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Krieg und Frieden
Auszüge aus einem von Ingrid von Heiseler übersetzten Buch
Spiritualität und Frieden (1)
Von Graeme MacQueen
Kürzlich erschienen ist die deutsche Übersetzung des Buchs "Spirituality and Peacemaking" des Kanadiers Graeme MacQueen. Sein deutscher Titel: "Spiritualität und Frieden". In dem Buch stellt der Autor Fünf Friedens-Spiritualitäten Asiens vor, dazu behandelt er Acht Aspekte von Friedensspiritualität. In der Einführung heißt es: „In diesem Buch verteidigen wir weder die Religion an sich noch greifen wir sie an. Zwar achten wir auf Fehler und Gefahren von Religion, aber wir geben sie nicht auf, weil wir viel Inspirierendes und Heilsames darin sehen […] Man muss umdenken, einen neuen Rahmen finden und neue Kategorien erfinden. Das haben wir getan […] Wir hoffen, dass auch Menschen, die sich nicht mit einer der traditionellen religiösen Traditionen identifizieren können, die aber meinen, dass ‚Spiritualität‘ sich auf etwas Gutes und Notwendiges beziehe, dieses Buch lesen und sich positiv am Dialog über Frieden, Religion und Spiritualität beteiligen werden.“ Die NRhZ bringt Auszüge aus dem Buch – in drei Folgen – hier Folge 1.
Können wir allgemeine Überschriften finden, unter denen wir die Einflüsse der Spiritualität auf die Friedensstiftung anordnen und analysieren können? Hier kommt ein erster Versuch: Ich stelle acht Kategorien auf. Ab und zu wurden in diesem Kapitel Beispiele aus den klassischen „Weltreligionen“ mit Beispielen aus der Geschichte der Fünf Nationen (3) (später Six Nations – auch Iroquois League genannt) ergänzt. Diese Organisation erstreckt sich auf das heutige Kanada und die heutigen Vereinigten Staaten und besitzt eine eingeschränkte (und oft verletzte) Unabhängigkeit von beiden. Die Beispiele sollen uns daran erinnern, dass es hochentwickelte Friedensspiritualitäten gibt, die gewöhnlich nicht erwähnt werden.
I. Moralische Grundlage
Spirituelle Traditionen akzeptieren gewöhnlich nicht die Annahme, dass ein Mensch nur durch Sozialisation und unmerkliches Hineinwachsen in die eigene Kultur oder einfach durch eigene rationale Entscheidungen moralisch werde. Sie gehen davon aus, Moral entwickle sich nur dann vollkommen, wenn der Mensch für bestimmte „Stimmen“ des Transhumanen offen sei. Diese Stimmen können metaphorisch oder als Ausdruck transzendenter Mächte verstanden werden. In dieser Betrachtungsweise ist eine moralische Grundlage gleichzeitig eine spirituelle Grundlage.
Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass dasselbe Wort – das deutsche Wort „Frieden” zum Beispiel - für tiefe innere Ruhe und für die Abwesenheit sozialer Gewalt stehen kann: Die Realität, der wir im innersten Selbst begegnen, wird als etwas empfunden, das mit dem Drang zum Friedenschaffen in der äußeren Welt verbunden ist. Sozialer Frieden und innerer Frieden werden als Teile derselben Realität betrachtet. Der Friedliche betrachtet Frieden nicht als eine bloße Idee oder ein Ideal, sondern sie ist für ihn eine Realität, die er selbst erfahren hat und die er ganz genau kennt. Darum ist Friedenstiften, selbst in seinen weltlichen Formen, für ihn eine spirituelle Praxis.
Deshalb überrascht es nicht, dass diejenigen, die sich der Friedensspiritualität widmen, auf die Möglichkeit von Frieden vertrauen und Frieden als etwas betrachten, dessen Wert und Bedeutung über alle utilitaristischen und rationale Berechnungen hinausgeht. Sie sind engagiert und hartnäckig bei der Verfolgung ihres Ziels und halten an allem – Symbolen, Narrationen, Ritualen usw. – fest. Das fördert die Einsichten und Eingebungen, die sie wertschätzen.
II. Vision
Spirituelle Traditionen stellen wirkungsmächtige Visionen der Gesellschaft dar. Im Falle der Friedensspiritualitäten sind es Visionen von einer friedlichen Gesellschaft. Diese in Visionen geschauten Gesellschaften oder „Utopien“ – wir gebrauchen das Wort hier im positiven Sinn – stellen sich einige als etwas vor, das in der Vergangenheit liegt, ein Goldenes Zeitalter, aus dem wir zwar herausgefallen sind, von dem wir aber moralisch lernen können (wie im Konfuzianismus). Andere stellen sich vor, dass Utopien ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, dass sie aber in der Zukunft wiederhergestellt werden (wie in der jüdisch-christlichen Religion). Wieder andere stellen sich Utopia als etwas wirklich Neues vor, das uns in der Zukunft erwartet (auch das findet sich in der jüdisch-christlichen Tradition und in verbreiteten westlichen säkularen Varianten des Utopismus). Eine vierte Gruppe stellt sich vor, dass eine Utopie zyklisch wiederkehrt (wie in einigen Traditionen in Indien). Eine fünfte stellt sich vor, dass Utopia jetzt und hier existiere, vorhanden, aber unbemerkt sei (wie in vielen mystischen Traditionen).
In den buddhistischen Utopien aus der frühindischen Phase der Tradition […] kennzeichnen Frieden und Gerechtigkeit das zyklisch wiederkehrende Goldene Zeitalter. Gewalt kommt durch Gier und in Verbindung mit Privateigentum und ungerechter Verteilung des Wohlstandes in die Welt. Die Entartung der Welt in eine Welt der gegenwärtigen Bedingungen von Krieg und Ungerechtigkeit hat aus zwei Gründen stattgefunden: wegen der strukturellen Ungerechtigkeiten und wegen der Abwärtsspirale, die durch die sich selbst aufrechterhaltenden Kräfte der Gewalt und Rache angetrieben wurde. Menschen können dazu beitragen, diese Entartung rückgängig zu machen, indem sie in besonderen Gemeinschaften die für das Goldene Zeitalter charakteristischen Werte bekunden: Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit u. ä. Alles, was dazu beiträgt, Menschen an das zu erinnern, was sie ihrem Wesen nach sind und (wieder) sein können, ist in diesem Prozess der Rettung der Welt vor dem Inferno wertvoll. Achtsamkeit und Meditation spielen eine wichtige Rolle beim Beseitigen von Gier, Hass und Verblendung aus dem Geist und unterstützen damit moralisches Handeln.
