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Aktueller Online-Flyer vom 13. März 2025  

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Literatur
Spaniens Himmel breitet seine Sterne ... oder
Ein Lied kehrt zurück - Folge 1
Von Christina Seidel und Kurt Wünsch

Schüler des Gymnasiums St. Martin, beschließen eine Geschichtsarbeit über den Spanischen Bürgerkrieg zu schreiben, der 1936 begann. Sie führen Gespräche mit ehemaligen Interbrigadisten aus verschiedenen Ländern und einem »Condorflieger« der faschistischen deutschen Luftwaffe. Felix besucht außerdem gemeinsam mit der jungen Spanierin Dolores die historischen Orte der Kämpfe zwischen Madrid und Barcelona. Wieder zu Hause holt die Gegenwart in Gestalt der neofaschistischen »Sportgruppe Mölders« die Vergangenheit zurück. Felix muss sich nicht nur zwischen Dolores und Sophie entscheiden. Neben einer spannenden Rahmenhandlung vermitteln die Autoren Ereignisse des Spanischen Bürgerkrieges aus heutiger Sicht

Spaniens Himmel

1. Teil - Theater im Gymnasium »St. Martin«

1.

Scheinbar unwiderruflich blau wölbte sich der Himmel über der Stadt. Kein Wölkchen verdeckte die Sonne. Bäume und Sträucher vor dem zweistöckigen Haus im Ahornweg streckten ihr nach tagelangem Regen dankbar die Blätter entgegen. In der zweiten Etagewohnten Angelika Grabner und ihr Sohn Felix. Frau Grabner arbeitete als Bankangestellte in der Datenbuchung. Felix ging in die 11. Klasse des christlichen Gymnasiums »St. Martin« und an diesem wunderschönen Nachmittag keinen Schritt vor die Tür. Er saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch und verfluchte die »Typen«, die sich »diese Mathematik« ausgedacht hatten. Im Bücherregel direkt neben Goethes Faust vertrocknete eine seit Tagen vergessene Marmeladenschnitte. Über dem einzigen Sessel im Raum hing Felix Schlafanzug und auf dem zerwühlten Bett lagen eine aufgerissene Haribotüte, ein Fahrradschlauch und diverse Kleidungsstücke. Felix störte das nicht. Er musste am nächsten Tag irgendwie die Matheklausur bestehen. Sophie würde wahrscheinlich krankheitsbedingt fehlen. Auch das noch. Matheklausur, das war für Felix wie ein Nichtschwimmersprung ins eiskalte Wasser. Und Sophie der rettende Bademeister unter den extrem kurzsichtigen Blicken der Lehrerin, Frau Dorn. Blinde Lehrer wären der Traum, wünschte er sich manchmal.
Er beugte sich seufzend über das vor ihm aufgeschlagene Lehrbuch, strich fahrig die dunklen strähnigen Haare aus dem schmalen Gesicht und begriff immer noch nicht, wie man die Tangentialebene an einem Punkt der Kugel berechnen muss. Er dachte dabei allerdings bald mehr an Sophie, als an abstrakte mathematische Gebilde. Sophie war ein noch schönerer Traum als blinde Lehrer. Natürlich, ehrlich und hübsch. Er stellte sich vor, wie sie nackt auf einem Badetuch lag, und er ihr behutsam ein Blatt Papier - die Tangentialebene - auf die Brust legte.
So müsste Mathematik veranschaulicht werden!
Schrilles Läuten beendete seine Wunschträume. Kurze Zeit später vernahm er im Flur die Stimme seines Freundes Alexander.Wie üblich ließ ihn Felix Mutter nicht so ohne weiteres an sich vorbei.
Alexander blieb höflich neben ihr stehen. Seine schwarzen gegelten Haare und die sorgfältig ausgewählte Kleidung waren leuchtende Vorbilder für Frau Grabner, deren Sohn monatelang nicht zum Friseur ging und seine T-Shirts und Pullover erst nach mehrmaliger Aufforderung wechselte.
»Ihr müsst euch allmählich entscheiden, was ihr studieren wollt«, sagte sie zu Alexander. »Nach den Sommerferien geht's mit Riesenschritten in Richtung Abitur. Aus meiner Sicht wäre Finanzwirtschaft ...«
Felix riss wütend die Tür auf.
»Nerv den Alex nicht mit deiner Finanzscheiße! Studieren? Wir werden Berufe mit Zukunft ergreifen.«
Frau Grabner hatte in ihrer Bank gelernt, ruhig zu bleiben. Nur ihreWangen
färbten sich rot. »Berufe mit Zukunft? Sehr gut! Was denn zum Beispiel?«
»Bankräuber oder Zuhälter!«
»Mach keinen Stress! Deine Mutter hat völlig Recht«, versuchte Alexander die Situation zu entschärfen. »Wir müssen echt bald wissen, was wir wollen.
Ich werde mich wohl bei einer Militärhochschule bewerben.«
Die Gesichtsröte von Angelika Grabner wechselte schlagartig auf die Wangen ihres Sohnes. Bevor der reagieren konnte, legte Alexander freundschaftlich einen Arm auf dessen Schulter. »Okay, wir hatten mal von Schauspielkunst gesponnen.
Superstars auf den Bühnen der Welt: Du Faust, ich Mephisto und Sophie das Gretchen.«
Frau Grabner wurde hellhörig.
»Sophie, das Gretchen?«, fragte sie. »Sophie Vester? Die immer rumläuft wie ein armes Straßenkind?«
Armes Straßenkind? Felix öffnete empört den Mund, kam aber wieder nicht zu Wort.
»Genau die«, nickte Alexander. »Sophie ist schauspielerisch extrem begabt.
Genetisch vorprogrammiert sozusagen, als Tochter einer Puppenspielerin.«
Frau Grabner wandte sich an Felix. »Und du der Faust? Mit dieser Frisur?«
»Genau, Mama! Und für dich hätten wir auch noch eine Rolle frei. Du kannst die alte Kupplerin Marthe geben. Allerdings nicht mit dieser Frisur.« Er zeigte auf die sorgfältig gelockten blonden Haare der Mutter.
Felix schob den Freund wortlos in sein Zimmer.

