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Kultur und Wissen
Berlin: antifaschistisch – queerfeministisch – antirassistisch – solidarisch
Transgenialer Glitzer beim CSD
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Während die Kommerzialisierung und „Karnevalisierung“ des Christopher Street Day (CSD) unaufhaltsam voranschreitet, dringen beim „transgenialen CSD“ in Berlin neben schrillen Glitzer-Farben und Fummeln ungewohnte Töne in die Restrepublik, die an den Ursprung des Christopher Street Day 1969 in New York erinnern. Dort nämlich entstand der provokative Straßenumzug als öffentlich unübersehbarer Protest gegen militante Polizeiübergriffe auf Lesben, Schwule und Transsexuelle. Im 15ten Jahr lautet das Motto der mit veranstaltenden AG Schwule in der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (SCHWARAB): „Brüder und Schwestern, ob warm oder nicht, Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht“.

 
Transgenialer CSD im Juni 2012 in Berlin
alle Fotos: arbeiterfotografie.com


Transgenialer CSD im Juni 2012 in Berlin


Transgenialer CSD im Juni 2012 in Berlin


Transgenialer CSD im Juni 2012 in Berlin


Transgenialer CSD im Juni 2012 in Berlin


Transgenialer CSD im Juni 2012 in Berlin

Tatsächlich bewirkt die Kommerzialisierung die Verkehrung des politischen Aufbegehrens und Protests ins Gegenteil. Zum offiziellen (bürgerlichen) CSD mit dem Motto „Wissen schafft Akzeptanz“ werben Industrie und Konzerne, die sich keinen Namen machen, wenn es um die Eindämmung von AIDS in Dritt-Welt-Ländern geht. So wünscht das „HIV-Team“ des Pharmakonzerns Abbot laut SCHWARAB den potentiell Infizierten einen „schönen CSD“. Und die Deutsche Lufthansa, die sich immer wieder als Abschiebe-Gehilfin einen Namen gemacht hat, zählt zum Sponsorenteam. Dabei sind insbesondere schwule, lesbische und transsexuelle MigrantInnen oft Opfer von Mehrfachdiskriminierung. Sie zählen eben nicht zu den potentiell Kaufkräftigen für ,,Weißen Lack – schwarzes Leder“, wie die Ford AG ihre Produkte im Hochglanz-CSD-Magazin bewirbt.

Frauenbefreiung und andere Leichen

Der transgeniale CSD distanziert sich von der trauten Gemeinsamkeit im ParteienEinheitsBrei: „Da wären wir auf dem bürgerlichen CSD, wo Schwule von CDU bis Linkspartei gemeinsame Sache machen, falsch gewesen“, bekräftigt Dirk Höffner im Interview mit Markus Bernhardt von der „jungen Welt“. Umringt von realen und potentiellen Kriegskameraden wie Großbritanniens Botschafter Simon McDonald und US-Botschafter Philip D. Murphy eröffnet die Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, mit Bürgermeister Klaus Wowereit den 34. offiziellen Berliner CSD. SCHWARAB positioniert sich deutlich gegen „Menschenrechtsimperialismus“. Der neue Faschismus, „das ist nicht mehr der Faschismus, der seine Taten unter Fahnen und Fanfaren, sondern seufzend vollbringt. Sozusagen widerwillig wendet er Gewalt an. Es tut ihm ja so leid, dass er brutal werden muss...“ (Martin Walser, 1971)


Missbrauch des CSD – wie 2010 in Köln


Missbrauch des CSD – wie 2010 in Köln
„Wir werden auch zukünftig nicht dulden, dass rassistische und bellizistische Organisationen... die Lesben- und Schwulenbewegung in politische Geiselhaft nehmen“ (aus dem Aufruf zum transgenialen CSD in Berlin 2012)