In der buddhistischen Gemeinschaft spielte im Allgemeinen die Erwartung eines vollkommenen Staates in der Zukunft für die Förderung des Friedens eine Rolle. Gewaltsame Versuche, diese Bedingung herzustellen, sind allerdings nicht unbekannt. Ein Beispiel dafür ist die Rebellion Weißer Lotus in China am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Rebellen erwarteten freudig die Ankunft Maitreyas (4), des künftigen Buddhas. Die Rebellion bereitete der Regierung so große militärische Schwierigkeiten, dass sich die Ch’ing-Dynastie niemals mehr davon erholte.
Jüdische und christliche heilige Schriften bieten Utopien weitere Möglichkeiten. Die Sehnsucht nach der konkreten Wiedererrichtung der Gottesherrschaft über die Welt durch die Regierung eines idealen Königs ist ein wichtiges Thema in der hebräischen Bibel und Frieden wird oft als ein Charakteristikum dieses Königreichs erwähnt. Dieselbe Sehnsucht findet auch im Neuen Testament ihren Ausdruck. Dort ist Jesus der Christus, der Messias, der ideale König, auf dessen Wiederkunft man sich freut. In der Geschichte haben sowohl jüdische als auch christliche Traditionen zeitweise starke messianische Bewegungen hervorgebracht, die sich auf biblische Bilder bezogen. Manche dieser Bewegungen haben direkte politische (nicht immer gewaltfreie) Aktionen zum Aufbau der idealen Gesellschaft hervorgebracht. Utopische Gemeinschaften haben auch andere biblische Bilder belebt: z. B. das Bild von Eden, wo es weder Streit noch Krieg gibt und Mann und Frau nicht einmal, um etwas zu essen zu bekommen, töten müssen. Eine Utopie für Christen ist auch das Bild der heiligen Zeit, als Christus mit seinen Jüngern eine spirituelle Gemeinschaft bildete, die mit ihrer materiellen Einfachheit, ihrem Glauben und ihrer Friedfertigkeit der Welt ein Beispiel gab.
Die Macht der Utopien liegt sowohl in der Errichtung einer positiven Vision, an der Menschen ihr Streben ausrichten können, als auch an der Schaffung eines Standpunktes, von dem aus die gegenwärtige sichtbare unvollkommene Gesellschaft kritisiert und beurteilt wird. Dieser utopische Standpunkt kann durch Narrationen, Rituale, Formulierungen, Doktrinen, Glauben und kontemplative Praxis von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Sie alle gebrauchen Symbole und alle Symbole bedürfen einer Interpretation. Daraus ergibt sich, dass es keine unmittelbare und voraussagbare Verbindung zwischen einer vorhandenen Symbolik und konkreten Handlungen in der Welt gibt. Eine utopische Narration kann von der einen Gesellschaft als unterhaltsame, aber recht unwichtige Geschichte behandelt werden, während eine andere Gesellschaft sie dazu benutzt, damit Revolution zu machen. Oder eine Narration kann Handlungen in beiden Gruppen anregen, die aber dann zu einander entgegengesetzten Ergebnissen führen. Z. B. wurde die Geschichte vom Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten und ihre Ankunft im Gelobten Land von den Buren in Südafrika dazu benutzt, ihre gewaltsame Unterwerfung indigener afrikanischer Völker zu rechtfertigen, während Afroamerikaner dieselbe Geschichte so lasen, dass sie ihnen Hoffnung und Anregung in ihrem Kampf um Befreiung von Rassismus und Unterdrückung lieferte. In der jüdischen Gemeinschaft bieten die Propheten Inspirationen für politische Zionisten, spirituelle Zionisten wie auch für Anti-Zionisten. Wir haben schon gesehen, dass die Bhagavadgita, die für Gandhis Streben nach Gewaltfreiheit so wichtig war, dass er sie als seine Mutter bezeichnete, von anderen dazu benutzt wurde, Gewalt und Krieg zu rechtfertigen.
Schließlich sind alle Ausbildungen von Symbolen charakteristisch für die kulturelle oder religiöse Gruppe, in der sie vorkommen: Symbole, die für eine Gruppe voller Bedeutung sind und die sie inspirieren, können für eine andere Gruppe völlig unverständlich sein. Das ist eine der Gefahren der Friedensspiritualität, die doch eigentlich allein durch ihr Wesen als friedenschaffende Kraft dazu in der Lage sein müsste, alle Gruppen zusammenzubringen.
1642 war ein jesuitischer Missionar in New France (im modernen Quebec, Kanada) sehr erstaunt, als er Zeuge der Ankunft einer Friedensdelegation der Fünf Nationen wurde, die von den Franzosen und ihren eingeborenen Verbündeten als Feinde gefürchtet wurden. Ein alter Mann der Delegation stand auf und nannte mit lauter Stimme die Absicht seiner Partei, Frieden zu schließen, damit „das Land schön werde, der Fluss keine Wellen mehr schlage und man ohne Furcht überall hingehen kann“. (5)
Der jesuitische Missionar und seine Mitarbeiter verstanden nicht, dass sich die Delegation auf ihre utopische Vision bezog, die im Deganawidah-Epos (6), einer narrativen Charta der Five Nations, ausgeführt war. Sie verstanden nicht, dass in dieser Narration dem Frieden ein positiver Wert zukam. Sie waren sich des hochentwickelten Prozesses der Friedensstiftung nicht bewusst, der auf der Narration basierte und sich in besonderen Praktiken konkretisierte, die viele Jahre lang erfolgreich betrieben worden waren, um Frieden zu schaffen. Sie wussten nicht, welche Rolle sie selbst in der Friedensinitiative spielen sollten. Sie verhielten sich mdaher unangemessen und dadurch ging die Gelegenheit, Frieden zu schließen, verloren.
