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Aktueller Online-Flyer vom 23. Dezember 2024  

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Krieg und Frieden
Eindrücke vom Kirchentag 1981
Heilige, unterwegs
Von Monika und Michael Höhn

Gut hundert Kilometer vor Hamburg kommen wir in den ersten Stau. Der Bus neben uns ist besetzt mit 50 jugendlichen Menschen. Der Fahrer scheint gute Laune zu haben. Als wir nebeneinander stehen, lehnt er sich zum Fenster hinaus und winkt uns freundlich zu. „Wohin fahrt ihr?“ruft er herüber. „Nach Hamburg“, ist unsere Antwort. „Dann fahrt ihr auch zum Weltkirchentag?“ Wir nicken eifrig und sind uns einig: Wir fahren zu einer ganz großen Sache. Aus dem Kirchentag in Hamburg ist unter der Hand ein "Weltkirchentag" geworden. Irgendwie hat der Fahrer recht. Das ahnen wir mindestens. Durch Hamburg fährt man in diesen Tagen besser mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Heute Abend ist "Abend der Begegnung" rund um die Binnenalster. Ich treffe einen Freund im Gewühl der 150 000. Jahre sahen wir uns nicht. Er hängt gerade einem Afrikaner einen tongebrannten Fisch um den Hals. Fisch: Im griechischen ICHTHYS stecken die Anfangsbuchstaben des Gottessohnes Jesus Christus. Frühes Symbol der ersten Christen, das sie zum Wiedererkennen an dunkle Katakombenwände malten.

Wir freuen uns aneinander. Ich hatte gehört, dass er vom Friedensforscher zum Friedensfreund gewachsen ist. "Selig sind die Friedensmacher", sagt Jesus. Ein Stückchen Seligkeit ist an diesem Abend im Nieselregen rund um die Binnenalster zu fühlen.

Gegen 23 Uhr auf dem U-Bahnhof Jungfernstieg. Wir sind auf dem Weg in unser Quartier draußen in Meiendorf. Zwei Hamburger beobachten das jugendliche Gewimmel auf dem Bahnsteig. „Du“, fragt der kleinere der beiden den Kollegen, „woher kommen die ganzen Leute?“ Der beleibte Mann, den unvermeidlichen Elbsegler schräg auf dem Kopf, antwortet in breitem Hamburger Platt: „Nu reg dich man nich auf! Die Heiligen sind unterwegs.“

Über das Messegelände wälzt sich Tag für Tag eine unübersehbare Schar von „Heiligen“. Einer von ihnen trägt ein Sandwich-Plakat. Vorn ist zu lesen: „Was brauchen wir neue Atomraketen... „Als er an uns vorbei ist, lesen wir auf seinem Rücken: „...solange die alten noch nicht verbraucht sind.“

Die Logik ist nicht zu schlagen. Und macht nachdenklich. Ein herzhaftes Lachen über diesen Einfall will jedoch nicht so recht heraus...angesichts der tödlichen Bedrohung der Nachrüstungsraketen vom Typ Pershing 2 und Cruise Missile, die – so US-Präsident Reagan will – schon 1983 bei uns Unterschlupf finden sollen.

Vor unserem Stand – "Christen für die Abrüstung" – hat sich eine Gruppe Bundeswehroffiziere in Szene gesetzt. Die Kameras fangen unser Plakat mit ein: „Was wäre, wenn wir die Schwerter zu Pflugscharen schmiedeten?“

