften erweisen.

Es sind vor allem die Entdeckungen von Sigmund Freund und Alfred Adler, das heißt, der Einfluss der Tiefenpsychologie, der das Fundament zum neuen Verständnis des menschlichen Seelenlebens gelegt hat. Dies veranlasst uns, manche überlieferte Auffassung über das Wesen der kindlichen Seele aufzugeben, um sie durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu ersetzen.

Eine unsachgemäße Erziehung prägt charakterliche Fehlhaltungen, welche die Einfügung des Kindes und späteren Erwachsenen in die mitmenschliche Gemeinschaft erschweren oder gar verunmöglichen. Erzieherische Unwissenheit können bei Buben wie bei Mädchen Trotz, Angst oder Aggressivität hervorrufen.

Wenn sich zum Beispiel ein Schüler vom Lehrer nicht verstanden fühlt und deshalb Widerstand leistet, sollte sich der Lehrer nicht beleidigt fühlen und ihm mit Groll und Unwillen entgegentreten; der Schüler reagiert auf dieses Verhalten. Es ist sinnvoller, den irritierten Schüler als krankes Kind zu sehen, das Fieber hat oder durch eine falsche Erziehung in die Enge getrieben worden ist. Indem wir das Kind verstehen lernen, geht es sehr gut.

Der Individualpsychologe Prof. Dreikurs schätzte die Situation an Schulen realistisch ein, als er 1975 schrieb: „Ob der Lehrer es möchte oder nicht, ob er sich dessen bewusst wird oder nicht, gewöhnlich wird er in einen Machtkampf hineingezogen, aus dem er sich nicht befreien kann.“ (1)

Gleichzeitig merkte er aber an: „Jedes Kind wird gelegentlich aus Gründen, die ihm selbst verborgen bleiben, Widerstand leisten. Zu wiederholen, was es tun sollte, verbessert nicht die Situation, ruft im Gegenteil einen Konflikt im Kind hervor und verstärkt seinen offenen Widerstand gegenüber dem Lehrer. Nur jemand, der die psychologischen Mechanismen, die das richtige Funktionieren des Kindes blockieren, versteht, kann ihm helfen, sich einzufügen und Fortschritte zu machen.“ (2)

Es ist von großer Bedeutung, dass sich der Lehrer dieses Machtkampfs bewusst wird und Frieden schließt mit dem störenden Schüler, sich mit ihm versöhnt. Es geht darum, den Kriegszustand zu beenden, der die ganze Schar Kinder einer Klasse beeinflusst. Das Kind ist zur Mitarbeit zu haben, wenn es Freundschaft erlebt: da ist jemand, „der geht mit mir durch dick und dünn“, der wird mich nicht verraten.

Diese Versöhnung kann auch den Weg zu einem friedlichen Miteinander von Erwachsenen ebnen. Beide, Lehrer wie Schüler, erfahren, dass man sich mit dem anderen Menschen versöhnen und mit ihm in Frieden zusammenleben kann. Sobald der Schüler erlebt, dass der Lehrer ihn anerkennt, hat er keinen Grund mehr, Unruhe zu stiften.

Selbstverständlich darf der störende Schüler, der sich im Grunde nur das Lernen nicht zutraut, nicht die Oberhand gewinnen, dadurch Mitschüler anstecken oder ablenken und damit die ganze Stimmung in der Klasse verderben. Der Lehrer muss die Oberhand behalten und Rudelführer der ganzen „Bande“ bleiben. An ihm können sich die Schüler reiben und ihr „Mütchen“ kühlen. Dies ist ein gemeinsames Wachsen aneinander. Es entsteht durch die tägliche Beziehung, eine intensive Auseinandersetzung, die den ganzen Menschen fordert mit all seinen Schwächen und Stärken und durch das tägliche Gespräch sowie das Ringen um die Lufthoheit im Klassenzimmer.