III. Kritik
Moralische Grundlagen und Visionen von einer gerechten und friedlichen Gesellschaft ermöglichen die Kritik der vorhandenen Zustände. In den spirituellen Traditionen sind zwei Stile der Kritik zu unterscheiden: der prophetische und der der Verweigerung.
(a) Prophetie
Der Prophet als religiöser Typus gehorcht dem Drang, die Wahrheit zu verkünden, nicht weil er es möchte, sondern aus einem Pflichtbewusstsein oder weil er den Auftrag dazu bekommen hat. Der Prophet bietet gewöhnlich sowohl eine Kritik des Bestehenden als auch eine Vorausschau in die Zukunft. Propheten sind durchaus nicht immer Agenten der Friedensstiftung. Oft kritisieren sie die bestehenden sozialen, politischen oder religiösen Praktiken leidenschaftlich und der Urteilsspruch, der entweder von menschlichen oder übermenschlichen Instanzen vollstreckt werden soll, ist streng. Und doch ist die Verurteilung von Gewalt, Krieg und Brutalität vielen prophetischen Traditionen gemein.
Bei den Fünf Nationen heißt es vom Propheten Deganawidah (in Narrationen, die dem Kontakt mit Europäern und ihren heiligen Schriften vorausgehen), er habe gesagt, dass er gesandt sei, um den Großen Frieden zu errichten, der dem Krieg zwischen den Nationen ein Ende setzen werde. Viel später richtete der Prophet Schöner See aus dem Irokesen-Stamm der Seneca sich mit der Formulierung einiger Aspekte dieser Botschaft gegen Gewalt.
Die Prophetie der hebräischen Bibel bekam im Westen große historische Bedeutung, und zwar nicht nur, weil der Inhalt der Botschaft des Propheten ausdrücklich moralisch war, sondern auch, weil die Propheten eine sehr entschiedene Art der Rede und des Diskurses einführten: Kühn und sogar rücksichtslos sprachen sie von einem Standpunkt der politischen Schwäche, jedoch der moralischen Gewissheit die Wahrheit über die Unterdrückten aus. Diese Art der Rede kann man bei den englischen Radikalen im 17. Jahrhundert, z. B. bei Gerrard Winstanley, hören, wenn sie die Gewaltherrschaft der herrschenden Klassen anprangern. Das gilt ebenso für Feministinnen des 19. Jahrhunderts wie Julia Ward Howe, wenn sie das Kriegführen der Männer anprangern, wie auch für Abolitionisten wie William Lloyd Garrison (7), wenn sie die Sklaverei angreifen, und für Marxisten wie Rosa Luxemburg, wenn sie den Kapitalismus als Ursache für Weltkriege verdammen. Heute ist die prophetische Art der Rede mit ihren Wurzeln in der hebräischen Tradition im
Sozialismus und der christlichen Befreiungstheologie weiterhin stark.
Im Nahen Osten bietet der Koran gemeinsam mit jüdischen und christlichen Quellen sowohl im Inhalt als auch in der Form ein Modell kraftvoller prophetischer Rede. Die historische Bedeutung der prophetischen Rede ist für diese Weltregion überhaupt nicht zu überschätzen! Nur leider verbinden sich die heftigen Anprangerungen, die alle Konfliktparteien vorbringen, nicht zur am besten geeigneten Formel zur Friedensstiftung!
(b) Verweigerung
Die hier getroffene Unterscheidung zwischen einem Propheten und einem Verweigerer setzt das Leiden des Propheten zu der Ruhe und dem Asketismus des Verweigerers in Gegensatz. Auch der Verweigerer kritisiert die bestehende Ordnung – seine Kritik ist oft extrem – und er ist auch durchaus tief in soziale Veränderungen involviert, aber er experimentiert mit alternativen Lebensformen und versucht utopische Werte hier und jetzt im privaten und sozialen Leben zu verkörpern. Gewöhnlich sind Verweigerer weniger daran interessiert, etwas anzuprangern, sondern mehr daran, auf etwas Verzicht zu leisten. Selbstvervollkommnung durch Disziplin und Verzicht auf Wohlstand, Macht und Status müssen die Verbesserung im sozialen Bereich begleiten.
Eine der wichtigsten Verweigerer-Bewegungen der Geschichte entstand am Anfang des 6. Jahrhunderts AC in Nordostindien. Diese Bewegung brachte sowohl den Jainismus als auch den Buddhismus hervor und trug zur Ausbildung des Hinduismus bei. Im Jainismus und im Buddhismus (auch im Hinduismus, hier allerdings auf komplexere Weise) gehörte Verweigerung zu einem umfassenden System menschlicher Vollkommenheit, zu dem auch Frieden und Gewaltfreiheit gehörten. Dieses Modell der Friedfertigkeit war in der alten Welt einzigartig: Es hob den Verzicht auf Gewalt gegen menschliche ebenso wie gegen nicht menschliche Lebewesen hervor. Es integrierte moralische Regeln in ein umfassendes Übungssystem und verankerte diese Werte – im Fall von Jainismus und Buddhismus - in der Transzendenz, aber nicht in Göttlichkeit
Viele moderne buddhistische Organisationen, die sich Frieden und Gerechtigkeit verschrieben haben, behalten den Beigeschmack der frühen buddhistischen Verweigerungs-Lehren bei: Sie betonen einen einfachen Lebensstil, Meditation und die Entwicklung von Mitgefühl. Gleichzeitig haben Laien beiden Geschlechts führende Rollen in vielen dieser Organisationen übernommen und sie kritisieren das traditionelle Mönchstum sowohl wegen seiner Tendenz, sich von der Welt loszusagen, als auch wegen seiner Tendenz, mit Staat und Wirtschaftsmächten Kompromisse zu schließen.
