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Inland
Interview mit Walter Ruge – Autor von „Treibeis am Jenissei“
„Wenn man einmal wirklich links' war…“
Von Peter Kleinert
Peter Kleinert: Sie wurden als Schüler in der Weimarer Republik Kommunist, mussten 1933 nach Moskau emigrieren, wurden dort unter Stalin 1941 als „Konterrevolutionär“ verhaftet, zunächst in der Ljubjanka, dann in Omsk eingesperrt und 1942 zu zehn Jahren Gulag-Haft in Sibirien verurteilt, waren bis 1955 in der Verbannung, dann – inzwischen mit Ihrer Frau Irina verheiratet und rehabilitiert – wieder einige Jahre in Moskau und fanden 1958, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, eine „neue Heimat“ als SED-Genosse in der DDR. Auch heute nach dem Anschluss sind Sie weiter – inzwischen in der LINKS-Partei und 92 Jahre alt – politisch aktiv und lieben Russland und seine Menschen. Wie ist das bei dieser Biografie möglich?
Walter Ruge: Zunächst: „… wieder einige Jahre in Moskau“ ist nicht ganz korrekt, wir waren mit meiner Frau Irina, nachdem uns die sowjetische Freizügigkeit im Ural zurückgegeben wurde, immer wieder kurzfristig bei Freunden (meistens ehemaligen ‚Kollegen’-Häftlingen), und 1958 im Transit Richtung DDR in Moskau. Es ist durchaus „möglich“, bei dieser Biografie weiter politisch aktiv zu sein und Russland zu lieben. Wenn man einmal wirklich ‚links’ war – man bleibt es dann immer. Entscheidend wurde dabei, das ursprüngliche ‚Weltbild’ zu erhalten bzw. zu bereinigen.
![](/flyer/media/11147/Ruge Treibeis.jpg)
Walter Ruge 1952 im Treibeis am Jenissei
Wenn man - im langjährigen Austausch mit Gleichgesinnten - еrkannt hat, dass der weise Stalin eine über Jahre währende Degeneration, eine zielstrebige Entartung (перерождение) des Sozialismus betrieben hat, fängt man gezwungenermaßen an, nach dem Urgestein zu suchen (was übrigens der von Ihnen erwähnten neuen Linken nicht auffällig am Herzen liegt), den stalinschen Müll und das Blut abzukratzen. Nicht ganz zufällig habe ich sofort nach meiner Haftentlassung in der sozialistischen Bildungsstätte (парткабинет) in Ermakowo begonnen, gründlich Klassiker des Marxismus zu studieren. Seinen Weg zur persönlichen Allmacht hat der Dschugaschwilli mit den Kadavern Hunderttausender gestandener Revolutionäre gepflastert - dazu gehörten fast komplett die leninsche Garde (inklusive des Schweizer Sozialisten Fritz Platten, der Lenin im plombierten Waggon durch Deutschland begleitete), die bolschewistischen Illegalen, die Partisanen, die Kämpfer des Bürgerkrieges und die roten Matrosen.
Zwar hatte der Koryphäe im Mai 1936 laut verkündet: „Die Kader entscheiden alles“, aber gehandelt hat er - als Negation dieses Leitsatzes - beginnend mit der Ermordung von S. M. Kirov am 1. Dezember 1934, hat die Kader ausgemerzt - das Jahr 1937 war eine regelrechte Blutorgie -, die seinem Thermidor im Wege standen. Ohne diese Creme der Revolution im Verbund mit der zutiefst antimonarchistischen Intelligenzia war das Erbe des Oktobers unwiederbringlich verloren und der Weg zu einer de facto Restauration des ancien regimes frei. An endlosen Beispielen lässt sich bis ins Detail nachweisen (lebenslängliche Verbannungen, ‚Modernisierung’ und Umbenennung der Roten Armee, Koedukation, Abtreibungsverbot, Verhältnis zur russisch-orthodoxen Geistlichkeit etc), dass wir in der Sowjetunion, beginnend mit etwa 1935, zielstrebig zu überwunden geglaubten zaristischen Verhältnissen zurückgekehrt sind.
Diese langsam herangereiften Erkenntnisse ermöglichten es mir - wie mit einem Skalpell - den Leib von diesem todbringenden Tumor zu befreien ... und wieder „politisch aktiv“ zu werden. Der Gedanke fasste wieder Fuß, dass die Lösung aller - ich betone aller, Klima, Arbeitslosigkeit, Migration, Ressourcen, Kriege, AIDS, etc. etc. – Menschheitsprobleme nur dann überhaupt möglich ist, wenn Gemeinwohl konsequent vor Eigennutz rangiert. Die laufenden heuchlerischen, verbalen Statements von Politikern aller Couleur ändern daran nichts.
