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Aktueller Online-Flyer vom 23. November 2024  

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Krieg und Frieden
Kindheitserinnerungen an die Leningrad-Blockade
"Diese Augen sind wie ein Stachel in meinen Erinnerungen"
Valentina B. – interviewt von Peter Betscher

Eines der schrecklichsten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg war die 900tägige Belagerung von Leningrad mit über einer Million Toten, vorwiegend an Hunger gestorben, durch die deutschen Faschisten. Die Historiker streiten sich, ob Hitler die Stadt besetzen oder vernichten wollte. Für beides finden sich Belege. Tatsache ist jedenfalls, dass der Blitzkrieg-Plan des Hitler-Regimes u.a. am erbitterten und aufopferungsvollen Widerstand der Bewohner Leningrads scheiterte und Hitler keine ausreichenden militärischen Kapazitäten mehr zur Eroberung der Stadt hatte. Deshalb entschloss man sich, die Leningrader auszuhungern. Valentina B. schildert im folgenden Interview ihre Kindheitserinnerungen aus dem belagerten Leningrad.

Der Überfall der Faschisten beginnt

Das ist meine Erinnerung als ich sieben Jahre alt war und der Krieg angefangen hat. Diese Situation  ich noch im Gedächtnis. Wir wohnten am Rande der Stadt. Es waren drei Häuser. Mit einem gemeinsamen Hof und immer wenn dort etwas passierte, sind die Leute aus dem Haus heraus gekommen und trafen sich im Hof. Hier wurden alle gemeinsamen Probleme besprochen. Und an diesem Tag gab es besondere Aufregung unter den Menschen. Alle waren im Hof, haben miteinander gesprochen und diskutiert. (1) Also höchstwahrscheinlich wussten die Leute schon, dass der Krieg plötzlich begonnen hatte. Es war ein Überfall. So können wir das heute nennen.


Valentina, 4 Jahre alt, vor der Blockade

Meine nächste Erinnerung ist: In unseren Hof kam ein Lastwagen voll mit Kindern gefahren. Die Kinder saßen auf Bänken und waren in Decken eingehüllt. Es war schon Herbst, ja, kurz vor dem Winter. Wir standen im Hof und meine Mutter hielt meinen Bruder auf dem Arm. Er war ein Jahr und ein paar Monate alt. Es kam ein Mann in Armeeuniform und hat meine Mutter gefragt, ob sie einverstanden wäre, dass das Kind (und da war ich mit gemeint) evakuiert wird. Dieser LKW holte die Kinder zu einem Sammelpunkt ab und von dort wurden sie weggefahren. Meine Mutter hat geantwortet: „Nein“, wenn wir sterben sollten, dann sterben wir alle zusammen. Die ganze Kriegsgefahr wurde noch nicht richtig begriffen.

War zu diesem Zeitpunkt schon Beschuss auf Leningrad?

Es war noch kein Beschuss. Aber ich habe später noch eine Erinnerung an den Beschuss. Das war vis-a-vis von unserem Haus und ich habe immer noch eine Narbe. Ich hatte am Kopf eine Wunde, weil ich durch die Druckwelle in einen Schrank geschleudert wurde. Der Schrank war leer und durch diese Druckwelle ging die Schranktür nach innen und ich habe mich an einem Griff oder irgendetwas gestoßen und wurde wieder zurückgeschleudert. Die erste Welle, die stärkere Welle, ging auf die andere Straßenseite und dort war ein Kindergarten. Es war um die Mittagszeit. Die Kinder saßen an einem Tisch am Fenster und die Scheiben gingen dabei kaputt und viele von den Kindern sind verletzt worden. Und es gab ein Loch auf der Straße und viele Menschen kamen, um sich den Krater anzusehen. (2)

Das war im Spätherbst...

Das war im Spätherbst 1941. Es war noch nicht im Winter. Der Winter wurde die schwerste Zeit für uns und alle hatten schon gemerkt, dass es mit der Versorgung knapp werden wird.. Irgendwann wurde das Lebensmittellager angegriffen und zerstört. Die vorhandenen Reserven wurden aufgeteilt.

Eines Tages ging mein Vater an einer Eisenbahnlinie zur Anmeldestelle entlang und auf einmal sieht er einen Sack. Es war ein Sack mit Mehl, den vermutlich einer aus dem Zug geworfen hat, sich die Stelle gemerkt, um das Mehl später zu holen. Mein Vater hat alles vergessen, wo er hin muss und hat diesen Sack mit großer Anstrengung nach Hause gebracht. Er war schon ziemlich schwach. Dieser Sack Mehl wurde aufgeteilt. Bei uns in der Kommunalwohnung- es war ein zweistöckiges Holzhaus – bei uns auf der Etage waren noch 4 Familien, unter denen dieser Sack Mehl aufgeteilt wurde. Das war für uns eine kleine Hilfe.