Der Einfluss des altindischen Stromes von Verweigerungsspiritualität und ihrer Kritik an der herrschenden Gesellschaft und dem Kriegssystem breitete sich über Asien hinaus aus. Die beiden zentralen Persönlichkeiten in der Entwicklung der Gewaltfreiheit des 20. Jahrhunderts Gandhi und Tolstoi waren stark davon beeinflusst. Sie trugen dazu bei, dass das Verweigerungsideal in die zeitgenössische Friedensspiritualität eindrang. Tolstoi war weitgehend frustriert von seinen Versuchen, ein Leben der Verweigerung zu führen, aber Gandhi konnte seine Ideale in die Tat umsetzen. Gandhi wurde dadurch zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten im 20. Jahrhundert, dass er das Ideal der Askese aus dem alten Indien, das auf dem festen Boden der hinduistischen Tradition basierte, mit Aktivismus, Kosmopolitismus und politischer Erfahrenheit verband, die es möglich machten, dass er außerhalb seiner Tradition verstanden wurde.
Außer der Übertragung aus Indien gab es andere, weitgehende davon unabhängige Verweigerungs-Traditionen, darunter jüdische, muslimische und christliche Traditionen, und auch diese haben eine Kritik des Kriegssystems entwickelt. Im Judentum stellen die Essener eine frühe Sekte der Verweigerung dar; sie experimentierten mit der Doktrin der Nicht-Vergeltung. Im Islam finden sich – während die prophetische Tradition Prinzipien eines gerechten Krieges entwickelte –, in der Tradition der Verweigerung, im frühen wie im späten Sufismus viele entschiedene Stellungnahmen zugunsten von Frieden. Häufig entwickelten sich in der Geschichte des Christentums radikale Verweigerungs-Spiritualitäten, die Krieg und Gewalt streng kritisierten, zu bewussten Alternativen zu den herrschenden Formen des Christentums. Einige dieser Gruppen wurden von der Kirche als häretisch gebrandmarkt und verfolgt. Anabaptismus und Quäkertum (8), die großen Einfluss darauf hatten, dass Pazifismus und Friedensstiftung in die moderne Welt kamen, überlebten die Verfolgungen, während viele vorreformatorische Gruppen dezimiert wurden. Nur wenige Waldenser und so gut wie keine Katharer überlebten die Verfolgungen im Mittelalter, um ihr Zeugnis gegen Gewalt abzulegen. In der modernen Zeit repräsentierten Persönlichkeiten wie Dorothy Day, Thomas Merton und Philip und Daniel Berrigan den römisch-katholischen Verweigerungs-Aktivismus (9). Christliche Traditionen der Verweigerung stehen in direktem Kontakt mit Traditionen, die in Indien entstanden sind, und es gibt einen fortschreitenden Dialogprozess, der sich auf die Bildung einer nicht-sektiererischen Friedensspiritualität zubewegt.
Der Autor:
Graeme MacQueen wurde in Kanada geboren und wuchs dort auch auf. Er erwarb den "Ph.D. degree from Harvard University" (entspricht der deutschen Habilitation) in „Buddhistischen Studien“. 30 Jahre lang lehrte er in der Abteilung für Religiöse Forschung an der McMaster-Universität in Hamilton in Kanada. 1989 wurde er Gründungs-Direktor des Friedensforschungs-Zentrums an der McMaster-Universität. Danach war er Mitbegründer von Friedenskonsolidierungs-Projekten in verschiedenen Kriegsgebieten. Sein neuestes Buch ist The 2001 Anthrax Deception, Atlanta: Clarity Press 2014. Über das Buch:
http://www.claritypress.com/MacQueen.html (01.03.16)
Das Buch:
Spiritualität und Frieden
Kindle Edition $2.99
Von Graeme MacQueen
aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Ingrid von Heiseler (1)
In dem Buch stellt der Autor Fünf Friedens-Spiritualitäten Asiens vor, dazu behandelt er Acht Aspekte von Friedensspiritualität. In der Einführung heißt es: „In diesem Buch verteidigen wir weder die Religion an sich noch greifen wir sie an. Zwar achten wir auf Fehler und Gefahren von Religion, aber wir geben sie nicht auf, weil wir viel Inspirierendes und Heilsames darin sehen […] Man muss umdenken, einen neuen Rahmen finden und neue Kategorien erfinden. Das haben wir getan […] Wir hoffen, dass auch Menschen, die sich nicht mit einer der traditionellen religiösen Traditionen identifizieren können, die aber meinen, dass ‚Spiritualität‘ sich auf etwas Gutes und Notwendiges beziehe, dieses Buch lesen und sich positiv am Dialog über Frieden, Religion und Spiritualität beteiligen werden.“
Letzter Teil des Buches:
Acht Aspekte von Friedensspiritualität (2)
Teil 1:
I. Moralische Grundlage
II. Visionen
III. Kritik
(a) Prophetie
(b) Verweigerung
Teil 2:
IV. Widerstand
V. Gewaltfreiheit
VI. Konfliktlösung und Konflikttransformation
Teil 3:
VII. Versöhnung
VIII. Errichten einer Tradition der Friedensspiritualität
Fussnoten:
1 http://www.amazon.com/Spiritualit%C3%A4t-Frieden-Ingrid-Heiseler-Ver%C3%B6ffentlichungen-ebook/dp/B01C44FPIQ/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1456504514&sr=8-1&keywords=ingrid+von+heiseler
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=787
2 Vgl. Graeme MacQueen, "Spirituality and Peacemaking" in Encyclopedia of Violence, Peace, & Conflict (San Diego: Academic Press, 1999). pp. 351 ff.