2.

Alexander zerrte kopfschüttelnd den Schlafanzug vom Sessel, nahm mit gespreizten Fingern die Marmeladenschnitte aus dem Regal, brachte sie in die Küche, kam zurück, ließ sich in den Sessel fallen und meinte vorwurfsvoll: »Das war wohl nichts! Wo wärst du denn ohne deine Mutter?«
Felix grinste. »Im großen Teich der Ungeborenen. Mit starrem Blick auf den Klapperstorch. Meine Mutter läuft nicht mehr rund. Seit mein Vater den Abflug gemacht hat, hängt sie an mir wie Blei.«
»Weißt du, was ich meiner Mutter vor ein paar Tagen beim Frühstück verklickert habe? Liebe Mama, habe ich gesagt, meine neue Freundin heißt Clarissa, ihr Vater ist Staatssekretär, die Mutter Chefärztin. Clarissa schreibt lauter Einsen, war vor mir noch keusche Jungfrau, also sicher aidsfrei, nimmt keine Drogen, aber seit sie mit mir zusammen ist, regelmäßig die Pille. So arbeitet man an seinen Eltern, mein Freund. Genial, oder?«
Felix ließ sich nicht auf dieses Thema ein.
»Willst du echt im Gleichschritt marschieren, oder war das auch nur so eine ... geniale Idee?«
Alexander winkte ab. »Vergiss es. Mehr spontan als genial.«
Er wurde ernst. »Beruf mit Zukunft, das hast du angesagt. Sehe ich auch so.
In zehn Jahren wird es in Deutschland mehr Soldaten als Zivilbeschäftigte geben!
Wir verteidigen unsere Freiheit auf der ganzen Welt, hat der zuständige Minister verkündet. Müssen wir auch. Guck dich doch um! Nicht nur im Irak und Afghanistan sieht es so chaotisch aus wie in deinem Zimmer. Die Schwarzen in Afrika wollen lieber in Deutschland Sozialhilfe versaufen, als sich im Busch den Arsch aufreißen. Ich sage dir«, Alexander hob den rechten Zeigefinger, »wenn du heute eine Uniform anziehst, stehst du morgen auf der sicheren Seite.«
Felix starrte seinen Freund immer ungläubiger an.
Der sagte plötzlich mit völlig veränderter Stimme. »Vielleicht kommt's ja auch wie du dir's wahrscheinlich wünscht. Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Kampfschwimmer zu Altenpflegern, der nächste amerikanische Präsident heiratet eine Muslimin, die Juden bauen den Palästinensern Moscheen, und die Löwen pflücken Blumen für die Bergziegen. Ich spiele sowieso lieber Theater als Krieg. Los, hol den Text und ruf Sophie an.«
Alexander drückte dem Freund das Telefon in die Hand. Der verweigerte entschieden die Annahme. Der kranken Sophie zumuten aus dem Haus zu gehen?
Er lächelte zum ersten Mal an diesem Tag: »Hör mal, Mephisto, du musst die Dirne herbei schaffen!«
Alexander nickte. »Oder wenigstens ein Halstuch von ihrer Brust, wie?«, fragte er grinsend. »Oder ein Strumpfband? Ein Strumpfband von der Geliebten«, wiederholte er, »das muss zu Goethes Zeiten für sexuelle Höhepunkte gereicht haben.
Okay!« Er griff zum Telefon und wählte Sophies Nummer. Das Mädchen war sofort am Apparat und nach einigem Zureden trotz Krankheit bereit, für das Theaterstück zu proben. Allerdings in ihrem Zimmer.
Alexander merkte, was mit Felix los war. »Du bist und bleibst der Faust«,
stellte er klar, »auf der Bühne und ...«Alexander wies grinsend und unmissverständlich mit dem Kopf zum Bett. Felix drehte sich zum Fenster, um seine Verlegenheit zu verbergen. Dieser Idiot, dachte er, als ob das so einfach wäre ...