Am Lehrer als Vorbild können die Schüler aber auch wachsen. Deshalb ist der Beruf des Lehrers der schönste Beruf, den der Mensch haben kann. Das behaupte ich sowohl als ehemaliger Lehrer verschiedenster Schularten, als auch als langjähriger staatlicher Schulberater und Erziehungswissenschaftler.

Deshalb verstehe ich nicht, dass der Lehrberuf bei jungen Menschen an Attraktivität verloren hat; keiner will mehr Lehrer werden. Wegen dieses Notstands soll zukünftig auf das Referendarjahr, in dem man von einem erfahrenen Kollegen viel Nützliches erfahren kann, weitgehend abgeschafft werden. Darüber hinaus lädt man junge Studenten jeder Fachrichtung dazu ein, kurzfristig auszuhelfen und die ihnen anvertrauten Schüler zu unterrichten. Opfer dieser sich anbahnenden Bildungskatastrophe werden die Schüler und letztlich die gesamte Gesellschaft sein.

Liegt es an der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung des Lehrer-Berufs oder kommen Lehrkräfte mit den verwöhnten und störrischen, die Autorität des Lehrers missachtenden und schlechtes Deutsch sprechenden Schülern nicht mehr zurecht? Dabei haben die Lehrer das weitere Schicksal des jungen Menschen sowie der ganzen Gesellschaft „in der Hand“.

So schrieb der in Algerien aufgewachsene französische Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus kurz nach der Preisverleihung an seinen ehemaligen Lehrer Monsieur German folgende bewegende Zeilen: „Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel, wäre nichts von alldem geschehen.“ (3)

Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, schrieb Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, jedem Lehrer und Erzieher „ins Stammbuch“: „Die wichtigste Aufgabe eines Erziehers – man kann fast sagen, seine heiligste Pflicht – besteht darin, Sorge zu tragen, dass kein Kind in der Schule entmutigt wird und dass ein Kind, das bereits entmutigt in die Schule eintritt, durch seine Schule und durch seinen Lehrer Vertrauen in sich selbst gewinnt.“ (4)


Literatur:

(1) Dreikurs, Rudolf (1975). Psychologie im Klassenzimmer. Stuttgart, S. 19
(2) A. a. O., S. 40
(3) Camus, Albert (1995). Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg, S. 276
(4) Hänsel, Rudolf (2020). Wie geht es Ingo? Oder: Wie wird man Mitmensch? Ein Dank an meinen Lehrer Gornji Milanovac, S. 15



English version
A friendly teacher-student relationship can lead to peaceful coexistence between people
Gain confidence in himself

By Dr. Rudolf Hänsel

Journalists, politicians and their advisors and clients only speculate about the likelihood of a third world war. Yet it is the most fervent wish of citizens to live in peace and freedom, to cultivate the land, to have a roof over their heads and to secure the future of their children. In order to realise this peaceful coexistence, children in the family and at school must develop mental qualities or a character that perceives this peaceful coexistence as the greatest good. This is possible if education at home and school focuses on promoting and developing a sense of community. A pampering and spoiling as well as an overly strict, harsh and authoritarian upbringing should be avoided wherever possible.

In the past, the educational task was considered very easy because it was believed that a child's character was already determined from birth and therefore no special knowledge was required, just common sense, but today we know that a person's character and its characteristics are not innate.

All mental characteristics develop in the experience of the environment in which the child finds itself, in the relationship with father, mother, siblings and teachers. In these relationships, the child takes on those traits that prove to be social or asocial characteristics in the course of its development.

It is above all the discoveries of Sigmund Freund and Alfred Adler, i.e. the influence of depth psychology, that have laid the foundations for a new understanding of the human soul. This prompts us to abandon some traditional views on the nature of the child's soul in order to replace them with new scientific findings.

An improper upbringing shapes character defects that make it difficult or even impossible for the child and later adult to fit into the human community. Educational ignorance can cause defiance, fear or aggression in both boys and girls.