Der zweite Aspekt ist nicht unwichtig: Ich bin in diesem sowjetisch/russischen Land zutiefst ganz persönlich verankert, liebe seine Musik, seine Literatur, seine Malerei, seine Weiten, seine Gebirge, Wälder und Flüsse. Hinzu kommt – nicht ganz unwichtig – eine russische Frau mit einem ganzen Rattenschwanz von Verwandtschaft, davon zwei im Krieg Gefallenen, vier, die die deutsch-faschistische Blockade von Leningrad überlebt haben (vier weitere sind dort verhungert), die mich bis heute wie einen Bruder behandelt. Bis heute habe ich unzählige treue Freunde in allen Ecken der ehemaligen Sowjetunion – viele davon Offiziere der „Besatzungsmacht", deren Töchter in der DDR geboren wurden. Zu den Streitkräften der UdSSR in Potsdam hatte ich ein sehr enges Verhältnis, war „Ehrenpionier" der sowjetischen Schule in der Potsdamer Hegelallee. Der potenzielle „Einwand": Das war doch schon alles in der „entarteten" Sowjetunion, kann nur für die gültig sein, die nicht verstanden haben - oder partout nicht verstehen wollen –, dass der von ihnen kreierte „Stalinismus" mit dem Tode des Tyrannen unzweifelhaft eine völlig neue Qualität, ein anderes, ein hoffnungsvolles Gesicht erhalten hat. Doch ein wirkliches Skalpell hat es, das muss man zugeben, nie gegeben.
![](/flyer/media/11147/Ruge 2.jpg)
Walter Ruge bei den Filmarbeiten zu "Über die Schwelle" im Jahr 2006
www.ueberdieschwelle.de
Ihr Buch „Treibeis am Jenissei“ ist zunächst - in Teilen - in Frankreich erschienen, erst 2006 in deutscher Sprache. Waren Sie der Auffassung, dass diese „Lebens-Geschichten“ vom deutschen Publikum nicht gelesen werden würden?
Wenn Sie das Interview in der jW vom 7./8./9. April 2007 kennen, werden Sie bemerkt haben, dass es nicht zufällig mit meinem „tiefen Misstrauen zu Deutschland" beginnt. Daraus resultierte, dass ich eine Buchveröffentlichung im geliebten Frankreich mit Stolz, als eine endgültige, durch nichts zu übertreffende Erfüllung betrachtete. Vielleicht war die Aversion gegen den „deutschen Leser" schlechthin nicht so groß; eher gegen diese unverschämte, verlogene und das Wort im Munde umdrehende Canaille von deutscher Presse. Ich erinnere nur an Berti Vogts Überlegungen zu dem „Umgang" der „Medien" mit seiner Person: „Die haben mich einfach fertig gemacht!“.
Von meinen Texten war ich nicht so unbedingt überzeugt, hatte sie eher für meine Tochter Tatjana, meine Frau und einen engen Freundeskreis verfasst, bis eben diese reizende Französin Anne-Marie auftauchte, die mich überzeugte, wie „wertvoll" diese Manuskripte – für die Geschichte, für die Jugend – seien, und dass sie beabsichtige ein Buch daraus zu machen. Genauso verlief es mit der deutschen Ausgabe: Ich wurde von Freunden ‚überzeugt’ und bedaure es jetzt nicht, wenn ich, neben vielen Leserbriefen, allein an Ihre Reaktion denke. Es ist nichts Unehrenhaftes daran, sich selbst zu unterschätzen.
Wie ist Ihr Buch von der Literaturkritik in den französischen und deutschen Medien aufgenommen worden? Haben wir in den „demokratischen Staaten“ im Gegensatz zur Sowjetunion und der DDR eine „freie Presse“?
