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Netanjahu hat einen besonderen Regierungsstil erfunden (oder angenommen)
Die Panikmacher
Von Uri Avnery
Am Jahrestag von Ben Gurions Todestag, dem 1. Dezember, wurde eine Gedenkfeier an seinem Grab in Sde Boker abgehalten, in dem Dorf in der Negevwüste, wo er in seinem Ruhestand lebte. Es gibt dort keinen Friedhof – nur sein Grab und das seiner Frau Paula. Die Zeitungen veröffentlichten ein Bild von Binjamin Netanjahu, wie er unter einem großen Foto des verstorbenen Führers eine Rede hält und gedankenvoll in die Ferne schaut. Ein kleines Detail auf diesem Bild zog meine Aufmerksamkeit auf sich: Netanjahu trug eine Kippa.
Kippa auch für Obama - Geschenk der
"Bewegung junger Israelis" in den USA zu
seinem Wahlsieg
Online-Flyer Nr. 332 vom 14.12.2011
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Glossen
Netanjahu hat einen besonderen Regierungsstil erfunden (oder angenommen)
Die Panikmacher
Von Uri Avnery
Am Jahrestag von Ben Gurions Todestag, dem 1. Dezember, wurde eine Gedenkfeier an seinem Grab in Sde Boker abgehalten, in dem Dorf in der Negevwüste, wo er in seinem Ruhestand lebte. Es gibt dort keinen Friedhof – nur sein Grab und das seiner Frau Paula. Die Zeitungen veröffentlichten ein Bild von Binjamin Netanjahu, wie er unter einem großen Foto des verstorbenen Führers eine Rede hält und gedankenvoll in die Ferne schaut. Ein kleines Detail auf diesem Bild zog meine Aufmerksamkeit auf sich: Netanjahu trug eine Kippa.
Kippa auch für Obama - Geschenk der
"Bewegung junger Israelis" in den USA zu
seinem Wahlsieg
Warum? Ben Gurion war ein überzeugter Atheist. Er weigerte sich, eine Kippa zu tragen, nicht einmal bei Beerdigungen. (Obwohl ich selbst ein überzeugter Atheist bin, trage ich zuweilen bei Beerdigungen aus Rücksicht auf die Gefühle anderer eine Kippa.) Dieser Ort war aber weder eine Synagoge noch ein Friedhof. Weshalb – um Himmels willen – trägt dieser Mann eine schwarze Kippe auf seinem Kopf? Für mich ist dies ein Zeichen dafür, was ich die Re-Judaisierung Israels nenne.
ZIONIMUS war u.a. eine Revolte gegen die orthodoxe jüdische Religion, die mit der Diaspora verbunden war und die Zionisten verächtlich „Galut“ (Exil) nannten. All die Gründerväter des Zionismus – Theodor Herzl, Max Nordau, Chaim Weizmann, Ze’ev Jabotinky und der Rest – waren überzeugte Atheisten.
Weshalb gab Ben Gurion den Religiösen aber doch zwei autonome Bildungssysteme, die vom Staat finanziert werden? Warum stellte er Schüler aus religiösen Seminaren („Yeshivot“) vom Militärdienst frei?
Leute in meinem Alter können sich an die Situation damals erinnern. Ben Gurion, wie alle von uns, glaubte, dass die jüdische Religion dabei sei, auszusterben. Einige alte Leute, die Jiddisch sprachen, beteten noch in den Synagogen, aber mit der Zeit würden sie verschwinden. Wir die jungen, neuen Israelis waren säkular, modern, frei von diesem alten Aberglauben.
Nicht in seinen dunkelsten Alpträumen ( oder Tagträumen) hätte sich Ben-Gurion eine Zeit vorstellen können, in der religiöse Schüler, von denen einige in ihren Schulen nicht die grundlegendsten, modernen Fähigkeiten erlernen, etwa die Hälfte der israelisch-jüdischen Schüler darstellen. Oder dass die Anzahl religiöser Drückeberger der Armee mehrere Divisionen vorenthält.
Nach und nach übernimmt die religiöse Gemeinde den Staat. Die religiösen Siedler, die religiösen, anti-arabischen Pogromisten, ihre Verbündeten und ultra-rechten Kollaborateure gewinnen täglich mehr Positionen. Die Armee hat gerade jetzt veröffentlicht, dass 40% in den Kursen für Offiziers-Kandidaten eine Kippa tragen. Als 1948 unsere Armee entstand, sah ich keinen einzigen Kippa tragenden Soldaten, geschweige denn einen solchen Offizier. Aber die Gefahr der Re-Judaisierung geht weit über die politische Sphäre hinaus.