Wie viele Menschen könnte man satt machen mit den Millionen, die für einen einzigen Tornado-Bomber hinausgeworfen werden, lautet eine Frage. Die Offiziere mit ihren roten Baretten scheuen Tod nicht und Teufel und wagen sich vor mitgebrachter Kamera in die Höhle des Löwen. Niemand frisst sie. Die aufgesetzte Pose gerät zur Farce, als ein älterer Mann schließlich freundlich fragt: „Was machen wir denn, wenn der große Knall kommt?“ Die Angst auf seinen Lippen spürt auch der befragte Offizier. Er zuckt hilflos mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht.“ Dann sieht er auf die Uhr, winkt den uniformierten Kameraden, die es auch nicht geschafft haben, die umstehenden Christen zum Nachrüstungswahnsinn zu bekehren. Hier täuschten sich alle die gefährlich, die meinten, dass gläubige Christen dumme Christen sind. „Wir müssen jetzt gehen“, sagt er und es klingt wie eine schlechte Ausrede. Sie wenden sich ab. Die Kameraleute folgen hinterdrein. Eine alte Frau fragt neugierig: „Wo müssen Sie denn jetzt hin?“ Knappe Antwort des Offiziers: „Wir haben um 16 Uhr eine Veranstaltung: Soldaten beten für den Frieden.“ Dann sind sie im Gewühl verschwunden.

Wir verkaufen Plaketten für den Frieden. An unserem Stand drängen sich die Menschen. Picasso hat uns sehr geholfen mit seinem Motiv „Mädchen mit Taube“. Ich behaupte, es sind die schönsten Plaketten dieses Kirchentages. (Übrigens: Am Ende haben wir fast 30.000 davon verkauft).

Dieser Kirchentag hat tatsächlich „Krefelder Appeal“. In dichten Trauben stehen sie an, jung und alt, und warten darauf, den "Krefelder Appell" unterschreiben zu dürfen. Und gleich noch dazu die Aufforderung an die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), den Appell doch nun endlich zu unterstützen. Das gehört ja auch mit zur Dialektik, dass wir durch Mithilfe der bürgerlichen Presse zum "Krefelder Appell" nichts mehr sagen müssen. Den haben Springer und Co. uns breit bekannt gemacht.

Unsere Freundin Thurid meinte, der Dauerfrust an manchen Sammeltagen sei durch diesen Andrang sieben mal siebenzig mal wett gemacht. Sie strahlte unter ihren Anstrengungen.

Vor der Petri-Kirche in der Innenstadt schimpft ein älterer Hamburger heftig auf unsere Dummheit. „Wir brauchen die Raketen gegen den Iwan. Oder wollt ihr, dass die Roten in 24 Stunden hier sind?“ Unsere ruhigen Antworten scheinen ihn so recht aufzupeitschen. Wie ein Rumpelstilzchen läuft er auf und ab, versucht seinen schwachen Argumenten mit Fußstampfen und Drohgebärden Nachdruck zu verleihen. Mit dem Erfolg, dass zwei Mädchen stehen bleiben und ihn gespannt beobachten. Dann fragt eine der beiden Zwölfjährigen: „Wofür sammelt ihr die Unterschriften?“ Ich erkläre ihr, dass wir nicht wollen, dass neue Atomraketen bei uns aufgestellt werden. Sage ihr, wie gefährlich das in unseren Augen ist. Sie nickt. „Haben Sie einen Kuli?“, fragt sie. „Ich möchte auch unterschreiben. Ich bin auch dagegen.“

Unser Rumpelstilzchen war inzwischen wutentbrannt von dannen gegangen. Die Kleine kramt in ihrem Geldbeutel. „Wie teuer ist diese Plakette?“ Sie hat die Mark nicht mehr, die nötig wäre. So wechselt die Plakette als Dreingabe den Besitzer. Nicht nur Picasso hätte seine Freude an diesem blonden Pferdeschwanzmädchen gehabt.

Der Landeskirchenrat trug die Plakette, zwei Stunden nachdem ich sie ihm verkauft hatte, immer noch. Ob er sie in seinem Amt noch trägt ... wer weiß? Er hatte mir deutlich gesagt, dass er sowohl den "Krefelder Appell" unterschrieben habe – „Das ist für die politische Breite...“ –, ebenso auch die Selbstverpflichtung der "Aktion Sühnezeichen". „Das tue ich für mich selber, damit ich meinen inneren Schweinhund überwinde...“