„Wir" haben keine „demokratischen Staaten“, schon gar keine „freie Presse“ – ausgenommen sicher solche kleineren Institutionen, wie z.B. www.nrhz.de. Presse, Medien sind endgültig zum großen Geschäft verludert, zum Mittel - eben „Medium" - mit dem die Welt, wenn auch nicht in zehn Tagen, nach ihrem Vor-Bild mit zunehmendem Erfolg verändert (globalisiert) wird. Den deutschen „Medien" konnte dieses Buch gar nicht in ihre Konzeption passen - sie entschieden „richtig": totschweigen. Die französischen Medien haben ja nicht diese animalische, US-amerikanische Abneigung gegen alles Kommunistische, sie waren in der Lage, Interesse für andere Biografien, anderes Leben, andere Länder und Sitten zu zeigen. Etwa zehn Zeitungen brachten Stimmen, völlig ohne Häme, zu meinem Buch; nicht unbedingt zustimmend, aber sachlich, mit einer gewissen Hochachtung für diesen alten Mann, „der uns am letzten Dienstag gegenüber saß". Es ging nicht ohne Kurioses; die Korrespondentin der Libération erwies sich als Russin, so führte sie das Gespräch genüsslich Russisch. In Paris war ich life auf zwei großen Fernsehkanälen, ein Kanal übergab mir noch im Studio eine Kassette mit der Aufzeichnung des Interviews. Auch in Radio France International kam ich zu Wort, wurde nicht in dieser alemannischen Art unflätig unterbrochen.
![](/flyer/media/11147/Ruge Defa.jpg)
Als sowjetischer Kulturoffizier im DEFA-Film „Mama ich lebe“,
Regie Konrad Wolf 1976
Sie waren kritisch gegenüber manchem in der Politik der UdSSR und der DDR, wie aus einem 1980 im Neuen Deutschland nicht veröffentlichten Brief hervorgeht, in dem Sie über den „Stalinismus“ schreiben: „Die Willkür des Einzelnen wurde zur Massenwillkür“. Was halten Sie von der Politik der neuen Linkspartei und ihrer Vorgängerin, der PDS, deren Mitglied Sie ja vermutlich sind/waren?
Gleich zwei Fragen in eins. Ich habe, sei eingefügt, nie „über den Stalinismus“ geschrieben; diese ‚Begriffe’ „Stalinismus“ (ein „ISMUS" für Verbrechen, eine nachträgliche Huldigung des Tyrannen) oder „Stalinist“ (Michael Glos titulierte Jürgen Trittin einen ‚Ökostalinisten’, neuerdings wurde Gordon Brown zum ‚Stalinisten’ gekürt, und jetzt hat sich den Ehrentitel „Wirtschaftsstalinist“ schon der Chef des Chemiekonzerns BASF verdient) gehören zu den abgenutzten, zum Überdruss entwerteten politischen Schlagworten, die jeder Grundlage entbehren. Aus der 200-jährigen Geschichte des Kommunismus haben ‚Eliten’ und ihre Schreiberlinge 25 Jahre Nicht-Kommunismus, den Stalinismus, herausgefiltert, um der verdutzten Nachwelt ihre Interpretation für - den selbstredend ‚schwarzen’, besser „bösen" – Kommunismus über zu stülpen.
Ich war „kritisch gegenüber...", bin bis heute „kritisch gegenüber…" geblieben, ich bin nämlich ein Karl-Marx-Schüler aus Berlin-Neukölln; da konnte man das von der Pike auf lernen. Sie „vermuten" logisch, dass ich der SED-PDS-Die Linke angehörte, angehöre, ohne den Karl-Marx-Schüler zu demontieren. Bei einigermaßen soliden Kenntnissen zur Geschichte der deutschen - und internationalen - Arbeiterbewegung und der deutschen Parteienlandschaft des vorigen Jahrhunderts fällt auf, dass wir bis heute vergleichbare Entwicklungen (Geschichte wiederholt sich nicht) zu Beliebigkeit, zur Anpassung, verbunden mit Hang zu Ministersesseln und Diäten - siehe Alexandre Millerand in Frankreich; allerdings 1905 aus der Sozialistischen Partei Frankreichs deswegen ausgeschlossen - vor etwa hundert Jahren schon einmal hatten, wobei es nicht eine dieser revisionistischen Fraktionen von ‚Neo-Theoretikern’ vermocht hat, die Vision ‚ihrer’ Zukunftsgesellschaft auch nur im Ansatz umzusetzen. Im Gegenteil, sie zogen mit fliegenden Fahnen - und ihren neuen ‚Erkenntnissen’ - in das Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Aus diesem Grunde bleibt es geraten, auch die Entwicklung Der Linken ‚kritisch’ zu begleiten und zu wählen. Bei meinen vielfältigen schriftlichen „Eingaben" - die stets in der Abteilung Agitation und Propaganda der SED landeten - wurde mir dort schließlich ‚zur persönlichen Betreuung’ ein ‚verantwortlicher Genosse’ zugeteilt. Er hieß Ulli, wir wurden mit der Zeit sogar Freunde.