Unter der Blockade

Aber zu dieser Zeit gab es noch eine Verbindung für die Lebensmittelversorgung. Leningrad war noch nicht komplett von den Faschisten blockiert?

Für Leningrad blieb die einzige Verbindung zur Lebensmittelversorgung über den Ladogasee, 20 -25 km Weg. Der konnte nur im Winter benutzt werden, wenn der See zugefroren war. Die Lkws fuhren unter Beschuss. Das Risiko war sehr groß und es wurden einige LKWs durch Beschuss zerstört und versenkt.


Straße des Lebens

Vor dem Krieg arbeiteten meine Eltern in einem Metallverarbeitungsbetrieb, der wie viele andere Werke ins Hinterland evakuiert wurde. Mein Vater fand Arbeit in einer Brotfabrik nicht weit von unserem Wohnsitz. Im Winter musste er mit dem Schlitten heißes Brot an die Verkaufsstellen bringen. Meine Mutter hat ihm vor der Arbeit immer ein sauberes Tuch vorbereitet. Vom heißen Brot fielen immer Ränder ab und diese Ränder hat er gesammelt und uns gebracht. Und so ein Brotrand wurde auch für meinen kleinen Bruder in Mull eingewickelt und als Schnuller gegeben, damit er daran saugen konnte. Er war klein und es fielen immer wieder Stückchen auf den Fußboden und ich kroch dann herum und sammelte die Krümel auf.

Wie ist denn die Lebensmittelverteilung vonstatten gegangen? Es gab so eine Art Lebensmittelkarten.

Es gab Lebensmittelkarten. Als es ganz schlimm wurde, sagte meine Großmutter, dass ihre Karten den Kindern gehören. Sie hat aufgehört zu essen und nicht mal einen Krümel Brot genommen. Sie hat nur Wasser getrunken und lag im Bett. Als sie starb, lag sie unten auf der Pelzjacke meines Vaters. Vater und die Nachbarn fertigten einen Sarg.


Valentina (rechts) mit ihrer Großmutter

Im Winter 1941 starb mein Bruder mit einem Jahr und neun Monaten. Ich blieb nun mit meiner Mutter allein. Mein Vater wurde an das Ufer des Ladoga-Sees versetzt, wo sich die Truppen für den Blockadebruch sammelten. Wir zogen den Schlitten mit dem Sarg meines toten Bruders zum Piskarjowskoje-Friedhof. Zuerst ging es über eine breite Straße, die aber zunehmend durch die vielen Leichen verengt war. Leichen lagen ohne Sarg eingewickelt, weil man im Winter kein Grab ausheben konnte. Auf dem Friedhof wurden die Särge gestapelt. Und es war so hoch gestapelt, – meine Mutter war klein – dass sie schwer ran kommen konnte. Meine Mutter fand eine Stelle, wo weniger Särge gestapelt waren. Und daneben hat sie einen starken Ast hineingesteckt, dass sie die Stelle wiederfindet. Unterwegs – ich erinnere mich noch – hat mich eine Leiche mit den toten Augen angeguckt. Die Leiche war in eine Gardine eingewickelt. Diese Augen sind wie ein Stachel in meinen Erinnerungen. Heute steht auf dem Piskarjowskoje-Friedhof, wo alle in der Blockadezeit gestorbenen Leningrader begraben sind, ein beeindruckendes Denkmal.

An den Bahndämmen standen immer Kisten mit Sand und im Sommer auch Wasser zur Entschärfung von Brandbomben. Ich habe das gesehen bei meiner angenommenen Oma. Bei ihr auf dem Dach haben sie Wache gehalten. Wir Kinder waren so neugierig. Die älteren Kinder kletterten dort und ich mit. Und diese Brandbombe – ich habe noch die Details im Auge – brannte, drehte sich und zischte und man muss die Bombe dann schnell mit einer Zange greifen und in Wasser oder Sand tauchen.

Die Bombe kann dabei explodieren?

Ja, es musste sehr schnell gehen.

Und das haben die Kinder gemacht?

Nein, das haben Erwachsene gemacht. Aber wir Kinder konnten auf dem Dach stehen und durch eine Lücke dabei zusehen. Wir wurden nicht weggejagt.