Dass 8000 Menschen bei einer Bibelarbeit klatschen, ist heutzutage ungewöhnlich. Bei Walter Jens war es beinahe selbstverständlich, als er der Weihnachtsgeschichte des Lukas unsere rührselige Kitschigkeit nahm, den holden Knaben im lockigen Haar enttarnte als einen, der dem König Herodes und dem römischen Kaiser Augustus die Herrschaft streitig macht – als hungriges Kind, dessen Wiege eine einfache Futterraufe war. Dieses Kind brachte das römische Imperium ins Wanken, bis man es später schließlich seinen Herrschaftsinteressen wieder dienstbar machte – in der Konstantinischen Wende. Nein, nützlich ist die evangelische Botschaft den Kriegslüsternen nie gewesen – im Kern jedenfalls nicht. Sie werden sich immer wieder daran stoßen, dass Jesus in der Bergpredigt die Friedensmacher selig pries.

Wen wundert´s, dass sich Helmut Schmidt (Bundeskanzler) und Karl Carstens (Bundespräsident) über die Bergpredigt und ihre eindeutigen Formulierungen in diesen Tagen so ärgern. „Wie wär´s mit einer guten Bibelarbeit, Bruder Schmidt?“ rief Walter Jens dem einen der beiden Genannten öffentlich zu. Schlecht wär´s nicht.

An der vielbeschrieenen Veranstaltung mit Herrn Apel (Bundesminister der Verteidigung) wollte ich nicht teilnehmen. Wir hatten schon Mühe genug, uns zwischen den Hallen hindurchzuzwängen. Monika wollte lieber zu Erhard Eppler (Kirchentagspräsident).

Ich selber hatte den Kinderbuchstand zu betreuen und Plaketten zu verkaufen. Die beiden Krankenwagen mit Blaulicht fielen uns ins Ohr mit ihren durchdringenden Martinshörnern. Später erfuhren wir aus der Presse, dass in einem der beiden Wagen Apel transportiert worden ist. Man wollte den Verteidigungsminister gesund in die Halle bringen. Ideen haben die... Wie vieles auf dem Kirchentag hatte auch dies Zeichenwert für uns: Schwerkranke werden so gefahren.

Was Hans Apel zu sagen hatte, war längst bekannt. Auch, dass Provokationen lange vorher angekündigt waren. Sie waren erwünscht. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie die beiden Eier, die zwei Liter Ochsenblut und ein paar Farbbeutel derartig hochjubeln konnten.

Die Logik ist einfach: Hier sitzt Herr Apel mit guten Argumenten zur Aufrüstung, dort werfen die Christen der Friedensbewegung Eier, Farbe und Blut. Recht haben nur die guten Argumente. Dennoch: Herr Apel, Ihre gezielte Provokation ist nicht angekommen. Sie ist abgeprallt an der Erkenntnis zehntausender Christen: Mehr Waffen führen uns näher an den Rand des atomaren Abgrunds!

Noch ein nicht unwichtiges Detail: An diesem Freitagabend trafen wir mit dem Redakteur der Kölner Rundschau – einer CDU-nahen Zeitung – zusammen. Er berichtete, dass er eine interessante Beobachtung gemacht habe. An diesem Freitagmorgen, an einem Nebeneingang zur Halle 13. Dort drängten sich die Journalisten, um das Apel-Spektakel hautnah miterleben zu dürfen. Während die Einströmenden am Haupteingang kontrolliert und nach Waffen abgefühlt wurden, kamen die Journalisten ungefilzt hinein. Vor ihm, so der Rundschau-Redakteur, habe ein Fotoreporter Farbbeutel in seiner Tasche mit in die Halle 13 geschmuggelt. Kommentar überflüssig.