LASSEN SIE mich eine Metapher aus der Natur übernehmen.
Das Wichtigste in der Natur ist das Überleben. Es gibt da viele verschiedene Strategien des Überlebens, und die Natur duldet sie alle – so weit sie erfolgreich sind. Die Gazelle überlebt durch Wegspringen. Wenn sie in Gefahr ist, flieht sie. Sie ist sehr erfolgreich. Tatsache: Die Gazellen haben überlebt. Der Löwe hat durch Kämpfen überlebt. Wenn er in Gefahr ist, greift er an. Dies hängt von seinen Zähnen und Krallen ab. Tatsache: die Löwen haben überlebt. Juden haben durch Fliehen überlebt. Sie waren darin sehr erfolgreich. Nach Tausenden von Jahren grausamster Verfolgungen, Pogrome und des Holocaust sind sie noch da. Ihre Zerstreuung in der Welt förderte diese Überlebenstaktik. Bei der kleinsten Gefahr flohen sie von einem Land ins andere.
Juden haben keine Taj Mahals oder majestätische Kathedralen gebaut. Ihre Schätze sind heilige Texte, Literatur und Musik – Dinge, die man im Kopf behalten und mitnehmen kann, wenn man auf der Flucht ist.
Wie einige Tiere in der Natur spüren Juden die geringste Gefahr von weitem. Es ist wie ein rotes Licht, das in ihrem Kopf aufleuchtet. Es geht an, wenn noch niemand anderes die Bedrohung spürt. (Tatsächlich würde ich heute nicht mehr leben, wenn mein Vater nicht vom ersten Tag des Naziregimes die Gefahr gespürt hätte und sich mit seiner Familie auf die Flucht begeben hätte, während er von fast allen um uns herum gescholten wurde.)
Der Zionismus wollte die Gazelle in einen Löwen verwandeln. Er sagte: nicht mehr fortlaufen. Wenn wir in Gefahr sind, werden wir kämpfen. Es ist nicht mehr der feige Jude der antisemitischen Karikatur. Ab jetzt ist es der heldenhafte Israeli, aufrecht und stolz. Und es scheint menschlich zu sein: wir überkompensieren die Vergangenheit. Wir sind aggressiv, militaristisch, ja, sogar brutal geworden. Die Unterdrückten wurden die Unterdrücker. Juden pflegten zu sagen: „Wenn es nicht mit Gewalt geht, dann versuch es mit dem Gehirn.“ Israelis sagen: „Wenn es nicht mit Gewalt geht, versuche es mit mehr Gewalt.“ (Ich muss gestehen, dass ich diesen Satz vor vielen Jahren als Scherz geprägt habe. Leider ist es kein Scherz mehr.)
DOCH IN letzter Zeit scheint es mir, als ob der alte Jude nicht verschwunden sei. Er hat sich nur innerhalb des Israeli versteckt. Er ist mit seinem kleinen roten Licht noch immer da. Wie fand ich das heraus? Indem ich nur Binjamin Netanjahu mit oder ohne Kippa zuhöre.
Netanjahu hat einen besonderen Regierungsstil erfunden (oder angenommen): Er spielt mit der Angst der Leute. Seitdem er an die Macht zurückkam, behandelt er uns mit einer endlosen Reihe von Ängsten. Panikmache ist die Regel des Tages – eines jeden Tages.
Zu Beginn war es Barack Hussein Obama, der uns zu bestrafen drohte, wenn wir nicht unser heiliges Recht aufgäben, Siedlungen überall im Land zu bauen, das uns Gott persönlich verheißen hat. Leider kapitulierte Obama sehr schnell, also wurde eine neue Bedrohung benötigt. Kein Problem. Mahmoud Abbas, gestern noch ein „gerupftes Hühnchen“, verwandelte sich in einen brüllenden Tiger und bat die UN, den Staat Palästina als Mitglied aufzunehmen. Wie jeder weiß, ist das eine tödliche Bedrohung für Israel. Sie wurde nur durch Obamas (ja, desselben Hussein Obamas) Versprechen, sein Veto zu Gunsten Israels einzusetzen, abgewandt. Aber die Palästinenser sind trotzdem von der UNESCO akzeptiert worden – also ist die schreckliche Gefahr noch nicht gebannt.