Wohnen unter der Blockade

Ihr musstet Euer Haus verlassen, weil im Winter Brennholz benötigt wurde?

Die schlechteren Häuser wurden zerlegt und als Brennholz ins Zentrum vom Leningrad gebracht.

Euch wurde dann eine andere Wohnung zugewiesen?

Wir erhielten in der gleichen Gegend in einem stabilen Holzhaus ein Zimmer mit Veranda und einem separaten Eingang. Die Fenster im Haus waren vernagelt worden. Elektrisches Licht gab es nicht. Wir hatten eine Petroleumlampe, die wir benützten, wenn es Petroleum gab. Meistens saßen wir im Dunklen. Eines Nachts kam plötzlich mein Vater vom Ladoga-See. Er war wieder zu Kraft gekommen. Im Dunklen konnten wir ihn nicht sehen, aber wir spürten seine Nähe und den angenehmen Geruch seines Soldatenpelzmantels. Er brachte uns seine Soldatenration: ein halbes Brot, ein Stück Speck und ein großes Stück Rohrzucker. Jetzt erst erfuhr er vom Tod seines Sohnes. Er konnte nicht lange bleiben, da er wieder zurück musste. In dem Haus blieben wir nicht lange. Meine Mutter arbeitete damals beim Ausheben der Schützengräben vor der Stadt und konnte wegen des weiten Weges oft nicht nach Hause kommen.


Befestigungsarbeiten vor Leningrad Im Winter 1941

Ich war dann Tag und Nacht allein. Meine Mutter suchte deshalb jemanden, der mit mir bleiben konnte. Es meldete sich eine Bekannte von meiner verstorbenen Oma. Sie wohnte allein im Stadtzentrum. Mit der Zeit ist sie meine „zweite Oma“ geworden. Nach dem Winter 1941 sind wir zu dieser Oma ins Zentrum der Stadt gezogen. Sie hatte ein sehr kleines Zimmer gehabt. Sie hatte sich schon vorher um eine Wohngelegenheit für uns in der Nähe bemüht. Und dann haben wir eine Wohnung für drei Parteien bezogen. Bad und Klo waren separat und die kleine Küche wurde gemeinsam benützt. Diese Wohnung wurde freigegeben, weil dort eine jüdische Familie wohnte, die evakuiert wurde. Ein Zimmer war plombiert für die Rückkehr der jüdischen Familie. So hatten wir nur zwei Zimmer und in eines ist eine alleinstehende Frau eingezogen. Wir bezogen das geräumige Zimmer mit einem Fenster so breit wie die ganze Wand. Das Fensterbrett war sehr breit und es wurde mein Lieblingsplatz.

Schule unter der Blockade

Im Herbst 1942 war ich 8 Jahre alt und sollte zur Schule gehen.

Das erste Mal zur Schule mit acht Jahren. Das war normal?

Ja, alle Kinder gingen mit acht Jahren zur Schule.

Nicht kriegsbedingt?

Nein, das war ganz normal auch in Friedenszeiten.

Und was war davor, gab es einen Kindergarten?

Ja, davor war ich im Kindergarten. Es war ein sehr schöner Kindergarten, draußen im Wald, und ich erinnere mich noch, dass immer ein Arzt anwesend war und es wurde immer vor dem Essen Lebertran verteilt. Und für uns Kinder war es eine Qual. Da ging die Ärztin oder Krankenschwester im weißen Kittel herum und jedes Kind musste einen Löffel Lebertran schlucken. Im Sommer saßen wir immer im Wald. Unsere kleinen Tischlein standen im Birkenwald. Und diese Tische stanken nach Lebertran, weil die Kinder es oft ausgespuckt oder verschüttet hatten.

Gab es in diesem Kindergarten schon eine Art Vorschule? Habt ihr schon Lesen und Schreiben gelernt?

Nein, wir haben nur gespielt.

Wie war es in der Schule? Konnte der Schulbetrieb unter dem Bombardement aufrecht- erhalten werden?