Und wie kamen/kommen Sie mit der Politik der PDS bzw. inzwischen der neuen Linkspartei in den verschiedenen Regierungskoalitionen zurecht?
(Diese Frage beantwortete Walter Ruge so ausführlich, dass wir seine Ausführungen zu PDS und Linkspartei in der nächsten NRhZ-Ausgabe veröffentlichen werden. PK)
![](/flyer/media/11147/Ruge jung2.jpg)
Wahlplakat mit Walter Ruge, Berlin 1932
Alle Fotos aus: Treibeis am Jenissei
Sie scheinen nicht nur eine beneidenswerte Gesundheit zu haben, denn Professor Fritz Vilmar schreibt in seinem Vorwort, dass Sie ihn 2004 - also fast 90 Jahre alt per Fahrrad besucht hätten, über eine Strecke von „fast hundert Kilometern“. Und ihre „Lebens-Geschichten“ beweisen ein offenbar sagenhaftes Gedächtnis, da Sie ja z.B. in den Lagern wohl kaum Notizen machen konnten. Wie haben Sie das geschafft?
Sie lassen kleine Zweifel an der Authentizität des Textes durchblicken. In der Tat, ich habe ein schlechtes - kein sagenhaftes - Gedächtnis. Manchmal allerdings komme ich doch ins Grübeln: 1935 stürzte bei Moskau ein achtmotoriges Riesen-Agitations-Flugzeug (ANT 20) „Maxim Gorki“ ab, der Chefpilot hieß Michejew (Михеев) – wie können sich solche belanglosen Informationen erhalten? Sie ahnen nicht, dass es sich bei diesem Buch um einen Bruchteil dessen handelt, was ich tatsächlich erlebt und gesehen habe. Aus diesem erhalten Gebliebenen war außerdem noch eine Auswahl zu treffen – maximal 400 Seiten sollten es sein. Natürlich ging es dabei weniger um ‚Sensationelles’, Exzentrisches; meine Wahl suchte nach den landes- und russlandtypischen Erlebnissen, über die man vor allem das Land und die Menschen näher kennenlernt, vielleicht sogar die Frage beantwortet, warum es mich immer wieder dort hinzieht (in fünf Tagen starte ich an den Baikal See).
Es soll nicht verschwiegen werden, dass es auch Gedächtnisstützen gab - so habe ich viel später meine Strafakte Nr. 8403 eingesehen, es sind viele, wertvolle Briefe aus jenen Jahren (zum Beispiel vom Jenissei an meine Mutter in Potsdam oder Briefe meiner Frau, Aufzeichnungen von Mithäftlingen) erhalten geblieben. Manchmal erschrecke ich selbst, dass ich über weite Strecken, also mitunter über Jahre, einen black out anmelden muss, mich an nichts erinnern kann. Andere Szenen (z.B. das Verhör, wo ich ja nicht geschlagen wurde) sind – das kann jeder verstehen - wie mit einem Brandsiegel, übel riechend, schwarz eingebrannt; das sind Dinge, die man einfach nicht vergessen kann.
Ich glaube, dass sich Erlebnisse besser konserviert haben, wenn sie eine intellektuelle oder emotionelle Komponente hatten, während andere - zum Beispiel der fürchterliche Frost, gefolgt von dem Antipoden Wärme - mit der Zeit eher verblassen. Hinzu kommt natürlich – kaum zu übersehen -, dass ich mich ständig dieser Zwittergestalt aus Tragik, Groteske und Komischem gegenüber sah, was ebenfalls das Gedächtnis aktivierte - bisweilen hat es sogar noch zu kleinen Grübchen gereicht. Nun, einigermaßen ‚fit’ bin ich tatsächlich ‚noch’, der Senior unter den hiesigen Radfahrern - habe sogar eine ‚Protokollstrecke’ nach Saarmund - und Schwimmern; man kann sicher selbst viel zu seinem Befinden beitragen - ein Grund, warum ich keinen Internetanschluss habe; die Zeit brauche ich für diese labenden Fitnessausflüge. (PK)
Die Rezension von „Treibeis am Jenissei“ finden Sie in dieser Ausgabe. Die Fortsetzung des Interviews mit Walter Ruges Einschätzung von PDS und der neuen Linkspartei finden Sie in der nächsten NRhZ.
Eine Gruppe von StudentInnen der Filmakademie Baden-Württemberg hat mit Walter Ruge 2006 einen Dokumentarfilm am Jenissei gemacht. Sein Titel: „Über die Schwelle“.
