NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 21. Dezember 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Frankfurts Adorno-Preis an die US-amerikanische Philosophin Judith Butler
„Unter gleichen Bedingungen zusammenzuleben“
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Am 11. September 2012 kam die US-amerikanische, 1956 geborene, an der Universität Berkeley Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft lehrende, 1990 mit „Gender Trouble“ (Das Unbehagen der Geschlechter) bekannt gewordene Philosophin Judith Butler in die Frankfurter Paulskirche, um den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt entgegenzunehmen. Damit vollzog sich, was die zionistische Israel-Lobby wegen Butlers Positionen zur Israel-Thematik bis zuletzt zu verhindern gesucht hatte. Vor dem Eingang der Paulskirche standen sich Befürworter und Gegner der Preisverleihung gegenüber – links die Befürworter, zumeist Persönlichkeiten aus dem Spektrum der kritischen Intelligenz – rechts die Gegner aus den Reihen der Israel-Lobby.


Judith Butler , US-amerikanische Philosophin
Alle Fotos: arbeiterfotografie.com


Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche


Demonstrative Zustimmung bei der Preisverleihung in der Paulskirche


Übergabe des Preises an Judith Butler durch Professor Dr. Felix Semmelroth, Kulturdezernent der Stadt Frankfurt am Main


Judith Butler dankt mit einer Rede zur Frage „Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?“


Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche


Zustimmung zur Verleihung des Preises an Judith Butler auch draußen vor der Paulskirche – Verleger Guiseppe Zambon – mit Vertretern der Israel-Lobby im Hintergrund


Die zionistische Israel-Lobby protestierte gegen die Preisverleihung


Der Frankfurter Schriftsteller Hartmut Barth-Engelbart rezitiert mit lauter, durchdringender Stimme einen Text von Judith Butler, in dem sie u.a. auf  die Boykott-Bewegung gegen Israels Verbrechen eingeht – die Israel-Lobby versucht dies durch Lärm unhörbar zu machen


Zu denen, die die Stimme Judith Butlers unhörbar machen wollen, gehört Sacha Stawski, Vorsitzender von Honestly Concerned, einer Facette der Israel-Lobby


Auch der Frankfurter Sänger Ernst Schwarz ist präsent, um den Verfechtern der kriminellen israelischen Politik entgegenzutreten

„Während meiner Einweisung ins Judentum habe ich auf Schritt und Tritt gelernt, dass es nicht hinnehmbar ist, im Angesicht von Ungerechtigkeiten zu schweigen. Das ist kein einfaches Gebot, weil es uns nicht genau vorgibt, wann und wie man sprechen soll. Es gibt uns nicht vor, wie man auf eine Weise sprechen soll, die nicht neue Ungerechtigkeiten verursacht. Und auch nicht, wie man sprechen soll, um auf die richtige Weise gehört und registriert zu werden. Meine tatsächliche Position wird von meinen Verleumdern nicht gehört, und vielleicht sollte mich das nicht überraschen, insofern ihre Taktik darin besteht, die Bedingungen der Hörbarkeit selbst zu zerstören.“

Gegen die Zerstörung von Diskurs und Demokratie

Das ist Teil eines Textes, den der Schriftsteller Hartmut Barth-Engelbart vor der Frankfurter Paulskirche rezitiert hat. Er stammt von Judith Butler. Und die auf der anderen, der rechten Seite des Eingangs stehenden Anhänger der zionistischen Israel-Lobby haben unmittelbar die Richtigkeit dieses Satzes bewiesen. Es geht ihnen darum, Kritik an den von Israel begangenen Verbrechen unhörbar zu machen. Als die laute, durchdringende Stimme von Hartmut Barth-Engelbart erschallt, versuchen sie, diese durch Lärm unhörbar zu machen. Es geht ihnen nicht darum, Argumente zu widerlegen, nein, es geht ihnen darum zu verhindern, dass Argumente überhaupt vorgetragen werden – um die Zerstörung eines Diskurses und damit um die Zerstörung von Demokratie. Menschen und Demokratie sollen zum Schweigen gebracht werden.

Judith Butler weiter in dem Text, den Hartmut Barth-Engelbart rezitiert: „Es ist falsch, absurd und schmerzlich, wenn irgendjemand behauptet, dass diejenigen, die Kritik am israelischen Staat üben, antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass seien. Man versucht, diejenigen, die eine kritische Auffassung vorbringen, zu dämonisieren und so ihre Sichtweise zu diskreditieren. Es handelt sich um eine Taktik, die darauf abzielt, Menschen zum Schweigen zu bringen: Was immer man sagt, es ist von vornherein abzulehnen oder so zu verdrehen, dass die Triftigkeit des Sprechakts geleugnet wird...“

