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Der Fern-Seher – Folge 34
Tucholsky reloaded
Von Ekkes Frank

Vor zwei Tagen nachts um drei fiel mir ein, dass ich da mal eine Geschichte von Kurt Tucholsky gelesen habe, die mir eine bemerkenswerte Aktualität zu haben dünkte (deuchte?). Ich schaute gleich in meinem Bücherbord nach und fand nicht nur den Text überraschend schnell, sondern auch meinen Dünkel (mein Gedünke? Mein Gedeuch??) bestätigt. Weniger in der Figur des Protagonisten: „Ein älterer, aber leicht besoffener Herr“ (so Tucholskys Titel), der sich als „selbständjen Jemieseladen“ vorstellt; von alledem stimmt einzig und allein, dass ich etwas älter bin.

Kurt Tucholsky
Quelle: KAOS-Archiv
Nein, was so schön aktuell ist, sind viele Passagen in dem Text, zumal – und dadurch war ich auch darauf gekommen – in Zeiten wie diesen, wo in Deutschland sozusagen eine Wahl die nächste jagt. Ich versuche mal, mich in den selbständigen Herrn Gemüseladen hineinzuversetzen und zwar mit Blick auf die Europawahlen demnächst. „Ballinan“ werde ich allerdings nicht, diesen Dialekt beherrsche ich nicht; allenfalls zitiere ich Tucholsky im Original.
 
Erstaunlich: heuer, in diesem Jahr 2009, ist so vieles gar nicht so viel anders als im Entstehungsjahr jenes Textes, 1930, also vor fast 80 Jahren. Es sind Wahlen, und da scheint es angebracht, „man bißken rumhörn, wat die Leite so wählen dhun, man muß sich auf den Laufenden halten… es is eine patt… patriotische Flicht!“ Allerdings ist das heute viel leichter als damals, es gibt ja die ständigen Meinungsumfragen und Berichte und Talkshows, also muss man nicht mühsam umherziehen, von Wahlversammlung zu Kundgebung zu Parteitag, und man trinkt dann auch nicht zwangsläufig so viel wie der Jemieseladen es musste.

Der war damals zuerst „bei die Nazzenahlsosjalisten“ gewesen. Die gibt es heute nicht mehr, jedenfalls nicht unter diesem Namen. Deren Gedankengut (Gedanken? Gut?) allerdings gibt es noch, leiderleider, und viel zu viele Anhänger auch. Ebenso das stramme Gebrüll. Und den Umgang mit Andersdenkenden: „Und da war ooch een Kommmenist, den ham se Redefreiheit jejehm. Ja. Wie sen nachher vabundn ham, war det linke Ohr wech.“
 
Ähnliches gilt, was der ältere Herr über die „Katholschen“ herausfand: „Wir sind bloß eine bescheidene katholische Minderheit (…) Und ob Sie wähln oder nich (…) desderwejn wird Deutschland doch von uns rejiert“. Richtig: die derzeitige Regierungschefin ist gläubigste Protestantin. Aber sie ist CDU, und außerdem ist das im Grunde nicht so arg viel besser.
 
„Denn wak bei die Demokarten. Nee, also… ick hab se jesucht… durch janz Berlin hak se jesucht. ‚Jibbs denn hier keene Demokarten?’ frahr ick eenen. ‚Mensch!’ sacht der. ‚Du lebst wohl uffn Mond! Die hats doch nie jejehm! Und nu jippse iebahaupt nich mehr!“ Damals meinte Tucholsky damit die „Deutsche Staatspachtei“. Heute würde er vermutlich die FDP so beschreiben. Die Freien Demokraten haben ja bekanntlich (auch) kein Rezept gegen die derzeitige Weltkrise des Kapitalismus, welche sie vielmehr ganz energisch mit herbeigeführt haben durch ihre neoliberalen Kochrezepte; aber auch sie haben auf Wunsch für jeden Wähler und die eine oder andere Wählerin passende Angebote in ihrem umfassenden unwiderstehlichen Westerwellness-Politprogramm. Der selbständige Gemüseladen (mit Vornamen übrigens Anton) würde vermutlich so wie damals auch heute sagen: „Diß is eine kulante Pachtei, sahre ick Ihn! Ick werde die Leute wahrscheinlich wähln.“
 