Online-Flyer Nr. 103 vom 11.07.2007
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Inland
Interview mit Walter Ruge – Autor von „Treibeis am Jenissei“
„Wenn man einmal wirklich links' war…“
Von Peter Kleinert
Peter Kleinert: Sie wurden als Schüler in der Weimarer Republik Kommunist, mussten 1933 nach Moskau emigrieren, wurden dort unter Stalin 1941 als „Konterrevolutionär“ verhaftet, zunächst in der Ljubjanka, dann in Omsk eingesperrt und 1942 zu zehn Jahren Gulag-Haft in Sibirien verurteilt, waren bis 1955 in der Verbannung, dann – inzwischen mit Ihrer Frau Irina verheiratet und rehabilitiert – wieder einige Jahre in Moskau und fanden 1958, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, eine „neue Heimat“ als SED-Genosse in der DDR. Auch heute nach dem Anschluss sind Sie weiter – inzwischen in der LINKS-Partei und 92 Jahre alt – politisch aktiv und lieben Russland und seine Menschen. Wie ist das bei dieser Biografie möglich?
Walter Ruge: Zunächst: „… wieder einige Jahre in Moskau“ ist nicht ganz korrekt, wir waren mit meiner Frau Irina, nachdem uns die sowjetische Freizügigkeit im Ural zurückgegeben wurde, immer wieder kurzfristig bei Freunden (meistens ehemaligen ‚Kollegen’-Häftlingen), und 1958 im Transit Richtung DDR in Moskau. Es ist durchaus „möglich“, bei dieser Biografie weiter politisch aktiv zu sein und Russland zu lieben. Wenn man einmal wirklich ‚links’ war – man bleibt es dann immer. Entscheidend wurde dabei, das ursprüngliche ‚Weltbild’ zu erhalten bzw. zu bereinigen.
![](/flyer/media/11147/Ruge Treibeis.jpg)
Walter Ruge 1952 im Treibeis am Jenissei
Wenn man - im langjährigen Austausch mit Gleichgesinnten - еrkannt hat, dass der weise Stalin eine über Jahre währende Degeneration, eine zielstrebige Entartung (перерождение) des Sozialismus betrieben hat, fängt man gezwungenermaßen an, nach dem Urgestein zu suchen (was übrigens der von Ihnen erwähnten neuen Linken nicht auffällig am Herzen liegt), den stalinschen Müll und das Blut abzukratzen. Nicht ganz zufällig habe ich sofort nach meiner Haftentlassung in der sozialistischen Bildungsstätte (парткабинет) in Ermakowo begonnen, gründlich Klassiker des Marxismus zu studieren. Seinen Weg zur persönlichen Allmacht hat der Dschugaschwilli mit den Kadavern Hunderttausender gestandener Revolutionäre gepflastert - dazu gehörten fast komplett die leninsche Garde (inklusive des Schweizer Sozialisten Fritz Platten, der Lenin im plombierten Waggon durch Deutschland begleitete), die bolschewistischen Illegalen, die Partisanen, die Kämpfer des Bürgerkrieges und die roten Matrosen.
Zwar hatte der Koryphäe im Mai 1936 laut verkündet: „Die Kader entscheiden alles“, aber gehandelt hat er - als Negation dieses Leitsatzes - beginnend mit der Ermordung von S. M. Kirov am 1. Dezember 1934, hat die Kader ausgemerzt - das Jahr 1937 war eine regelrechte Blutorgie -, die seinem Thermidor im Wege standen. Ohne diese Creme der Revolution im Verbund mit der zutiefst antimonarchistischen Intelligenzia war das Erbe des Oktobers unwiederbringlich verloren und der Weg zu einer de facto Restauration des ancien regimes frei. An endlosen Beispielen lässt sich bis ins Detail nachweisen (lebenslängliche Verbannungen, ‚Modernisierung’ und Umbenennung der Roten Armee, Koedukation, Abtreibungsverbot, Verhältnis zur russisch-orthodoxen Geistlichkeit etc), dass wir in der Sowjetunion, beginnend mit etwa 1935, zielstrebig zu überwunden geglaubten zaristischen Verhältnissen zurückgekehrt sind.
Diese langsam herangereiften Erkenntnisse ermöglichten es mir - wie mit einem Skalpell - den Leib von diesem todbringenden Tumor zu befreien ... und wieder „politisch aktiv“ zu werden. Der Gedanke fasste wieder Fuß, dass die Lösung aller - ich betone aller, Klima, Arbeitslosigkeit, Migration, Ressourcen, Kriege, AIDS, etc. etc. – Menschheitsprobleme nur dann überhaupt möglich ist, wenn Gemeinwohl konsequent vor Eigennutz rangiert. Die laufenden heuchlerischen, verbalen Statements von Politikern aller Couleur ändern daran nichts.