Ich blickte auf, als der Mann 10 Plaketten verlangte. Eine oder zwei, das kam öfter vor. Aber gleich zehn? „Den `Krefelder Appell´ habe ich schon unterschrieben.“ Dann erzählte er mir, er sei Pfarrer in Franken. Grenzgebiet zur DDR. Zu seiner Gemeinde gehörten auch Bundesgrenzschutzeinheiten. „Bei Feiern, wenn die Offiziere genug getrunken haben, dann bricht die Angst aus ihnen heraus. Sie haben alle Angst, `verheizt´ zu werden und sich nicht gegen den Befehl von oben wehren zu können.“

Die am meisten politische Veranstaltung war die der "Christen für die Abrüstung". Freitagnachmittag im Besenbinderhof. Gegen 13 Uhr drängten bereits die ersten Besucher vor der Tür des Gewerkschaftshauses. „Der Atomtod bedroht uns alle. Keine neuen Atomraketen in Europa“ war das Motto. Um 15 Uhr waren die beiden Säle überfüllt. Draußen warteten über 1000. Nie war die Friedensbewegung in solcher Breite angetreten. Bischof Scharf war da neben William Borm, Dorothee Sölle neben Gert Bastian, Walter Kreck und Juso-Vorsitzender Piecyk, Uta Ranke-Heinemann saß vereint mit Petra Kelly von den „Grünen“, Werner Lutz für die Jungdemokraten gemeinsam mit allen Initiatoren des "Krefelder Appells".

Drei Sätze sind mir besonders haften geblieben. Der erste stammt von Dorothee Sölle, der engagierten Theologieprofessorin, die vier Monate im Jahr in den USA lehrt:

„In den USA ist das Wort `Nachrüstung´ unbekannt. Dort heißt die Sache knapp und zynisch `Aufrüstung´. Es wird Zeit, die Nachrüstungs-Lüge hier in unserem Land vom Tisch zu fegen.“ Der Beifall hielt eine Weile an.

Gert Bastian, Brigadegeneral a.D., bringt einen Vergleich, der besticht: „Die Leute, die in der immer weitergehenden Aufrüstung die Sicherung des Friedens sehen, sind wie der Mann, der von München nach Hamburg in seinem Auto rast. Als er schließlich heil dort angekommen ist, verweist er auf seinen Sicherheitsgurt. Am Sicherheitsgurt liegt es, dass ich keinen Unfall gebaut habe.“ Auch hier zeigt der langanhaltende Beifall, dass Bastian den Nerv getroffen hat.

Uta Ranke-Heinemann, Professorin für Katholische Theologie, brachte kirchenkabarett-reife Leistungen. Mit Blick auf Reagan, Haig und Eagleburger sowie deren westdeutsche „Nachbeter“ spitzte sie zu: „Weil Christus kein Killer war, haben die Apostel des Overkill mit seinem Evangelium nichts zu tun.“ Ich habe noch Walter Jens im Ohr, der dem Bruder Schmidt eine Bibelstunde anbot. Vielleicht sollte er sie auf die genannten Brüder des Overkill erweitern. Wenn´s nützt...

Als Ordner habe ich in den fünf Stunden ganz schön zu schwitzen gehabt. Allzu viele wollten nur einen Blick in den hoffnungslos überfüllten Saal werfen. Zu schade – aber durchaus verständlich –, dass uns die Messehalle mit ihren 10.000 Plätzen nicht zur Verfügung stand. Diese Veranstaltung hätte sie leicht gefüllt.

Es nieselt an diesem Samstagmorgen. Die Moorweide ist mit mehr als 30.000 Gläubigen gefüllt. Jörg Zink, der Stuttgarter Pfarrer, hat sie fast magisch an sich gezogen. Von 9 bis 10 Uhr hält er Bibelarbeit. Der Boden ist feucht, von vielen Füßen matschig getreten. Beifall braust auf unter den geduldigen Zuhörern, als Zink ausruft: „Wenn wir sagen: Wir rüsten uns zu Tode, dann sagen sie: wir gehörten zur kriminellen Vereinigung der Pazifisten.“ Jörg Zink macht uns Mut, dazuzugehören. Das „Fürchte dich nicht“ der Kirchentagslosung – hier bekommt es konkrete Gestalt...