3 http://www.indianerwww.de/indian/staemme_nordosten_liga.htm
http://www.indianerwww.de/indian/bewusstsein.html (01.03.16)
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Maitreya
5 Wallace, Paul, The White Roots of Peace (Philadelphia: Univ. of Pennsylvania, 1946) p. 54.
6 http://en.wikipedia.org/wiki/The_Great_Peacemaker (01.03.16)
7 Chernus, Ira, American Nonviolence. The History of an Idea. New York: Orbis Books Maryknoll 2004. Deutsch: Warum handeln Menschen gewaltfrei? Geschichte einer Idee. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler, Sozio- Publishing 2012. Kapitel 3. William Lloyd Garrison
und die Abolutionisten, pp 55-78. http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=179
8 Chernus, 2012, Kapitel 1 und 2.
9 Chernus, 2012, Kapitel 10.
Online-Flyer Nr. 551 vom 02.03.2016
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Krieg und Frieden
Auszüge aus einem von Ingrid von Heiseler übersetzten Buch
Spiritualität und Frieden (1)
Von Graeme MacQueen
Kürzlich erschienen ist die deutsche Übersetzung des Buchs "Spirituality and Peacemaking" des Kanadiers Graeme MacQueen. Sein deutscher Titel: "Spiritualität und Frieden". In dem Buch stellt der Autor Fünf Friedens-Spiritualitäten Asiens vor, dazu behandelt er Acht Aspekte von Friedensspiritualität. In der Einführung heißt es: „In diesem Buch verteidigen wir weder die Religion an sich noch greifen wir sie an. Zwar achten wir auf Fehler und Gefahren von Religion, aber wir geben sie nicht auf, weil wir viel Inspirierendes und Heilsames darin sehen […] Man muss umdenken, einen neuen Rahmen finden und neue Kategorien erfinden. Das haben wir getan […] Wir hoffen, dass auch Menschen, die sich nicht mit einer der traditionellen religiösen Traditionen identifizieren können, die aber meinen, dass ‚Spiritualität‘ sich auf etwas Gutes und Notwendiges beziehe, dieses Buch lesen und sich positiv am Dialog über Frieden, Religion und Spiritualität beteiligen werden.“ Die NRhZ bringt Auszüge aus dem Buch – in drei Folgen – hier Folge 1.
Können wir allgemeine Überschriften finden, unter denen wir die Einflüsse der Spiritualität auf die Friedensstiftung anordnen und analysieren können? Hier kommt ein erster Versuch: Ich stelle acht Kategorien auf. Ab und zu wurden in diesem Kapitel Beispiele aus den klassischen „Weltreligionen“ mit Beispielen aus der Geschichte der Fünf Nationen (3) (später Six Nations – auch Iroquois League genannt) ergänzt. Diese Organisation erstreckt sich auf das heutige Kanada und die heutigen Vereinigten Staaten und besitzt eine eingeschränkte (und oft verletzte) Unabhängigkeit von beiden. Die Beispiele sollen uns daran erinnern, dass es hochentwickelte Friedensspiritualitäten gibt, die gewöhnlich nicht erwähnt werden.
I. Moralische Grundlage
Spirituelle Traditionen akzeptieren gewöhnlich nicht die Annahme, dass ein Mensch nur durch Sozialisation und unmerkliches Hineinwachsen in die eigene Kultur oder einfach durch eigene rationale Entscheidungen moralisch werde. Sie gehen davon aus, Moral entwickle sich nur dann vollkommen, wenn der Mensch für bestimmte „Stimmen“ des Transhumanen offen sei. Diese Stimmen können metaphorisch oder als Ausdruck transzendenter Mächte verstanden werden. In dieser Betrachtungsweise ist eine moralische Grundlage gleichzeitig eine spirituelle Grundlage.
Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass dasselbe Wort – das deutsche Wort „Frieden” zum Beispiel - für tiefe innere Ruhe und für die Abwesenheit sozialer Gewalt stehen kann: Die Realität, der wir im innersten Selbst begegnen, wird als etwas empfunden, das mit dem Drang zum Friedenschaffen in der äußeren Welt verbunden ist. Sozialer Frieden und innerer Frieden werden als Teile derselben Realität betrachtet. Der Friedliche betrachtet Frieden nicht als eine bloße Idee oder ein Ideal, sondern sie ist für ihn eine Realität, die er selbst erfahren hat und die er ganz genau kennt. Darum ist Friedenstiften, selbst in seinen weltlichen Formen, für ihn eine spirituelle Praxis.
Deshalb überrascht es nicht, dass diejenigen, die sich der Friedensspiritualität widmen, auf die Möglichkeit von Frieden vertrauen und Frieden als etwas betrachten, dessen Wert und Bedeutung über alle utilitaristischen und rationale Berechnungen hinausgeht. Sie sind engagiert und hartnäckig bei der Verfolgung ihres Ziels und halten an allem – Symbolen, Narrationen, Ritualen usw. – fest. Das fördert die Einsichten und Eingebungen, die sie wertschätzen.
II. Vision
Spirituelle Traditionen stellen wirkungsmächtige Visionen der Gesellschaft dar. Im Falle der Friedensspiritualitäten sind es Visionen von einer friedlichen Gesellschaft. Diese in Visionen geschauten Gesellschaften oder „Utopien“ – wir gebrauchen das Wort hier im positiven Sinn – stellen sich einige als etwas vor, das in der Vergangenheit liegt, ein Goldenes Zeitalter, aus dem wir zwar herausgefallen sind, von dem wir aber moralisch lernen können (wie im Konfuzianismus). Andere stellen sich vor, dass Utopien ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, dass sie aber in der Zukunft wiederhergestellt werden (wie in der jüdisch-christlichen Religion). Wieder andere stellen sich Utopia als etwas wirklich Neues vor, das uns in der Zukunft erwartet (auch das findet sich in der jüdisch-christlichen Tradition und in verbreiteten westlichen säkularen Varianten des Utopismus). Eine vierte Gruppe stellt sich vor, dass eine Utopie zyklisch wiederkehrt (wie in einigen Traditionen in Indien). Eine fünfte stellt sich vor, dass Utopia jetzt und hier existiere, vorhanden, aber unbemerkt sei (wie in vielen mystischen Traditionen).
In den buddhistischen Utopien aus der frühindischen Phase der Tradition […] kennzeichnen Frieden und Gerechtigkeit das zyklisch wiederkehrende Goldene Zeitalter. Gewalt kommt durch Gier und in Verbindung mit Privateigentum und ungerechter Verteilung des Wohlstandes in die Welt. Die Entartung der Welt in eine Welt der gegenwärtigen Bedingungen von Krieg und Ungerechtigkeit hat aus zwei Gründen stattgefunden: wegen der strukturellen Ungerechtigkeiten und wegen der Abwärtsspirale, die durch die sich selbst aufrechterhaltenden Kräfte der Gewalt und Rache angetrieben wurde. Menschen können dazu beitragen, diese Entartung rückgängig zu machen, indem sie in besonderen Gemeinschaften die für das Goldene Zeitalter charakteristischen Werte bekunden: Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit u. ä. Alles, was dazu beiträgt, Menschen an das zu erinnern, was sie ihrem Wesen nach sind und (wieder) sein können, ist in diesem Prozess der Rettung der Welt vor dem Inferno wertvoll. Achtsamkeit und Meditation spielen eine wichtige Rolle beim Beseitigen von Gier, Hass und Verblendung aus dem Geist und unterstützen damit moralisches Handeln.
