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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Worauf soll denn noch gewartet werden?
Gewerkschafter, handelt!
Von Eckart Spoo

Seit Jahren enden sozialpolitische Ossietzky-Artikel mit dem Refrain: Die
Erwerbsarbeitszeit muss kräftig verkürzt werden, und zwar auf nicht mehr
als sieben Stunden an nicht mehr als vier Tagen in der Woche, insgesamt also maximal 28 Stunden. Im vorigen Heft erwähnte Volker Bräutigam eine schon seit längerem vorliegende Studie, die angesichts des gegenwärtigen Standes der Produktivitätsentwicklung zu dem Ergebnis kommt, dass wir die 25-Stunden-Woche einführen müssen, um Vollbeschäftigung zu erreichen. 

Die Krise, die in der viel zu langen Arbeitszeit der einen und der Arbeits-
losigkeit der anderen eine ihrer Hauptursachen hat, bewirkt nun, dass der Ruf nach Arbeitszeitverkürzung aufgenommen und mehrstimmig verbreitet wird. Es kursieren Aufrufe für die 30-Stunden-Woche. Jetzt erreichte uns einer, der die 35-Stunden-Woche fordert. Es bewegt sich etwas. Auch sehr Ängstliche fassen ein bisschen Mut. Die Erkenntnis breitet sich aus, dass der technische Fortschritt nicht länger einseitig dem Kapital zugute kommen darf. Wenn die Produktivität ständig wächst, wenn also für die Produktion (auch für viele so genannte Dienstleistungen) immer weniger Arbeitskraft aufzuwenden ist, dann müssen wir es als töricht und inhuman begreifen, dass die individuelle Erwerbsarbeitszeit in den vergangenen Jahren sogar wieder verlängert worden ist: Der Gesetzgeber hat die Lebensarbeitszeit für Frauen und Behinderte um fünf Jahre verlängert und setzt jetzt das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre herauf; Feiertage und Arbeitspausen wurden gestrichen, Urlaub wird gekürzt, der Krankenstand durch Druck auf die Kranken gesenkt, und viele Unternehmer verlängern die Wochenaraeitszeit aufgrund tariflicher Öffnungsklauseln, die ihnen die Gewerkschaften zugestanden haben. Wer noch einen Arbeitsplatz hat, soll schuften bis zum Umfallen oder Durchdrehen, wer keinen mehr hat, soll sehen, wo er bleibt, oder seine Arbeitskraft zu immer noch schlechteren Bedingungen anbieten.  
 
Müssen wir uns da nicht sofort denen anschließen, die immerhin endlich
zu kleinen Schritten bereit sind? Vorsicht! Wie wir sie kennen, würden sie
während der Verhandlungen ihre Forderungen weiter reduzieren und am
Ende schon eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um zehn Minuten be-
jubeln. Selbst wenn sie ernsthaft vorhaben, zwei oder drei Jahre später ein nächstes Schrittchen zu gehen, kommen wir so nicht voran, weil ja die Produktivität weiter steigt. Die Massenarbeitslosigkeit bleibt. Vollbeschäftigung wird unerreichbar.
 

Zeit zum Handeln für Gewerkschafter – Demo in Berlin 2006

Die Massenarbeitslosigkeit ist (neben den Verblödungsmedien) die
stärkste Waffe des Kapitals, um die Lohnabhängigen gefügig zu machen.
Sie ist ein Mittel permanenter Erpressung: Wenn Ihr nicht klein beigebt und still haltet, bekommen andere Euren Arbeitsplatz, es gibt ja genug. Mit diesem Knüppel wird das Kapital die Abhängigen schlagen, solange es herrscht – es sei denn, sie erkämpften sich die Vollbeschäftigung. Dann wäre die Kapitalherrschaft entscheidend geschwächt. Weil das dem Kapital klar ist und es sich nicht entwaffnen lassen will, wird der Kampf hart sein – aber er ist notwendig.
 
Eine Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten würde vermutlich nicht
einmal zur Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte führen, eher zu mehr Be-
lastung, stärkerer Ausbeutung der Beschäftigten. Die Einführung der Vier-
Tage-Woche hingegen brächte unter anderem den großen Vorteil, dass
viele Arbeitsplätze, je nachdem wie lange sie besetzt sein müssen, mit zwei zwei (oder drei oder vier) einander ablösenden Arbeitskräften besetzt werden müssten.  
 
Manche braven Gewerkschafter, die, vom Basta-Kanzler eingeschüch-
tert, jahrelang das Wort Arbeitszeitverkürzung gar nicht mehr in den Mund
genommen haben, meinen jetzt, für ein Entgegenkommen der Unterneh-
mer den Verzicht auf einen Teil des Lohnes anbieten zu sollen. Gefährli-
cher Unsinn. Es fehlt nicht an Geld. Es gibt so viel davon, dass es jetzt in
der Krise vernichtet werden muss, weil die, die es besitzen, längst nichts
mehr damit anzufangen wissen. Durch Vollbeschäftigung aber entsteht
Kaufkraft, und es wird auch wieder viel mehr Geld in die Steuer- und Sozi-
alversicherungskassen fließen – die Verarmung von Renten-, Kranken-,
Pflege- und anderen Kassen war ja hauptsächlich eine Folge der Massenarbeitslosigkeit. Arbeitszeitverkürzung muss mit vollem Lohnausgleich einhergehen. Wenn die Beschäftigten eine Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten, die ihnen nichts brächte außer größerem Stress, auch noch selber finanzieren sollten, nachdem sie in den vergangenen Jahren schon schmerzhafte Reallohnverluste erlitten haben, werden sie sie vernünftigerweise ablehnen.



 
Bleibt der dringend notwendige Kampf um die Verteilung der Erwerbsar-
beit aus, dann drohen gerade jetzt in der Krise massenhafte Kurzarbeit,
noch mehr Arbeitslosigkeit, Verarmung breiterer Schichten, Rezession
mangels Nachfrage, noch mehr Pleiten, noch mehr Unsicherheit und Angst, noch mehr Krise.
 
Gewerkschafter, wann besinnt Ihr Euch auf das Notwendige? Die Autori-
tät des Kapitals ist geschwächt, zumal es, außer noch brutalerer Ausbeu-
tung, kein Konzept hat. Verschlaft die Situation nicht. Sonst wird sich Euer
Mitgliederschwund fortsetzen. Und der Eures Durchsetzungsvermögens.
Analysiert die Krise der 1920er, 1930er Jahre. Und handelt. (HDH)

Erstveröffentlichung in der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft  Ossietzky, Heft 5, vom 7. März 2009, http://www.ossietzky.net


Online-Flyer Nr. 192  vom 08.04.2009

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