Zurück in der Halle 3, der „Halle für eine menschliche Entwicklung“. Wir hören es sofort. Es kommt aus einer der Ecken. Die vertraute Melodie des alten Chorals „Lobe den Herren“. Als wir näher kommen, sehen wir sie stehen. Ein dutzend Sängerinnen und Sänger, die auf Blätter am Boden starren, nein: angestrengt blicken und auf die alte Melodie neue Verse singen. Sie laden ein zur Friedensdemonstration. Der heiß umstrittenen, der vom Präsidium des Kirchentages und manchen Offiziellen dieses Staates so gar nicht geliebten. Sie kommt – und das kann keiner bestreiten – mitten heraus aus diesem Kirchentag. Es sind dieselben Christen, keine zugereisten Profidemonstrierer, die den Frieden durch die Abrüstung wollen. Wir stellen uns dazu und singen mit. Den Kehrreim habe ich noch im Ohr: „Kommet zuhauf! Wehrt euch und macht das Maul auf! Kommet zu der Friedensdemo!“

Und sie kamen zuhauf. 80.000 waren es mindestens. Ich habe sie nicht gezählt. Monika und ich standen am Rand an einer großen Kreuzung und verteilten unsere Sonderzeitung von "Christen für die Abrüstung". Im Hintergrund tönte ein Posaunenchor: „Großer Gott, wir loben dich.“ Über zwei Stunden zogen Christen buntgemischt mit Homos und Lesben, Grüne mit Kommunisten an uns vorüber zum Kundgebungsplatz. Einen Ordner habe ich nicht gesehen. Nie zuvor haben wir einen harmonischeren Zug für den Frieden erlebt. Darin waren wir uns alle einig. Menschen liefen aus dem Zug heraus auf uns zu, Freunde aus längst vergangenen Jahren. Solche, die wir – fälschlich – auf anderen Dampfern wähnten, umarmten uns freudig. Der Posaunenchor spielte gerade „We shall overcome“. Ja, das war eine großartige „Schlacht“ für den Frieden. „Apel, wir kommen! Jetzt kommen auch die Frommen!“ Und wie sie hüpften, die Frommen. Ein Feuerwerk sprühender Phantasie explodierte vor unseren Augen und entzündete unsere Herzen.

Als die vierhundert mitten auf der Kreuzung zu Boden gingen, nachdem die Sirene ertönte und eine Stimme über das Megaphone mitteilte: „Vor zwanzig Sekunden ist eine Atombombe auf Hamburg heruntergegangen. Es ist nichts zu befürchten. Setzen Sie sich bitte auf den Boden und halten Sie die Aktentasche über Ihren Kopf. Danke! Bitte sprechen Sie mir nun langsam nach: Vater unser, der du bist im Himmel...“

Bei „Himmel“ fielen sie alle wie tot zu Boden und blieben sekundenlang liegen. Mitten auf der Kreuzung. Etwa 400. Der ältere Herr neben mir schüttelte missbilligend den Kopf. „Unsinn! Alles Unsinn!“ Seine Frau meinte nachdenklich: „Da ist was dran, Karl. In Wirklichkeit ist es doch noch viel schlimmer.“ Sie nahm eine unserer Zeitungen gerne an. Die Gruppe, die den Choral sang, hätte gerade aus dem Sonntagsgottesdienst kommen können. Wie man so sagt: Typische Kirchgänger. Ich habe mich sehr gefreut, sie mitten unter den Zehntausenden zu sehen und zu hören. Das hätte auch all denen gut getan, die aus dieser Demonstration zu gern ein moskauferngelenktes Spektakel machen wollten – um desto ungestörter nach neuen Raketen schreien zu können. Das breite Transparent geht mir auch nicht aus dem Kopf: „Atomraketen für den Frieden? Schnaps gegen Alkoholismus?“ Die es trugen, waren nicht mehr so jung. Und sie hatten es mehr als zwei Stunden gut lesbar zu schleppen.

Erst dachten wir an neuerliche Provokation, dann sahen wir sie heranbrausen: an die 3000 Motorradfahrer, die soeben ihren Motorrad-Gottesdienst beendet hatten und laut hupend die Kundgebungsteilnehmer grüßten. Es muss das Solidaritätsgefühl gewesen sein, was uns allen
 

wie ein Schauer den Rücken herunterlief. Wer erwartet denn schon von Rockern, dass sie für Frieden und Abrüstung sind?