In der buddhistischen Gemeinschaft spielte im Allgemeinen die Erwartung eines vollkommenen Staates in der Zukunft für die Förderung des Friedens eine Rolle. Gewaltsame Versuche, diese Bedingung herzustellen, sind allerdings nicht unbekannt. Ein Beispiel dafür ist die Rebellion Weißer Lotus in China am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Rebellen erwarteten freudig die Ankunft Maitreyas (4), des künftigen Buddhas. Die Rebellion bereitete der Regierung so große militärische Schwierigkeiten, dass sich die Ch’ing-Dynastie niemals mehr davon erholte.
Jüdische und christliche heilige Schriften bieten Utopien weitere Möglichkeiten. Die Sehnsucht nach der konkreten Wiedererrichtung der Gottesherrschaft über die Welt durch die Regierung eines idealen Königs ist ein wichtiges Thema in der hebräischen Bibel und Frieden wird oft als ein Charakteristikum dieses Königreichs erwähnt. Dieselbe Sehnsucht findet auch im Neuen Testament ihren Ausdruck. Dort ist Jesus der Christus, der Messias, der ideale König, auf dessen Wiederkunft man sich freut. In der Geschichte haben sowohl jüdische als auch christliche Traditionen zeitweise starke messianische Bewegungen hervorgebracht, die sich auf biblische Bilder bezogen. Manche dieser Bewegungen haben direkte politische (nicht immer gewaltfreie) Aktionen zum Aufbau der idealen Gesellschaft hervorgebracht. Utopische Gemeinschaften haben auch andere biblische Bilder belebt: z. B. das Bild von Eden, wo es weder Streit noch Krieg gibt und Mann und Frau nicht einmal, um etwas zu essen zu bekommen, töten müssen. Eine Utopie für Christen ist auch das Bild der heiligen Zeit, als Christus mit seinen Jüngern eine spirituelle Gemeinschaft bildete, die mit ihrer materiellen Einfachheit, ihrem Glauben und ihrer Friedfertigkeit der Welt ein Beispiel gab.
Die Macht der Utopien liegt sowohl in der Errichtung einer positiven Vision, an der Menschen ihr Streben ausrichten können, als auch an der Schaffung eines Standpunktes, von dem aus die gegenwärtige sichtbare unvollkommene Gesellschaft kritisiert und beurteilt wird. Dieser utopische Standpunkt kann durch Narrationen, Rituale, Formulierungen, Doktrinen, Glauben und kontemplative Praxis von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Sie alle gebrauchen Symbole und alle Symbole bedürfen einer Interpretation. Daraus ergibt sich, dass es keine unmittelbare und voraussagbare Verbindung zwischen einer vorhandenen Symbolik und konkreten Handlungen in der Welt gibt. Eine utopische Narration kann von der einen Gesellschaft als unterhaltsame, aber recht unwichtige Geschichte behandelt werden, während eine andere Gesellschaft sie dazu benutzt, damit Revolution zu machen. Oder eine Narration kann Handlungen in beiden Gruppen anregen, die aber dann zu einander entgegengesetzten Ergebnissen führen. Z. B. wurde die Geschichte vom Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten und ihre Ankunft im Gelobten Land von den Buren in Südafrika dazu benutzt, ihre gewaltsame Unterwerfung indigener afrikanischer Völker zu rechtfertigen, während Afroamerikaner dieselbe Geschichte so lasen, dass sie ihnen Hoffnung und Anregung in ihrem Kampf um Befreiung von Rassismus und Unterdrückung lieferte. In der jüdischen Gemeinschaft bieten die Propheten Inspirationen für politische Zionisten, spirituelle Zionisten wie auch für Anti-Zionisten. Wir haben schon gesehen, dass die Bhagavadgita, die für Gandhis Streben nach Gewaltfreiheit so wichtig war, dass er sie als seine Mutter bezeichnete, von anderen dazu benutzt wurde, Gewalt und Krieg zu rechtfertigen.
Schließlich sind alle Ausbildungen von Symbolen charakteristisch für die kulturelle oder religiöse Gruppe, in der sie vorkommen: Symbole, die für eine Gruppe voller Bedeutung sind und die sie inspirieren, können für eine andere Gruppe völlig unverständlich sein. Das ist eine der Gefahren der Friedensspiritualität, die doch eigentlich allein durch ihr Wesen als friedenschaffende Kraft dazu in der Lage sein müsste, alle Gruppen zusammenzubringen.
1642 war ein jesuitischer Missionar in New France (im modernen Quebec, Kanada) sehr erstaunt, als er Zeuge der Ankunft einer Friedensdelegation der Fünf Nationen wurde, die von den Franzosen und ihren eingeborenen Verbündeten als Feinde gefürchtet wurden. Ein alter Mann der Delegation stand auf und nannte mit lauter Stimme die Absicht seiner Partei, Frieden zu schließen, damit „das Land schön werde, der Fluss keine Wellen mehr schlage und man ohne Furcht überall hingehen kann“. (5)
Der jesuitische Missionar und seine Mitarbeiter verstanden nicht, dass sich die Delegation auf ihre utopische Vision bezog, die im Deganawidah-Epos (6), einer narrativen Charta der Five Nations, ausgeführt war. Sie verstanden nicht, dass in dieser Narration dem Frieden ein positiver Wert zukam. Sie waren sich des hochentwickelten Prozesses der Friedensstiftung nicht bewusst, der auf der Narration basierte und sich in besonderen Praktiken konkretisierte, die viele Jahre lang erfolgreich betrieben worden waren, um Frieden zu schaffen. Sie wussten nicht, welche Rolle sie selbst in der Friedensinitiative spielen sollten. Sie verhielten sich mdaher unangemessen und dadurch ging die Gelegenheit, Frieden zu schließen, verloren.