Es gab sehr große Zerstörungen, aber im Zentrum gab es weniger Einschläge. Es gab schon einzelne Einschläge, z.B. bei meiner angenommenen Oma flog ein Geschoss direkt ins Fenster. Jedenfalls musste ich 1942 zur Schule und durch den Hunger hatte ich Wasserbeine (Ödeme)  bekommen. Es ging schon über meine Knie immer höher. Ich hatte Schwierigkeiten die Treppe herunterzugehen. Im Winter trug man Filzstiefel, aber in Leningrad kommt oft so feuchter Schnee und man trug über den Stiefeln Gummi-Galoschen. Ich konnte meine Filzstiefel nicht benützen, weil meine Beine so dick waren. Meine Mutter hat ihre großen Stiefel abgeschnitten, sodass ich rein rutschen und mit diesen Stiefeln bis zur Schule gehen konnte. Zum Glück war es nicht weit vom Haus bis zur Schule. Viele Kinder waren so schwach, dass sie nicht zur Schule gehen konnten. In der Schule gab es eine Sanitätsstelle mit einem Arzt und Schwestern, wo auch mir geholfen wurde. Meine Beine wurden mit Teer eingerieben und verbunden. Nachts zog der Teer Wasser aus den Beinen. Mit dieser Behandlung wurden meine Beine wieder geheilt. In der Schule war auch eine Küche eingerichtet worden. Die Kinder bekamen ein kleines Frühstück und auch Mittags etwas zu essen. Wir waren alle verlaust. Die Haare wurden radikal bei Jungen und Mädchen abrasiert. Unsere Köpfe sahen aus wie eine geografische Karte, wo die Läuse Muster auf dem Kopf hinterlassen haben.


Wasser holen im Winter 1941/42

Die Läuse sind eine Folge der hygienischen Bedingungen?

Ja, freilich, man konnte die Kleidungstücke nicht richtig waschen, weil es kaum Wasser und Seife gab. Wir hatten auch Läuse in den Kleidungen nicht nur auf dem Kopf. Die meiste Zeit wohnte ich bei meiner neuen Oma. Sie kannte sich gut mit Kräutern aus und konnte sie geschickt bei der Ernährung einsetzen. Sie hat auch Pilze gesammelt, was wir vorher nie gemacht hatten. In ihrem Zimmer hingen getrocknete Gräser und es roch gut danach. Ich wollte nach Möglichkeit meine Schulration mit ihr teilen und brachte ihr kleine Fladen aus Sojabohnen mit. Mit der allgemeinen guten Fürsorge und der besseren Ernährung kehrten wir, Kinder, wieder zum Leben zurück. Die Lehrer zeigen großes Verständnis für uns, auch wenn wir herumtobten. Die Schule war für mich ein zweites Zuhause geworden.

Das war also noch zu Zeiten der Blockade als deine Beine wieder normal wurden?

Ja, das war 1942. Und es gab in der Schule zusätzliche Ernährung. Wenn wir nach Hause gingen, haben wir immer was mitbekommen. Wir haben eine Tüte mitbekommen. Im Winter mit Moos- oder Preiselbeeren.

Im Tagebuch der Lena Muchina habe ich gelesen, dass ein Arbeiter 250 g Brot pro Tag bekommen hätte und dann gab es noch Zwischenstufen. (3)

Nach dem Bruch der Blockade von Leningrad wurde in unserer Nähe ein kleines Blockademuseum eingerichtet. Dort stand eine Waage, in der lag ein vertrocknetes Stück Brot. Das Gewicht zeigt 125 g an und eine Beschriftung sagte: „Kinderration pro Tag“.

Lena Muchina erzählt, dass man auch aus Kleister Brot gebacken hat.

Was Brot betrifft: Das zerfiel. Das Brot konnte man kaum schneiden.

Dann erzählt sie noch, dass es später auch Lieferungen aus den USA und Kanada gegeben hätte.

Das war viel später. Die schweren Zeiten waren da schon vorbei. Ich persönlich habe eine Strickjacke und einen schwarzen Rock mit Gummizug bekommen. Es war ein besonderer Stoff, der beim Waschen steif wurde und wenn es trocknete, war er wieder locker. Es gab auch Fleischkonserven sowie Kakaobohnen, die wir in einem Geschirrtuch mit dem Hammer zerkleinern mussten, weil es keine Mühle gab. Es gab auch wieder genügend Brot. Also, wenn ich schlief, habe ich immer von Weißbrot mit Butter geträumt. Ich habe es richtig geschmeckt im Traum.

Das heißt die Blockade Leningrads ging fast bis zur Befreiung der Stadt?

Bis zur Befreiung war es noch weit. Zuerst war eine bessere Versorgung.

Der Bruch der Blockade

Wie lange ging es bis zur endgültigen Befreiung von Leningrad, nachdem die Blockade gebrochen war? Ich habe ein Bild gesehen, wo deutsche Kriegsgefangene durch Leningrad geführt wurden.