Obwohl – da gibt es ja auch noch andere: „Denn wak bei de Sozis.“ Also ich muss zugeben: diese Partei hat wahrlich Tradition! Was Freund Anton damals erlebte, könnte sich heute fast genau so abspielen, in irgendeiner Ortsvereinsversammlung der SPD in Duisburg, Stuttgart-Feuerbach oder Frankfurt-Nord: „Währenddem dass die Leute schliefen, sahr ick zu ein Pachteigenossen, ick sahre: ‚Jenosse’, sahre ick, ‚woso wählst du eijentlich SPD -?’ Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! ‚Donnerwetter’, sacht er, ‚nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei’, sacht er, ‚aber warum de tick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht!“
 
So richtig passend für den Gemüseladen wären heute aber – damals gab es sie bekanntlich noch nicht – Bündnis90/DIE GRÜNEN. So was schon rein äußerlich Ökologisch-Modernes wie Claudia Roth oder Reinhard Bütikofer! So was unbeirrbar dem Frieden Dienendes wie Joschka Fischer und Angelika Behr! So was allein ihren Überzeugungen und Wahlankündigungen Verpflichtetes wie die Hamburger Grünen! Einen derart reich sortierten Laden mit Gemüse für jeden Geschmack findet kein Wähler und keine Wählerin ein zweites Mal…!

Was es heute ja auch nicht mehr gibt, sind die Kommunisten, als Partei von einiger Relevanz zumindest, sie leben allerdings weiter als schwerste Beschimpfung für alles, was einem nicht passt. DIE LINKE? Nun, so ganz klar ist immer noch nicht, was das denn ist. Schön, dass es sie gibt, vor allem auch in dieser Stärke, zumindest als Schreckgespenst für die anderen, etablierten Parteien. Was sie wirklich will, ist nicht so leicht zu beschreiben. Aber das kann andererseits doch kein Grund dafür sein, sie nicht zu wählen! Für Menschen zum Beispiel wie unseren Anton, den ich hiermit abschließend mit zwei weiteren Zitaten zu Wort kommen lassen möchte:
 
„Wat brauchst du Jrundsätze – wenn dun Apparat hast!... Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolution, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich…“

Und schließlich:
„Die Wahl is der Rummeplatz des kleinen Mannes! Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute Nacht-!“ 
 

Ekkes Frank 
Quelle: NRhZ-Archiv 
Ekkes Frank, Kabarettist, Singersongwriter, Hörspiel- und TV-Autor, seit mehr als 30 Jahren parteiunabhängiger Kommentator der politischen und sozialen Zustände, lebt in Italien:
„Ich habe keinen Fernseher – ich bin ein Fern-Seher. Ich betrachte das Land, in dem ich geboren, erzogen und zu dem wurde, der ich bin, nicht mehr von innen, als Mit-Erlebender, Mit-Leidender, Mit-Kämpfer. Ich bin weg. Aus der Ferne betrachtet – dabei ist Italien in den Zeiten von Internet und Ryanair gar nicht mehr so fern – wirkt diese BRD ziemlich klein, viel unwichtiger als sie selbst sich gern sieht („Wir sind wieder wer“). Eben wie ein normales europäisches Land. Manchmal kriege ich dann etwas mit, das mich zu einer Reaktion motiviert. Und manchmal reise ich auch noch nach Norden, nach Germania. Und ich schalte, irgendwie gewohnheitsmäßig, das noch immer dort herumstehende TV-Gerät ein. Dann bin ich sozusagen ein totaler Fern-Seher…“ (PK) 

Online-Flyer Nr. 200  vom 03.06.2009

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