Der zweite Aspekt ist nicht unwichtig: Ich bin in diesem sowjetisch/russischen Land zutiefst ganz persönlich verankert, liebe seine Musik, seine Literatur, seine Malerei, seine Weiten, seine Gebirge, Wälder und Flüsse. Hinzu kommt – nicht ganz unwichtig – eine russische Frau mit einem ganzen Rattenschwanz von Verwandtschaft, davon zwei im Krieg Gefallenen, vier, die die deutsch-faschistische Blockade von Leningrad überlebt haben (vier weitere sind dort verhungert), die mich bis heute wie einen Bruder behandelt. Bis heute habe ich unzählige treue Freunde in allen Ecken der ehemaligen Sowjetunion – viele davon Offiziere der „Besatzungsmacht", deren Töchter in der DDR geboren wurden. Zu den Streitkräften der UdSSR in Potsdam hatte ich ein sehr enges Verhältnis, war „Ehrenpionier" der sowjetischen Schule in der Potsdamer Hegelallee. Der potenzielle „Einwand": Das war doch schon alles in der „entarteten" Sowjetunion, kann nur für die gültig sein, die nicht verstanden haben - oder partout nicht verstehen wollen –, dass der von ihnen kreierte „Stalinismus" mit dem Tode des Tyrannen unzweifelhaft eine völlig neue Qualität, ein anderes, ein hoffnungsvolles Gesicht erhalten hat. Doch ein wirkliches Skalpell hat es, das muss man zugeben, nie gegeben.
![](/flyer/media/11147/Ruge 2.jpg)
Walter Ruge bei den Filmarbeiten zu "Über die Schwelle" im Jahr 2006
www.ueberdieschwelle.de
Ihr Buch „Treibeis am Jenissei“ ist zunächst - in Teilen - in Frankreich erschienen, erst 2006 in deutscher Sprache. Waren Sie der Auffassung, dass diese „Lebens-Geschichten“ vom deutschen Publikum nicht gelesen werden würden?
Wenn Sie das Interview in der jW vom 7./8./9. April 2007 kennen, werden Sie bemerkt haben, dass es nicht zufällig mit meinem „tiefen Misstrauen zu Deutschland" beginnt. Daraus resultierte, dass ich eine Buchveröffentlichung im geliebten Frankreich mit Stolz, als eine endgültige, durch nichts zu übertreffende Erfüllung betrachtete. Vielleicht war die Aversion gegen den „deutschen Leser" schlechthin nicht so groß; eher gegen diese unverschämte, verlogene und das Wort im Munde umdrehende Canaille von deutscher Presse. Ich erinnere nur an Berti Vogts Überlegungen zu dem „Umgang" der „Medien" mit seiner Person: „Die haben mich einfach fertig gemacht!“.
Von meinen Texten war ich nicht so unbedingt überzeugt, hatte sie eher für meine Tochter Tatjana, meine Frau und einen engen Freundeskreis verfasst, bis eben diese reizende Französin Anne-Marie auftauchte, die mich überzeugte, wie „wertvoll" diese Manuskripte – für die Geschichte, für die Jugend – seien, und dass sie beabsichtige ein Buch daraus zu machen. Genauso verlief es mit der deutschen Ausgabe: Ich wurde von Freunden ‚überzeugt’ und bedaure es jetzt nicht, wenn ich, neben vielen Leserbriefen, allein an Ihre Reaktion denke. Es ist nichts Unehrenhaftes daran, sich selbst zu unterschätzen.
Wie ist Ihr Buch von der Literaturkritik in den französischen und deutschen Medien aufgenommen worden? Haben wir in den „demokratischen Staaten“ im Gegensatz zur Sowjetunion und der DDR eine „freie Presse“?