Bei der Verabschiedung von Angelika Grabner sagte Alexander charmant lächelnd:
»Wir wollen Theater spielen und könnten ein bisschen Unterstützung
bei den Kostümen gebrauchen.«
Felix Mutter reagierte zurückhaltend. »Habt ihr schon bestimmte Vorstellungen?«
Alexander nickte lebhaft. »Logo! Faust muss natürlich wie ein alter Professor daherkommen, so mit Nickelbrille, weißem Bart, Schlauchhosen und einem schwarzen Umhang. Das kriegen wir allein in die Reihe. Gretchen ist auch keine Hürde, Sophie wirkt von Natur aus unschuldig. Den Rest wird ihre Mutter schon packen.«
»Und du, Mephisto?«
Alexander machte sein hilflosestes Gesicht. »Das ist ja unser Problem, Frau Grabner. Was Ausgefallenes ...«
»Kurzer Pelzrock, Bergsteigerstrümpfe, gestreifte Schlafanzugjacke«, schlug Felix vor. Sein Freund jaulte wie ein Hund, den einer auf den Schwanz getreten hatte.
»Ich bin doch nicht der Vogelfänger aus der Zauberflöte! Was Ausgefallenes!«
»Wie ein General der Bundeswehr vielleicht«, spottete Felix weiter.
»Vergiss es, schließlich tauche ich aus keiner Kaserne auf.«
»Sondern kommst nach Goethes Vorschrift hinterm Ofen vorgekrochen«, mischte sich Frau Grabner sachkundig ein. Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ich hätte da vielleicht ein Kostüm für dich, Alexander«, sagte sie nach einerWeile. »Mein OnkelWilhelm hat es mal aus Spanien mitgebracht und meinem ... und Felix Vater geschenkt. Als Faschingskostüm!«
»Ein Faschingskostüm aus Spanien?«
»Dein Vater hat es nie getragen.«
»Weil es ihm nicht gefiel?«
»In der DDR war es sicher nicht ungefährlich, Kostüme aus westlichen Ländern anzuziehen«, vermutete Alexander.
»Nicht nur Kostüme.Wer zum Beispiel Unterwäsche von Schießer trug, wurde sofort erschossen!«
Alexander drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Jetzt tischen Sie uns aber Lügenmärchen auf, Frau Grabner.« Die lachte und forderte die beiden auf, ihr ins Schlafzimmer zu folgen. Dort kramte sie OnkelWilhelms Geschenk aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks, und betrachtete es kritisch: Rote Weste, weißes Rüschenhemd, schwarze Strümpfe, Hut.
»Mephisto als Stierkämpfer!« Felix fasste sich an den Kopf. »Da soll ich mir wohl Hörner umbinden! Wir wollen Faust aufführen, Mama!«
Alexander nahm die Sachen vorsichtig in die Hand, begutachtete sie von allen Seiten und zitierte Goethe: »Wir werden, hoffe ich, uns vertragen! Denn dir die Grillen zu verjagen, bin ich als edler Junker hier.« Nach wenigen Minuten stand er strahlend als Torero im Zimmer. Felix verzichtete kopfschüttelnd auf weitere Einsprüche, wollte aber von seiner Mutter etwas über diesen Onkel Wilhelm wissen, von dessen Existenz er heute zum ersten Mal erfahren hatte.
»Machte er Urlaub in Spanien?«
Frau Grabner antwortete widerwillig. »Nein, er war dort als Soldat.«
»Soldat? Und in welchem Krieg?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Lebt er noch?«
»Auch das weiß ich nicht. Er ist 1960 nach dem Westen abgehauen und danach hatten wir keinen Kontakt mehr zu ihm.«
Alexander gab seinem Freund ein Zeichen nicht weiter zu bohren. Kurze Zeit später schwangen sich die beiden jungen Männer auf ihre Fahrräder.