Dann kam der Arabische Frühling. Netanjahu war es vom ersten Moment an klar – sogar noch bevor der große und ruhmreiche Freund Mubarak in den Glaskäfig gesteckt wurde – dass dies eine tödliche Gefahr darstellt. Nun ist es unheimlicher Weise bestätigt worden: der Islam, der gefährliche Islam wird Ägypten übernehmen.
Wie uns Netanjahu bei jeder Gelegenheit erzählt, ist der Islam eine mörderische, antijüdische Religion. Es gibt keine moderaten Islamisten – sie sind alle darauf aus, uns ins Meer zu werfen. Sogar unsere frühere Verbündete, die Türkei.
Und sie gewinnen nicht nur in Ägypten. Diese schrecklichen Islamisten haben schon in Marokko und Tunis gewonnen und sind dabei, auch in Libyen, Jordanien, Jemen, Syrien zu gewinnen. Unsere „Villa“ ist nicht mehr nur von einem Dschungel umgeben, sondern von einem Dschungel voll gefährlicher islamistischer Raubtiere. Wie entsetzlich!.
Dann wurde gerade zur rechten Zeit eine andere schreckliche Gefahr aufgedeckt: die Menschenrechtsorganisationen bedrohen die bloße Existenz Israels. Sie sind Teil einer weltweiten antisemitischen Verschwörung. Fakt: sie werden von ausländischen Regierungen finanziert. Ein neues Gesetz musste in Eile gegen sie verabschiedet werden. Zum Glück wurden vor kurzem solche Gesetze in einigen früheren sowjetischen Ländern verabschiedet. So erhielt unser moldawischer Außenminister (oder eher unser Außenminister aus Moldawien) Avigdor Lieberman den Text von seinem großen Freund Alexander Lukaschenko, dem vorbildlichen Demokraten aus Weißrussland, und dem andern bekannten Demokraten Vladimir Putin.
All diese großen Gefahren reichten aus, um das plötzliche Auftauchen des sozialen Protestes auszulöschen, aber sie sind nichts, verglichen mit der schrecklichen, überwältigenden Gefahr: die iranische Bombe. Die iranische Atombombe bedeutet einen zweiten Holocaust, nichts weniger. Nur die starke Führung von Binjamin Netanjahu kann uns gerade noch rechtzeitig davor retten.
Gegenüber solch einer schrecklichen Gefahr stellt keiner die relevante Frage: warum sollte ein iranischer Führer ein Land angreifen, das selbst eine Menge Atombomben besitzt und die Fähigkeit hat, bei einem „zweiten Schlag“ den ganzen Iran zu zerstören. Die deutsche Regierung liefert uns gerade ein sechstes U-Boot genau für diesen Zweck.
Die iranischen Führer mögen ja religiöse Fanatiker sein. Aber auch wir haben eine Menge von diesen, und sie sind ein Teil unserer Regierungskoalition. Gerade jetzt ist das Land in einem Aufruhr, weil die Rabbiner verlangen, dass religiöse Soldaten jede militärische Feier verlassen sollen, wenn es weiblichen Soldaten erlaubt wird, dort zu singen. „Die Stimme einer Frau ist ihr sexueller Teil“, behauptet ein heiliger Text. Und ein prominenter Rabbiner hat gerade verkündet, dass ein religiöser Soldat eher einem Exekutionskommando gegenüberstehen sollte, als einer singenden Frau zuhören. (Ich habe das nicht erfunden.)
Aber der Iran beherrscht unsern öffentlichen Diskurs. All die roten Lichter blinken wie verrückt. Der Jude in uns ist tödlich erschrocken. Die Gazelle sagt: Lauf weg!. Der Löwe sagt: Greife an!
DIE BIBEL sagt uns im hebräischen Original: „Wohl dem, der sich immer fürchtet!“ (Spr.28,14) Aber ständige Angst ist ein schlechter Ratgeber, um Deine Angelegenheiten zu richten, um so mehr, wenn es sich um die Politik eines Staates handelt. Aber es mag gute Politik sein, wenn man sein eigenes Volk in Schach hält, während man die Demokratie, die Gleichheit und die Menschenrechte unterminiert.
Also lasst uns den Ghettojuden in uns befreien und wegschicken. Und wenn wir schon dabei sind, lasst uns die Panikmacher auch hinauswerfen. (PK)
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
Online-Flyer Nr. 332 vom 14.12.2011
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