If, for example, a pupil does not feel understood by the teacher and therefore puts up resistance, the teacher should not feel insulted and confront him with resentment and unwillingness; the pupil reacts to this behaviour. It makes more sense to see the irritated pupil as a sick child who has a fever or has been driven into a corner by incorrect education. Learning to understand the child works very well.

The individual psychologist Prof Dreikurs was realistic in his assessment of the situation in schools when he wrote in 1975: ‘Whether the teacher likes it or not, whether he realises it or not, he is usually drawn into a power struggle from which he cannot extricate himself.’ (1)

At the same time, however, he noted: ‘Every child will occasionally resist for reasons that remain hidden from him. Repeating what he should do does not improve the situation, on the contrary, it creates conflict in the child and increases his open resistance to the teacher. Only someone who understands the psychological mechanisms that block the child's proper functioning can help him to fit in and make progress.’ (2)

It is of great importance that the teacher becomes aware of this power struggle and makes peace with the disruptive pupil, reconciles with him. It is about ending the state of war that affects the whole group of children in a class. The child is willing to co-operate if it experiences friendship: there is someone ‘who will stick with me through thick and thin’, who will not betray me.

This reconciliation can also pave the way for adults to live together peacefully. Both teacher and pupil learn that it is possible to reconcile with the other person and live together in peace. As soon as the pupil experiences that the teacher recognises him, he no longer has any reason to cause trouble.

Of course, the disruptive pupil, who basically just doesn't trust himself to learn, must not gain the upper hand, thereby infecting or distracting his fellow pupils and spoiling the whole atmosphere in the class. The teacher must retain the upper hand and remain the pack leader of the whole ‘gang’. The pupils can rub up against him and cool their tempers. This is growing together. It comes about through the daily relationship, an intensive discussion that challenges the whole person with all their weaknesses and strengths and through the daily dialogue and the struggle for air sovereignty in the classroom.

However, pupils can also grow from the teacher as a role model. That's why teaching is the most beautiful profession a person can have. I say this both as a former teacher in various types of schools and as a long-standing state school counsellor and educational scientist.

That's why I don't understand why the teaching profession has become less attractive to young people; nobody wants to become a teacher any more. Because of this state of emergency, the trainee teacher year, during which you can learn a lot of useful things from an experienced colleague, is to be largely abolished in future. In addition, young students from all subject areas are being invited to help out at short notice and teach the pupils entrusted to them. The victims of this looming educational catastrophe will be the pupils and ultimately society as a whole.

Is it due to the lack of social recognition of the teaching profession or are teachers no longer able to cope with spoilt and stubborn pupils who disregard the authority of the teacher and speak poor German? Teachers have the fate of young people and society as a whole ‘in their own hands’.

French Nobel Prize winner Albert Camus, who grew up in Algeria, wrote the following moving lines to his former teacher Monsieur German shortly after the award ceremony: ‘Without you, without the loving hand you extended to the poor little child I was, without your instruction and example, none of this would have happened.’ (3)

Back at the beginning of the 19th century, Alfred Adler, the founder of individual psychology, wrote ‘into the family book’ of every teacher and educator: ‘The most important task of an educator - one could almost say his most sacred duty - is to ensure that no child is discouraged at school and that a child who enters school already discouraged gains confidence in himself through his school and through his teacher.’ (4)


Literature:

(1) Dreikurs, Rudolf (1975). Psychology in the classroom. Stuttgart, p. 19
(2) A. a. O., p. 40
(3) Camus, Albert (1995). The first man. Reinbek near Hamburg, p. 276
(4) Hänsel, Rudolf (2020). How is Ingo doing? Or: How do you become a fellow human being? Thanks to my teacher. Gornji Milanovac, p. 15



Dr Rudolf L. Hänsel is a school rector, educational scientist and psychologist. After his university studies, he became an academic teacher in adult education. As a pensioner, he worked as a psychotherapist in his own practice. In his books and specialist articles, he calls for a conscious ethical and moral education of values as well as an education for public spirit and peace.

Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler und Diplom-Psychologe. Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer in der Erwachsenenbildung. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden.



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