„Wir" haben keine „demokratischen Staaten“, schon gar keine „freie Presse“ – ausgenommen sicher solche kleineren Institutionen, wie z.B. www.nrhz.de. Presse, Medien sind endgültig zum großen Geschäft verludert, zum Mittel - eben „Medium" - mit dem die Welt, wenn auch nicht in zehn Tagen, nach ihrem Vor-Bild mit zunehmendem Erfolg verändert (globalisiert) wird. Den deutschen „Medien" konnte dieses Buch gar nicht in ihre Konzeption passen - sie entschieden „richtig": totschweigen. Die französischen Medien haben ja nicht diese animalische, US-amerikanische Abneigung gegen alles Kommunistische, sie waren in der Lage, Interesse für andere Biografien, anderes Leben, andere Länder und Sitten zu zeigen. Etwa zehn Zeitungen brachten Stimmen, völlig ohne Häme, zu meinem Buch; nicht unbedingt zustimmend, aber sachlich, mit einer gewissen Hochachtung für diesen alten Mann, „der uns am letzten Dienstag gegenüber saß". Es ging nicht ohne Kurioses; die Korrespondentin der Libération erwies sich als Russin, so führte sie das Gespräch genüsslich Russisch. In Paris war ich life auf zwei großen Fernsehkanälen, ein Kanal übergab mir noch im Studio eine Kassette mit der Aufzeichnung des Interviews. Auch in Radio France International kam ich zu Wort, wurde nicht in dieser alemannischen Art unflätig unterbrochen.
![](/flyer/media/11147/Ruge Defa.jpg)
Als sowjetischer Kulturoffizier im DEFA-Film „Mama ich lebe“,
Regie Konrad Wolf 1976
Sie waren kritisch gegenüber manchem in der Politik der UdSSR und der DDR, wie aus einem 1980 im Neuen Deutschland nicht veröffentlichten Brief hervorgeht, in dem Sie über den „Stalinismus“ schreiben: „Die Willkür des Einzelnen wurde zur Massenwillkür“. Was halten Sie von der Politik der neuen Linkspartei und ihrer Vorgängerin, der PDS, deren Mitglied Sie ja vermutlich sind/waren?
Gleich zwei Fragen in eins. Ich habe, sei eingefügt, nie „über den Stalinismus“ geschrieben; diese ‚Begriffe’ „Stalinismus“ (ein „ISMUS" für Verbrechen, eine nachträgliche Huldigung des Tyrannen) oder „Stalinist“ (Michael Glos titulierte Jürgen Trittin einen ‚Ökostalinisten’, neuerdings wurde Gordon Brown zum ‚Stalinisten’ gekürt, und jetzt hat sich den Ehrentitel „Wirtschaftsstalinist“ schon der Chef des Chemiekonzerns BASF verdient) gehören zu den abgenutzten, zum Überdruss entwerteten politischen Schlagworten, die jeder Grundlage entbehren. Aus der 200-jährigen Geschichte des Kommunismus haben ‚Eliten’ und ihre Schreiberlinge 25 Jahre Nicht-Kommunismus, den Stalinismus, herausgefiltert, um der verdutzten Nachwelt ihre Interpretation für - den selbstredend ‚schwarzen’, besser „bösen" – Kommunismus über zu stülpen.
Ich war „kritisch gegenüber...", bin bis heute „kritisch gegenüber…" geblieben, ich bin nämlich ein Karl-Marx-Schüler aus Berlin-Neukölln; da konnte man das von der Pike auf lernen. Sie „vermuten" logisch, dass ich der SED-PDS-Die Linke angehörte, angehöre, ohne den Karl-Marx-Schüler zu demontieren. Bei einigermaßen soliden Kenntnissen zur Geschichte der deutschen - und internationalen - Arbeiterbewegung und der deutschen Parteienlandschaft des vorigen Jahrhunderts fällt auf, dass wir bis heute vergleichbare Entwicklungen (Geschichte wiederholt sich nicht) zu Beliebigkeit, zur Anpassung, verbunden mit Hang zu Ministersesseln und Diäten - siehe Alexandre Millerand in Frankreich; allerdings 1905 aus der Sozialistischen Partei Frankreichs deswegen ausgeschlossen - vor etwa hundert Jahren schon einmal hatten, wobei es nicht eine dieser revisionistischen Fraktionen von ‚Neo-Theoretikern’ vermocht hat, die Vision ‚ihrer’ Zukunftsgesellschaft auch nur im Ansatz umzusetzen. Im Gegenteil, sie zogen mit fliegenden Fahnen - und ihren neuen ‚Erkenntnissen’ - in das Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Aus diesem Grunde bleibt es geraten, auch die Entwicklung Der Linken ‚kritisch’ zu begleiten und zu wählen. Bei meinen vielfältigen schriftlichen „Eingaben" - die stets in der Abteilung Agitation und Propaganda der SED landeten - wurde mir dort schließlich ‚zur persönlichen Betreuung’ ein ‚verantwortlicher Genosse’ zugeteilt. Er hieß Ulli, wir wurden mit der Zeit sogar Freunde.