3.

Der Ahornweg mündet in eine breite, vielbefahrene Straße. Sie heißt wieder »Bismarck-Allee«. »Straße der Völkerfreundschaft« sagen nur noch die Alten. Dahinter beginnt, was einmal sozialistisches Wohngebiet hieß und heute abfällig Plattenwüste genannt wird. Hoffnungslos recken sich die grauen Hochhäuser in den Himmel und die meist blinden Fenster klappern im Wind das Lied vom Abriss.
Alexander schwenkte, ohne zu fragen aus der Bismark-Allee nach rechts,was soviel hieß wie: Wir nehmen den Umweg durch die Aue. Felix folgte widerspruchslos. DerWeg führte hinter uralten Bäumen zum Ufer des Flusses und erreichte schließlich eine Asphaltstraße. Zwischen Fluss und Straße stehen kantige, prächtige Villen vor großen Gärten, sämtlich aufpoliert nach Geschmack und mit den Materialien der neuen Zeit. Das windschiefe Dach des ehemaligen Fischerhauses passt da ebenso wenig in die Gegend wie dessen imWinter rauchender Schornstein.
Sybille Vester, die Mieterin, pflegte zu entgegnen, wenn einer auf diese Gegensätze anspielte: »Erstens ist das Sache des Vermieters und zweitens werde ich mich hüten, schlafende Hunde zu wecken!«
Sie empfing die zwei jungen Männer mit einem etwas zu herzlichem »Hallo!«
Ihr langes, sehr buntes, untailliertes Kleid schleifte am Boden. Schwarze glatte Haare umrahmten ein rundes Gesicht. In ihrer Werkstatt war sie gerade mit der Fertigstellung einer Polizistenpuppe beschäftigt. Man sah der halbfertigen, hölzernen Figur bereits an, dass die Staatsgewalt nicht gerade zu den Lieblingen der Künstlerin gehörte. Das feuerrote Haar der Frisur sträubte sich wild nach allen Seiten und der Blick glich dem eines Alkoholikers.
Den Rest der unteren Etage nahmen eine schmale Küche und ein geräumiges Wohnzimmer mit auffallend kleinen Fenstern ein. Überall ließ hier offensichtlich jeder liegen, was ihm gerade aus der Hand fiel oder irgendwann einmal benutzt worden war: Tassen, Töpfe, Eimer, Creme, ein Kleid, Holz und Papierreste.
Felix blickte seinen Freund vielsagend an. Der meinte, ohne eine Miene zu verziehen: »Schön haben Sie's hier, Frau Vester!«
Sie nickte geschmeichelt und wollte etwas über die geplante Theatervorstellung wissen. Prüfend blickte sie Felix von oben bis unten an.
»Du der Faust und Sophie das Gretchen? Na, ich weiß ja nicht, ob das gut gehen wird.«
»Ich werde mir Mühe geben.«
Sophie, die ins Zimmer getreten war, hatte die Antwort gehört.
»Mühe geben?«, wiederholte sie. »Wobei?«
Felix wich verlegen ihrem Blick aus.
»Auf der ganzen Linie natürlich«, lachte Alexander.
Sehr krank sah das Mädchen nicht mehr aus. Sie hatte ihre ebenfalls dunklen Haare zu einem Knoten aufgesteckt. Ein verwaschenes blaues T-Shirt reichte ihr fast bis zu den Hüften. Andere Mädchen hätten sich bestimmt vor dem Spiegel zurechtgemacht, dachte Felix. Aber Sophie ... Sophie war eben Sophie!
»Na los!« rief sie und zeigte auf die schmale Holztreppe, die nach oben in ihr Zimmer führte.
Alexander zog sich dort betont langsam um. Sophie rief zur Beurteilung seines Torero-Kostüms nach ihrer Mutter. Die fand es »geil« und »cool«.
Felix stand abwartend daneben. »Das Kostüm hat ein Onkel meiner Mutter aus Spanien mitgebracht. Er war dort im Krieg, Frau Vester«, sagte er schließlich.
»Mein Gott«, protestierte Sophies Mutter mit erhobenen Armen, »nennt mich doch bloß nicht immer Frau Vester. Ich bin Bille und fertig. Verstanden?«
Felix nickte. Alexander verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen. Zur allgemeinen Verblüffung begann Bille aus voller Kehle, aber mit zu hoher Stimme zu singen:
»Spaniens Himmel breitet seine Sterne
über unsre Schützengräben aus,
und der Morgen leuchtet in der Ferne,
bald geht es zum neuen Kampf hinaus.«
»Spanien«, erklärte sie lachend, »da fällt mir spontan dieses Lied ein. Wir haben es oft bei den jungen Pionieren und in der FDJ gesungen.«