Hinter den Lastwagen, auf denen die Redner zu den hunderttausend Menschen sprachen, die afrikanische Tanzgruppe aus Soweto aufreizend tanzte, trafen wir Erich Fried. Auf seinen Knotenstock gestützt, sah er mit freundlichen Augen zu uns herüber, als wir ihn mit unseren Fragen aufstörten. „Nein, ihr stört ganz und gar nicht!“ sagte er leise mit seiner tiefen Stimme. Und wir tauschten jahrealte gemeinsame Erlebnisse aus, die wir fast vergessen hatten. Karl-Heinz Hansen und Frau begrüßten ihn. Erhard Eppler tauchte auch für ein paar Minuten hier auf und fiel Helmut Gollwitzer um den Hals, den wir vor Jahren in Berlin-Dahlem kennenlernten. Die Wiedersehensfreude war ringsum groß, angehoben von der Friedensstimmung der Zehntausenden.

„Wie oft darf man unterschreiben?“ fragte Golli lachend, als Monika ihm das große Plakat mit der Unterschriftensammlung für den "Krefelder Appell" hinhielt. „Einmal reicht“, antwortete sie. Dann lachten wir alle. Ich höre noch sein „Kläglich“, das er zum Schluss vom Wagen herunterrief. Und Golli meinte die „Nachrüstungspolitik“ des Kanzlers Schmidt.

Ja, „kläglich“ – das ist uns wohl allen deutlich geworden.

Kläglich auch die Stimme der jungen Frau am gleichen Abend in der Veranstaltung zum 40. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Pfarrer Stoyan aus der Sowjetunion hatte berichtet, wie er als gerade Zehnjähriger am ersten Tag des Überfalls beide Eltern verlor.

Und mir stiegen die Tränen auf, als er eindringlich an uns appellierte, dafür zu sorgen, dass so etwas – und Schlimmeres – nie wieder geschehen möge. Wir wären vor Scham beinahe in den Boden versunken, als die besagte Frau dann empört rief: „Und was ist mit Afghanistan?“

Ein Pfarrerkollege gab ihr dann spontan Antwort mit den Worten von Walter Jens: „Wenn die Sowjetunion nicht 20 Millionen Menschen im letzten Krieg geopfert hätte, dann hinge hier statt der Kirchentags- die Hakenkreuzfahne.“

Nein, nicht alle waren eines Sinnes. Wie sollten sie auch. Das hieße die Augen vor den Realitäten in unserer Gesellschaft verschließen. Aber solche Meinungen, wie die der jungen Frau, waren vorwiegend bei Helmut Kohl zu hören. Der aber hatte nur 1000 Zuhörer. Eine lächerlich kleine Schar auf diesem Kirchentag der Superlative.

Werner Sanß, einen alten Pfarrerkollegen, trafen wir kurz vor Ende des Kirchentages. Irgendwo im Gedränge. Er zog eine Liste für den "Krefelder Appell" aus der Jackentasche.

„Hier“, strahlte er. „Könnt ihr lesen?“ Stolz zeigte er Monika und mir die Unterschrift von Angela Davis, die US-amerikanische schwarze Menschenrechtsaktivistin, die auf der Moorweide gesprochen hatte.

Und er zitierte Angela: „Was glaubt ihr, welche Angst sie in Washington vor eurer Million Unterschriften haben?“

Als wir uns verabschiedeten, waren wir mit vielen Christen einig: So großartig war noch kein Kirchentag zuvor gewesen. Die Christen in unserem Land haben begriffen, dass zum Frieden die Abrüstung gehört.

„Selig die Friedensmacher“, sagt Jesus. „Solche sind Gottes Kinder.“ Alle – wohlgemerkt. Da schließt er keinen aus.


Aus: Leben contra Gewalt, Kürbiskern, 04/1981


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