III. Kritik
Moralische Grundlagen und Visionen von einer gerechten und friedlichen Gesellschaft ermöglichen die Kritik der vorhandenen Zustände. In den spirituellen Traditionen sind zwei Stile der Kritik zu unterscheiden: der prophetische und der der Verweigerung.
(a) Prophetie
Der Prophet als religiöser Typus gehorcht dem Drang, die Wahrheit zu verkünden, nicht weil er es möchte, sondern aus einem Pflichtbewusstsein oder weil er den Auftrag dazu bekommen hat. Der Prophet bietet gewöhnlich sowohl eine Kritik des Bestehenden als auch eine Vorausschau in die Zukunft. Propheten sind durchaus nicht immer Agenten der Friedensstiftung. Oft kritisieren sie die bestehenden sozialen, politischen oder religiösen Praktiken leidenschaftlich und der Urteilsspruch, der entweder von menschlichen oder übermenschlichen Instanzen vollstreckt werden soll, ist streng. Und doch ist die Verurteilung von Gewalt, Krieg und Brutalität vielen prophetischen Traditionen gemein.
Bei den Fünf Nationen heißt es vom Propheten Deganawidah (in Narrationen, die dem Kontakt mit Europäern und ihren heiligen Schriften vorausgehen), er habe gesagt, dass er gesandt sei, um den Großen Frieden zu errichten, der dem Krieg zwischen den Nationen ein Ende setzen werde. Viel später richtete der Prophet Schöner See aus dem Irokesen-Stamm der Seneca sich mit der Formulierung einiger Aspekte dieser Botschaft gegen Gewalt.
Die Prophetie der hebräischen Bibel bekam im Westen große historische Bedeutung, und zwar nicht nur, weil der Inhalt der Botschaft des Propheten ausdrücklich moralisch war, sondern auch, weil die Propheten eine sehr entschiedene Art der Rede und des Diskurses einführten: Kühn und sogar rücksichtslos sprachen sie von einem Standpunkt der politischen Schwäche, jedoch der moralischen Gewissheit die Wahrheit über die Unterdrückten aus. Diese Art der Rede kann man bei den englischen Radikalen im 17. Jahrhundert, z. B. bei Gerrard Winstanley, hören, wenn sie die Gewaltherrschaft der herrschenden Klassen anprangern. Das gilt ebenso für Feministinnen des 19. Jahrhunderts wie Julia Ward Howe, wenn sie das Kriegführen der Männer anprangern, wie auch für Abolitionisten wie William Lloyd Garrison (7), wenn sie die Sklaverei angreifen, und für Marxisten wie Rosa Luxemburg, wenn sie den Kapitalismus als Ursache für Weltkriege verdammen. Heute ist die prophetische Art der Rede mit ihren Wurzeln in der hebräischen Tradition im
Sozialismus und der christlichen Befreiungstheologie weiterhin stark.
Im Nahen Osten bietet der Koran gemeinsam mit jüdischen und christlichen Quellen sowohl im Inhalt als auch in der Form ein Modell kraftvoller prophetischer Rede. Die historische Bedeutung der prophetischen Rede ist für diese Weltregion überhaupt nicht zu überschätzen! Nur leider verbinden sich die heftigen Anprangerungen, die alle Konfliktparteien vorbringen, nicht zur am besten geeigneten Formel zur Friedensstiftung!
(b) Verweigerung
Die hier getroffene Unterscheidung zwischen einem Propheten und einem Verweigerer setzt das Leiden des Propheten zu der Ruhe und dem Asketismus des Verweigerers in Gegensatz. Auch der Verweigerer kritisiert die bestehende Ordnung – seine Kritik ist oft extrem – und er ist auch durchaus tief in soziale Veränderungen involviert, aber er experimentiert mit alternativen Lebensformen und versucht utopische Werte hier und jetzt im privaten und sozialen Leben zu verkörpern. Gewöhnlich sind Verweigerer weniger daran interessiert, etwas anzuprangern, sondern mehr daran, auf etwas Verzicht zu leisten. Selbstvervollkommnung durch Disziplin und Verzicht auf Wohlstand, Macht und Status müssen die Verbesserung im sozialen Bereich begleiten.
Eine der wichtigsten Verweigerer-Bewegungen der Geschichte entstand am Anfang des 6. Jahrhunderts AC in Nordostindien. Diese Bewegung brachte sowohl den Jainismus als auch den Buddhismus hervor und trug zur Ausbildung des Hinduismus bei. Im Jainismus und im Buddhismus (auch im Hinduismus, hier allerdings auf komplexere Weise) gehörte Verweigerung zu einem umfassenden System menschlicher Vollkommenheit, zu dem auch Frieden und Gewaltfreiheit gehörten. Dieses Modell der Friedfertigkeit war in der alten Welt einzigartig: Es hob den Verzicht auf Gewalt gegen menschliche ebenso wie gegen nicht menschliche Lebewesen hervor. Es integrierte moralische Regeln in ein umfassendes Übungssystem und verankerte diese Werte – im Fall von Jainismus und Buddhismus - in der Transzendenz, aber nicht in Göttlichkeit
Viele moderne buddhistische Organisationen, die sich Frieden und Gerechtigkeit verschrieben haben, behalten den Beigeschmack der frühen buddhistischen Verweigerungs-Lehren bei: Sie betonen einen einfachen Lebensstil, Meditation und die Entwicklung von Mitgefühl. Gleichzeitig haben Laien beiden Geschlechts führende Rollen in vielen dieser Organisationen übernommen und sie kritisieren das traditionelle Mönchstum sowohl wegen seiner Tendenz, sich von der Welt loszusagen, als auch wegen seiner Tendenz, mit Staat und Wirtschaftsmächten Kompromisse zu schließen.