»Junge Pioniere und FDJ«, wiederholte Alexander gedehnt, »ein Glück, dass wir das nicht mehr erleben mussten.«
»Ach, was wisst ihr schon«, widersprach Frau Vester ärgerlich. »Ihr glaubt doch, dass in der DDR selbst die Benutzung der Toilette nur in Begleitung eines Stasimannes erlaubt war.«
»Ha, ha«, lachte Alexander und Sophie rief: »Sehr witzig, Mama! Aber vielleicht kannst du uns auch sagen, wer damals in Spanien aus den Schützengräben die Sterne beobachtet hat?«
Bille dachte nach. »Mein Gott! Das ist ewig her, als ich das noch wusste. Ein gewisser General Franco hat da eine Rolle gespielt.«
»Und OnkelWilhelm!«, ergänzte Alexander schmunzelnd und fuhr energisch fort: »Ich bin des müden Tons nun satt, will endlich wieder Teufel spielen. Und du, Felix, den Faust, sonst läuft heute nämlich nichts mehr mit dem Gretchen.« Er zwinkerte Felix zu. Dem war's peinlich, weil Sophie das bemerkt hatte. Frau Vester beeilte sich, Felix und Sophie provisorisch zu kostümieren. Der junge Mann sah anschließend wie ein Mix aus Mönch und Bergsteiger aus. Ihre Tochter glich einer Märchenfee in Klarsichtverpackung. Alexander schlug vor, zuerst die Szene zu proben, wo der Faust das Gretchen anspricht: »Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen ... und so weiter.«
Frau Vester blätterte im Textbuch. »Fangt besser mit dem letzten Satz der vorigen Szene an.«
»Warum das denn?«
»Wartet mal.« Sie verschwand und drückte, als sie zurückkam, Alexander ein Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit in die Hand. »Du siehst mit diesem Trank im Leibe, bald Helena in jedem Weibe«, zitierte sie aus dem Textbuch. Alexander hielt das Glas Felix vor die Nase und wiederholte: »Du siehst mit diesem Trank im Leibe, bald Helena in jedem Weibe.«
Felix griff zögernd zu.
»Nun trink schon«, ermunterte ihn Sophie, »trink schon aus.«
Felix führte das Glas zum Mund und trank ohne Abzusetzen bis zum letzten Tropfen. Die anderen applaudierten heftig. Helena in jedem Weibe? Der Junge richtete seine Augen auf Sophie. Deren Kleid löste sich plötzlich und schwebte zu Boden, der sich unter Felix Füßen zu bewegen schien.
Die anschließende Probe wurde zur Katastrophe.
Anstatt: »Mein schönes Fräulein darf ich's wagen, Arm und Geleit euch anzutragen?«, kicherte Felix: »Mein liebes Fräulein, darf ich fragen, was sich bewegt in ihrem Magen«, und Mephisto bekam statt: »Hör, du musst mir die Dirne schaffen, Alex, du musst die Birne lassen«, zu hören. Solche Verwechslungen begeisterten Felix immer mehr, er steigerte sich nicht nur mit Worten, sondern vollführte dabei auch noch Bewegungen wie ein Clown auf der Zirkusbühne. Sophie und Alexander fanden das bald überhaupt nicht mehr lustig. Nur Bille wollte sich totlachen und holte eine Flasche und Gläser aus der Küche. Felix, plötzlich todernst, winkte ab und verließ schwankend das Haus. Auf dem Fluss schaukelte ein Ruderboot im leichtenWellengang. Auf diesen Anblick antwortete der Magen des jungen Mannes mit heftigem Entleerungsdrang. Felix schob das Rad auf die Straße und hielt mühsam Kurs. Das Lied, das Bille gesungen hatte, kam ihm in den Sinn. Merkwürdigerweise hatte er sich Text und Melodie gemerkt. Laut begann er zu singen: »Spaniens Himmel breitet seine Sterne ...«

Ein älterer Mann blieb überrascht stehen und sagte: »Nein, das ist aber schön, dass junge Menschen heute noch solche Lieder singen!« Felix versuchte sich zu sammeln und fragte: »Sind ... sind Sie vielleicht Onkel Wilhelm?«



"Spaniens Himmel ...oder Ein Lied kehrt zurück", Bestell-Nr. 60146, 2006, 206 S., zahlr. Abb., 2 Karten, geb., 14.90 Euro
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Umschlagillustration und Zeichnungen: Hans Fritsch, Satz: Arnold Bruns, Druck: Interpress, Budapest



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