Und: „Ich unterstütze die Kampagne 'Boycott, Divestment and Sanctions' [BDS] in einer sehr bestimmten Weise. Manche ihrer Erscheinungsformen lehne ich ab, andere befürworte ich... Ein Grund, warum ich BDS befürworte... besteht darin, dass BDS die größte gewaltfreie zivile politische Bewegung ist, die sich für die Gleichheit und die Selbstbestimmungsrechte der Palästinenser einsetzt...“

Und: „Meine Auffassung ist, dass Juden und Palästinenser einen Weg finden müssen, unter gleichen Bedingungen zusammenzuleben. Wie so viele andere sehne auch ich mich nach einem wirklich demokratischen Gemeinwesen in jenem Flecken Erde, und ich befürworte die Grundsätze der Selbstbestimmung und des Zusammenlebens für beide Völker...“

Warum Rassisten aufschreien

Damit ist klar, warum Rassisten aufschreien. Sie wollen kein gleichberechtigtes Zusammenleben in einem gemeinsamen, demokratischen Staat. Sie sehen sich als Herrenmenschen, die Menschen zweiter Klasse unterdrücken und letztlich aus dem Weg räumen wollen. Sie versuchen, wirkungsvolle Formen von Protest und Widerstand gegen rassistische Politik – wie es die BDS-Kampagne werden kann, wenn sie weltweit mehr Unterstützer finden würde – im Keim zu ersticken.

Ulrike Vestring von der Bonner Friedensinitiative FrauWegeNahost geht in einem an mehrere Zeitungen gerichteten Leserbrief dem gegen Judith Butler erhobenen Antisemitismus-Vorwurf nach und fragt: „Frau Judith Butler soll Antisemitin sein? In diese Ecke wollen prominente Mitglieder des Zentralrats der Juden sie schubsen. Der Vorwurf hat sie, wie sie selber sagt, schmerzlich getroffen. Schließlich hat sich die Philosophin intensiv mit Antisemitismus auseinandergesetzt. Das Ergebnis ihrer Überlegungen: 'Zu erklären, dass alle Juden eine bestimmte Meinung zu Israel haben oder angemessen von Israel vertreten werden, oder, umgekehrt, dass die Handlungen des Staates Israel allen Juden zuzurechnen sind – das zu behaupten hieße, die Juden mit Israel gleichzusetzen und damit eine antisemitische Verkürzung des Judentums zu begehen.' Niemand bezweifelt Deutschlands geschichtliche Verantwortung gegenüber den Juden. Berlin will ihr mit einer besonderen Israel-Politik gerecht werden. Kritik an Israels Regierungshandeln ist tabu. Wenn Israel sich als Staat für alle Juden der Welt versteht und der Zentralrat in Deutschland für alle hier lebenden Juden spricht und handelt, dann wird Unrecht des Staates Israel automatisch auch dem jüdischen Nachbarn angelastet. In diesem Sinne führt Deutschlands offizielle Haltung gegenüber Israel zu der von Judith Butler befürchteten antisemitischen Verkürzung des Judentums. Zu Antisemitismus. Indessen fühlen sich nicht alle Juden in Deutschland durch den Zentralrat vertreten. Israel ist nicht ihr Staat, sie wollen sich seine Handlungen – etwa das Unrecht gegen die Palästinenser oder die Kriegsdrohungen gegen Iran – nicht zurechnen lassen. Diese jüdischen Stimmen werden in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen.“

In der Frankfurter Rundschau vom 31. August 2012 ist Judith Butler in einem Artikel mit dem Titel "Fangen wir an, miteinander zu sprechen" wie folgt wiedergegeben: „Wir sollten uns also in aller Deutlichkeit vergegenwärtigen, wo überall Antisemitismus existiert, und gegen ihn mit allem Nachdruck vorgehen, ganz gleich, wo er in Erscheinung tritt. Ich weiß natürlich auch, dass es in Deutschland besondere Gründe gibt, Israel-Kritiker des Antisemitismus zu verdächtigen. Wenn wir Israel als eine Art heilige Stätte für all jene Juden begreifen, die aus Europa während des Zweiten Weltkriegs fliehen mussten, und nach dem Zweiten Weltkrieg für die Überlebenden der Konzentrationslager – dann erscheint jede Opposition gegenüber Israel so, als würde den Juden ihr Zufluchtsort genommen. Das wiederum bedeutete, dass sie erneut in ihrer Existenz angegriffen werden und von der Vernichtung bedroht sind. Dies ist eine sehr tief sitzende Überzeugung und einer der Gründe, warum die Israel-Kritik mit der möglichen Vernichtung der Juden gleichgesetzt wird oder mit Gleichgültigkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Genozid oder der Verletzbarkeit Israels gegenüber solchen Staaten wie dem Iran, die ihre Vernichtungsabsichten deutlich formuliert haben...“

Damit wird dem Iran unterstellt, Israel vernichten zu wollen. Irans Präsident Ahmadinedschad fordert aber nicht die Vernichtung eines Landes und seiner Bevölkerung, sondern – wie Judith Butler – das Ende eines unrechtmäßigen Zustands. So schleicht sich in einen Artikel, als dessen Autorin Judith Butler ausgewiesen ist, eine gravierende Falschbehauptung ein, die ein wesentliches Element bei der Schaffung eines Feindbildes darstellt. Es stellt sich die Frage, ob Judith Butler tatsächlich so formuliert hat. Ob ja oder nein: hier ist Judith Butler Opfer der Medien geworden. Entweder ist ihr die Formulierung per Falschübersetzung untergeschoben worden, oder sie hat sich die von den Medien tausendfach verbreitete Behauptung zueigen gemacht.

„Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?“

In der Frankfurter Paulskirche hat Judith Butler eine Dankesrede gehalten, in der sie einer wesentlichen Frage nachgeht: „Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?“ Und sie machte deutlich, dass die Situation, in der sich die Weltgesellschaft befindet, für große Teile der Menschheit kein würdiges Leben zulässt:

„Wir können die Bedingungen, unter denen Leben unlebbar wird, vielleicht nicht mit einem einzigen Begriff beschreiben; jedoch lässt sich mithilfe des Begriffs der Prekarität zwischen verschiedenen Modi der Unlebbarkeit unterscheiden: Menschen etwa, die ohne ordnungsgemäßen Prozess eingesperrt sind; diejenigen, die in Kriegsgebieten oder unter Besatzung leben und ohne Zuflucht und Ausweg der Gewalt und Zerstörung ausgesetzt sind; diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten und in Grauzonen leben, wo sie auf die Öffnung einer Grenze, auf Lebensmittel und auf die Aussicht der Legalisierung durch Papiere warten; entbehrliche oder austauschbare Arbeitskräfte, die kaum mehr Aussicht auf einen sicheren Lebensunterhalt haben und von Tag zu Tag mit einem zerbrochenen Zeithorizont und dem durchdringend schmerzlichen Gefühl einer zerstörten Zukunft leben müssen und sich um den Erhalt von Gefühlen bemühen, die sie doch zugleich fürchten. Wie kann man sich fragen, wie man sein Leben am besten führt, wenn man sich gar nicht mehr in der Lage fühlt, es zu führen, wenn man gar nicht mehr sicher ist, ob man überhaupt lebt oder wenn man nach dem Gefühl des Lebendigseins sucht, das man zugleich fürchtet, zusammen mit dem Schmerz, so leben zu müssen? Unter den heutigen Bedingungen der erzwungenen Abwanderung und des Neoliberalismus existieren riesige Bevölkerungsgruppen ohne das Gefühl einer sicheren Zukunft, einer stabilen politischen Zugehörigkeit, mit einem Gefühl des beschädigten Lebens.“

Judith Butler ist eine Menschenrechtlerin im eigentlichen Sinne des Wortes. Ihr geht es darum zu zeigen, „dass wir nicht für ein gutes, ein lebbares Leben kämpfen können, ohne den Bedürfnissen Rechnung zu tragen, die dem Körper seine Existenz sichern. Man muss verlangen, dass Körper haben, was sie zum Überleben brauchen, denn ihr Überleben ist die Vorbedingung für alle weiteren Forderungen. Dieses Verlangen erweist sich jedoch als unzureichend, denn wir überleben ja, um zu leben, und Leben, auch wenn es Überleben voraussetzt, muss mehr als bloßes Überleben sein, um lebbares Leben zu sein. Man kann überleben, ohne imstande zu sein, sein Leben zu führen. Und es gibt gewiss Situationen, in denen das Überleben dann nicht der Mühe wert ist. Die übergreifende Forderung muss demnach die nach einem lebbaren Leben sein, das heißt nach einem Leben, das gelebt werden kann.“

„Lebbares Leben“ und der 11. September

Judith Butler hat die Rede am 11. September 2012 gehalten, am elften Jahrestag der Operation 9/11. Es wäre wünschenswert gewesen, zumindest anzudeuten, dass dieses Verbrechen bis heute nicht aufgeklärt ist und ein ganz wesentliches Element zur Schaffung einer Welt darstellt, in der dem überwiegenden Teil der Menschen ein „lebbares Leben“ verwehrt wird – zum Zwecke des Machterhalts im Interesse einiger Weniger – allein im Irak von 2003 bis heute mit dem Ergebnis der Vernichtung von 1,5 Millionen Menschenleben. In diesem Sinne wäre es sicher erkenntnisreich, den Strategien nachzugehen, mit denen Herrschaft gesichert wird, inwieweit Desinformation und False-Flag-Operationen dazugehören und inwieweit Medien und andere Instrumente der Massenbeeinflussung dabei eine Rolle spielen. (PK)

Online-Flyer Nr. 372  vom 19.09.2012

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FILMCLIP



Video von Georg Maria Vormschlag
FOTOGALERIE