Der Einfluss des altindischen Stromes von Verweigerungsspiritualität und ihrer Kritik an der herrschenden Gesellschaft und dem Kriegssystem breitete sich über Asien hinaus aus. Die beiden zentralen Persönlichkeiten in der Entwicklung der Gewaltfreiheit des 20. Jahrhunderts Gandhi und Tolstoi waren stark davon beeinflusst. Sie trugen dazu bei, dass das Verweigerungsideal in die zeitgenössische Friedensspiritualität eindrang. Tolstoi war weitgehend frustriert von seinen Versuchen, ein Leben der Verweigerung zu führen, aber Gandhi konnte seine Ideale in die Tat umsetzen. Gandhi wurde dadurch zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten im 20. Jahrhundert, dass er das Ideal der Askese aus dem alten Indien, das auf dem festen Boden der hinduistischen Tradition basierte, mit Aktivismus, Kosmopolitismus und politischer Erfahrenheit verband, die es möglich machten, dass er außerhalb seiner Tradition verstanden wurde.
Außer der Übertragung aus Indien gab es andere, weitgehende davon unabhängige Verweigerungs-Traditionen, darunter jüdische, muslimische und christliche Traditionen, und auch diese haben eine Kritik des Kriegssystems entwickelt. Im Judentum stellen die Essener eine frühe Sekte der Verweigerung dar; sie experimentierten mit der Doktrin der Nicht-Vergeltung. Im Islam finden sich – während die prophetische Tradition Prinzipien eines gerechten Krieges entwickelte –, in der Tradition der Verweigerung, im frühen wie im späten Sufismus viele entschiedene Stellungnahmen zugunsten von Frieden. Häufig entwickelten sich in der Geschichte des Christentums radikale Verweigerungs-Spiritualitäten, die Krieg und Gewalt streng kritisierten, zu bewussten Alternativen zu den herrschenden Formen des Christentums. Einige dieser Gruppen wurden von der Kirche als häretisch gebrandmarkt und verfolgt. Anabaptismus und Quäkertum (8), die großen Einfluss darauf hatten, dass Pazifismus und Friedensstiftung in die moderne Welt kamen, überlebten die Verfolgungen, während viele vorreformatorische Gruppen dezimiert wurden. Nur wenige Waldenser und so gut wie keine Katharer überlebten die Verfolgungen im Mittelalter, um ihr Zeugnis gegen Gewalt abzulegen. In der modernen Zeit repräsentierten Persönlichkeiten wie Dorothy Day, Thomas Merton und Philip und Daniel Berrigan den römisch-katholischen Verweigerungs-Aktivismus (9). Christliche Traditionen der Verweigerung stehen in direktem Kontakt mit Traditionen, die in Indien entstanden sind, und es gibt einen fortschreitenden Dialogprozess, der sich auf die Bildung einer nicht-sektiererischen Friedensspiritualität zubewegt.
Der Autor:
Graeme MacQueen wurde in Kanada geboren und wuchs dort auch auf. Er erwarb den "Ph.D. degree from Harvard University" (entspricht der deutschen Habilitation) in „Buddhistischen Studien“. 30 Jahre lang lehrte er in der Abteilung für Religiöse Forschung an der McMaster-Universität in Hamilton in Kanada. 1989 wurde er Gründungs-Direktor des Friedensforschungs-Zentrums an der McMaster-Universität. Danach war er Mitbegründer von Friedenskonsolidierungs-Projekten in verschiedenen Kriegsgebieten. Sein neuestes Buch ist The 2001 Anthrax Deception, Atlanta: Clarity Press 2014. Über das Buch:
http://www.claritypress.com/MacQueen.html (01.03.16)
Das Buch:
Spiritualität und Frieden
Kindle Edition $2.99
Von Graeme MacQueen
aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Ingrid von Heiseler (1)
In dem Buch stellt der Autor Fünf Friedens-Spiritualitäten Asiens vor, dazu behandelt er Acht Aspekte von Friedensspiritualität. In der Einführung heißt es: „In diesem Buch verteidigen wir weder die Religion an sich noch greifen wir sie an. Zwar achten wir auf Fehler und Gefahren von Religion, aber wir geben sie nicht auf, weil wir viel Inspirierendes und Heilsames darin sehen […] Man muss umdenken, einen neuen Rahmen finden und neue Kategorien erfinden. Das haben wir getan […] Wir hoffen, dass auch Menschen, die sich nicht mit einer der traditionellen religiösen Traditionen identifizieren können, die aber meinen, dass ‚Spiritualität‘ sich auf etwas Gutes und Notwendiges beziehe, dieses Buch lesen und sich positiv am Dialog über Frieden, Religion und Spiritualität beteiligen werden.“
Letzter Teil des Buches:
Acht Aspekte von Friedensspiritualität (2)
Teil 1:
I. Moralische Grundlage
II. Visionen
III. Kritik
(a) Prophetie
(b) Verweigerung
Teil 2:
IV. Widerstand
V. Gewaltfreiheit
VI. Konfliktlösung und Konflikttransformation
Teil 3:
VII. Versöhnung
VIII. Errichten einer Tradition der Friedensspiritualität
Fussnoten:
1 http://www.amazon.com/Spiritualit%C3%A4t-Frieden-Ingrid-Heiseler-Ver%C3%B6ffentlichungen-ebook/dp/B01C44FPIQ/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1456504514&sr=8-1&keywords=ingrid+von+heiseler
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=787
2 Vgl. Graeme MacQueen, "Spirituality and Peacemaking" in Encyclopedia of Violence, Peace, & Conflict (San Diego: Academic Press, 1999). pp. 351 ff.
3 http://www.indianerwww.de/indian/staemme_nordosten_liga.htm
http://www.indianerwww.de/indian/bewusstsein.html (01.03.16)
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Maitreya
5 Wallace, Paul, The White Roots of Peace (Philadelphia: Univ. of Pennsylvania, 1946) p. 54.
6 http://en.wikipedia.org/wiki/The_Great_Peacemaker (01.03.16)
7 Chernus, Ira, American Nonviolence. The History of an Idea. New York: Orbis Books Maryknoll 2004. Deutsch: Warum handeln Menschen gewaltfrei? Geschichte einer Idee. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler, Sozio- Publishing 2012. Kapitel 3. William Lloyd Garrison
und die Abolutionisten, pp 55-78. http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=179
8 Chernus, 2012, Kapitel 1 und 2.
9 Chernus, 2012, Kapitel 10.
Online-Flyer Nr. 551 vom 02.03.2016
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