Als diese Kriegsgefangenen durch Leningrad geführt wurden, durften wir Kinder die Schule verlassen und uns das ansehen. Im Krieg haben wir Plakate gesehen, auf denen die Deutschen mit Hörnern dargestellt wurden. Wir Kinder haben das direkt aufgefasst und wir waren neugierig die Leute mit den Hörnern zu sehen. Die deutschen Offiziere liefen mit erhobenen Köpfen mit etwas Abstand von den anderen einfachen Soldaten. Die Kriegsgefangenen waren geschützt von der Armee. Ich konnte sehen, dass einer aus der Zuschauermenge einen deutschen Offizier angegriffen hat. Das war sicher kein Einzelfall, aber ich habe nur diesen Fall gesehen


Kriegsgefangene auf dem Newkski-Prospekt

Die deutschen Soldaten wurden in ein Gefangenenlager gebracht?

W.: Natürlich kamen Sie in Lager. Sie wurden durch die Stadt geführt, damit die Bevölkerung was zu sehen kriegte. Später wurden sie in Lager nördlich von Leningrad gebracht. Ich habe mal die Reste gesehen. Die Lager hat man uns als Studenten gezeigt.

Die Kriegsgefangenen wurden dann nach einiger Zeit, nach fünf oder sechs Jahren entlassen?

Ich glaube, das war zur Zeit Adenauers, als diese große Gefangenenfreilassung stattfand. Die kleineren Leute kamen vermutlich früher nach Hause, aber von denen man wusste, dass sie richtige Nazis waren, kamen erst durch den Austausch unter Adenauer frei. 

Als die Gefangenen durch Leningrad geführt wurden, war die Blockade vorbei. Nur der Krieg war noch nicht beendet.


Ja. Die deutschen Kriegsgefangenen wurden nach dem Bruch der Blockade beim Wiederaufbau der Stadt eingesetzt. Ich habe das gesehen, als ich durch die Stadt gegangen bin. Die Deutschen haben sich wohlgefühlt. Der Krieg war für sie zu Ende. Aber mein Vater war noch an der Front.

Das stelle ich mir schwierig vor in einer Stadt, wo einem die Bevölkerung wegen der Kriegsverbrechen feindselig gegenüber steht. Wenn du drei Jahre Hunger, Kälte und Entbehrungen hinter Dir hast und du siehst die Verursacher deines Elends vor Dir …

Ich will Dir mal was sagen. Wir haben den Frieden genossen, der endlich da war. Auch die Gefangenen, die zerstörte Häuser aufbauen mussten, wurden von uns nicht als Bestien angesehen. Ich bin überzeugt, dass wir Ihnen noch zusätzlich was zu essen gegeben haben. Die Nationalität spielte bei uns keine Rolle. Wir waren ein Land mit vielen Völkern. Nationaler Hass war uns fremd. Äußerliche Unterschiede waren für uns ganz natürlich. Es gab viele Mischehen, aber alle sprachen auch russisch.

In Deutschland wissen leider nur sehr wenige über die Blockade von Leningrad Bescheid. Vielen herzlichen Dank, dass Du Deine Kindheitserinnerungen mit unseren Lesern teilst. Bei der gegenwärtigen medial geschürten Russophobie in Deutschland ist es wichtig, dass die Deutschen eure Erinnerungen kennen.


Fußnoten:

(1) Das war vermutlich am 22.06.1941. In einer Radioansprache teilte Molotow mit, dass deutsche Truppen ohne Kriegserklärung die Westgrenze der Sowjet-Union überschritten hatten. Siehe (3) S.50
(2) Der erste Artilleriebeschuss wird auf dem 04.09.1941 datiert. Nach: Blockade Leningrad 1941-1944; Rowohlt; 1992, S.252
(3) Lena Muchina „Lenas Tagebuch“; Berlin 2013, Graf-Verlag
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel „...sochrani moja petschalnuju i storiju ...“ „Blokadny dnewnik Leny Muchinoi...“ („... bewahre meine traurige Geschichte...“ bei Aduka St. Petersburg Die niedrigsten Brotrationen gab es im November und Dezember 1941, nachdem die Deutschen Tichwins besetzten. Frontsoldaten erhielten 500g, Soldaten in der Etappe 300g, Arbeiter 250 g und alle anderen Kategorien 125 g Brot pro Tag.


Fotonachweis: Die beiden Fotos von Valentina B. sind von ihren Fotos abfotografiert. Alle anderen Fotos entstammen dem Buch „Leningrad ergibt sich nicht“ von N. Kislizyn und W. Subakow; Verlag Progress Moskau 1984. Das Buch hat leider keinen Bildnachweis.

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