Und wie kamen/kommen Sie mit der Politik der PDS bzw. inzwischen der neuen Linkspartei in den verschiedenen Regierungskoalitionen zurecht?
(Diese Frage beantwortete Walter Ruge so ausführlich, dass wir seine Ausführungen zu PDS und Linkspartei in der nächsten NRhZ-Ausgabe veröffentlichen werden. PK)
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Wahlplakat mit Walter Ruge, Berlin 1932
Alle Fotos aus: Treibeis am Jenissei
Sie scheinen nicht nur eine beneidenswerte Gesundheit zu haben, denn Professor Fritz Vilmar schreibt in seinem Vorwort, dass Sie ihn 2004 - also fast 90 Jahre alt per Fahrrad besucht hätten, über eine Strecke von „fast hundert Kilometern“. Und ihre „Lebens-Geschichten“ beweisen ein offenbar sagenhaftes Gedächtnis, da Sie ja z.B. in den Lagern wohl kaum Notizen machen konnten. Wie haben Sie das geschafft?
Sie lassen kleine Zweifel an der Authentizität des Textes durchblicken. In der Tat, ich habe ein schlechtes - kein sagenhaftes - Gedächtnis. Manchmal allerdings komme ich doch ins Grübeln: 1935 stürzte bei Moskau ein achtmotoriges Riesen-Agitations-Flugzeug (ANT 20) „Maxim Gorki“ ab, der Chefpilot hieß Michejew (Михеев) – wie können sich solche belanglosen Informationen erhalten? Sie ahnen nicht, dass es sich bei diesem Buch um einen Bruchteil dessen handelt, was ich tatsächlich erlebt und gesehen habe. Aus diesem erhalten Gebliebenen war außerdem noch eine Auswahl zu treffen – maximal 400 Seiten sollten es sein. Natürlich ging es dabei weniger um ‚Sensationelles’, Exzentrisches; meine Wahl suchte nach den landes- und russlandtypischen Erlebnissen, über die man vor allem das Land und die Menschen näher kennenlernt, vielleicht sogar die Frage beantwortet, warum es mich immer wieder dort hinzieht (in fünf Tagen starte ich an den Baikal See).
Es soll nicht verschwiegen werden, dass es auch Gedächtnisstützen gab - so habe ich viel später meine Strafakte Nr. 8403 eingesehen, es sind viele, wertvolle Briefe aus jenen Jahren (zum Beispiel vom Jenissei an meine Mutter in Potsdam oder Briefe meiner Frau, Aufzeichnungen von Mithäftlingen) erhalten geblieben. Manchmal erschrecke ich selbst, dass ich über weite Strecken, also mitunter über Jahre, einen black out anmelden muss, mich an nichts erinnern kann. Andere Szenen (z.B. das Verhör, wo ich ja nicht geschlagen wurde) sind – das kann jeder verstehen - wie mit einem Brandsiegel, übel riechend, schwarz eingebrannt; das sind Dinge, die man einfach nicht vergessen kann.
Ich glaube, dass sich Erlebnisse besser konserviert haben, wenn sie eine intellektuelle oder emotionelle Komponente hatten, während andere - zum Beispiel der fürchterliche Frost, gefolgt von dem Antipoden Wärme - mit der Zeit eher verblassen. Hinzu kommt natürlich – kaum zu übersehen -, dass ich mich ständig dieser Zwittergestalt aus Tragik, Groteske und Komischem gegenüber sah, was ebenfalls das Gedächtnis aktivierte - bisweilen hat es sogar noch zu kleinen Grübchen gereicht. Nun, einigermaßen ‚fit’ bin ich tatsächlich ‚noch’, der Senior unter den hiesigen Radfahrern - habe sogar eine ‚Protokollstrecke’ nach Saarmund - und Schwimmern; man kann sicher selbst viel zu seinem Befinden beitragen - ein Grund, warum ich keinen Internetanschluss habe; die Zeit brauche ich für diese labenden Fitnessausflüge. (PK)
Die Rezension von „Treibeis am Jenissei“ finden Sie in dieser Ausgabe. Die Fortsetzung des Interviews mit Walter Ruges Einschätzung von PDS und der neuen Linkspartei finden Sie in der nächsten NRhZ.
Eine Gruppe von StudentInnen der Filmakademie Baden-Württemberg hat mit Walter Ruge 2006 einen Dokumentarfilm am Jenissei gemacht. Sein Titel: „Über die Schwelle“.
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