Die AG Schwule kritisiert es als unakzeptabel, wenn Kriege, „etwa der Angriffskrieg gegen Afghanistan mit der Befreiung der Frauen begründet“ werden. „Wir stehen auf der Seite der linken Transsexuellen, Lesben und Schwulen weltweit. Wir werden uns jedoch nicht am Menschenrechtsimperialismus von BRD, USA und EU beteiligen, die selbst mehr als genug Leichen im Keller haben.“ Dirk Höffner weiter im Interview mit der Tageszeitung „junge Welt“: „Israel etwa nutzt das Thema Homosexualität, um sich als einzige Demokratie im Nahen Osten zu inszenieren und von der Unterdrückung der Palästinenser abzulenken. Mittlerweile ist es jedoch so, dass nur noch wenige Menschen dieser Propaganda auf den Leim gehen. So gibt es in der Berliner Homobewegung einige linke, jüdische Lesben und Schwule, die sich gegen die staatliche Propagandamaschinerie Israels positionieren und wichtige Aufklärung leisten.“

„Öko-“, „Green-“ and „Pinkwashing“

„Nicht Du bist hässlich, sondern die Gesellschaft ist es“ und „Mehr Bildung für Rassisten!“ lauten die Parolen beim deutlich andersartigen, beim „transgenialen“ CSD, der im Sinne des 1969er New Yorker politischen Protests frech, frivol feiernd und selbstbewusst mit mehreren tausend Beteiligten zum 15ten Mal durch Berlins Straßen zieht. „Für ein queeres Jugendzentrum!“ lautet eine Forderung. Wie kann es denn sein, dass es ein solches in einer von einem „Community“-Bürgermeister regierten Stadt nicht lange schon gibt? Bigotterie, Heuchelei und Doppelmoral haben sich breit gemacht. Auch hier stellt SCHWARAB klar heraus, dass „der Paragraph 175, der männliche Homosexualität in der BRD unter (Haft)Strafe stellte und über Jahre in einer verschärften Nazi-Variante existierte, erst 1994 (!) und einzig aufgrund der Rechtsangleichung der beiden deutschen Staaten in der BRD abgeschafft“ wurde.

Total transgenial

Karneval ist der sanktionierte Ausbruch aus dem Gesellschaftskorsett, begrenzt und kontrolliert durch Autoritäten. Karneval ist das Gegenteil von dem, was eine gesellschaftliche Veränderung bewirkt. „Der diesjährige tCSD steht im Zeichen queerfeministischer Solidarität entgegen der faschistischen Kontinuitäten und Entwicklungen“, heißt es im Aufruf des Organisationsteams. Dabei bedeutet queer mehr als nur der adaptierte ehemalige Schimpfbegriff (seltsam, sonderbar, etc.) für Homo- und Anderssexuelle, er soll verstanden werden im Sinne von persönlicher Identität. „Auch und vor allem“ will „queer“ als „politisches Bewusstsein und Handeln“ verstanden werden. Die Frischfleisch-Abteilung der Bildzeitung hat mit dieser Identitätsbestimmung ebenso wenig zu tun wie die sexualisierte Gewalt im American Wrestling. „Wir werden auch zukünftig nicht dulden, dass rassistische und bellizistische Organisationen wie etwa der BAK Shalom in ihrer Funktion als deutsche Täterenkel und in deutscher Michel-Manier Jüdinnen und Juden vorzuschreiben versucht, wie sie zu denken und zu leben haben und die Nahostfrage für ihre rassistischen Ausfälle und Kriegstreiberei missbrauchen und dafür versuchen, die Lesben- und Schwulenbewegung in politische Geiselhaft zu nehmen. Derlei Organisationen sprechen nicht in unserem Namen!“, formuliert die AG Schwule in der Antifaschistischen Revolutionären Aktion in ihrem bemerkenswerten Aufruf, der dem religiösen Fanatismus der katholischen Kirche ebenso eine Absage erteilt wie den evangelikalen Fundamentalisten. Da „müssen wir nicht auf islamische Länder verweisen“, zumal in Deutschland die tatsächliche Trennung zwischen Kirche und Staat bestenfalls auf dem Papier bestehe. (PK)


Hinweise:

Website der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin
http://arab.blogsport.de/2012/06/23/23-juni-transgenialer-csd/#more-319

Dirk Höffner, Mitglied der »Arbeitsgemeinschaft Schwule« in der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (SCHWARAB), im jW-Interview mit Markus Bernhardt
http://www.jungewelt.de/2012/06-25/041.php

Weitere Fotos:
http://www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage-2012/index-2012-06-23-berlin-csd-transgeniale.html

Online-Flyer Nr. 363  vom 18.07.2012

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