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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (2)
Die kluge Mutter
Von Erasmus Schöfer
Es war im letzten Jahr des letzten großen Krieges in Deutschland, als die Rote Armee jenseits der Oder stand und die Nazis fast keine Soldaten mehr übrig hatten. Da kamen sie auf die Idee, aus den Großvätern und den Pimpfen einen Volkssturm aufzustellen, mit dem sie den Endsieg doch noch erringen oder wenigstens ihre Reichshauptstadt Berlin verteidigen wollten. Deshalb gingen die Goldfasane mit dem Parteiabzeichen in ihren braunen Uniformen in den pommerschen Dörfern von Haus zu Haus, um solches Kanonenfutter einzusammeln, damit es im Kampf Mann gegen Mann die russischen Panzer zurückschlagen sollte.
Eine Mutter in Jasenitz bei Pölitz hatte vom Dorflehrer davon gehört und wollte ihren dritten jüngsten Sohn nicht auch noch auf die Schlachtbank lassen. Weil der Junge mit seinen vierzehn Jahren immer noch begeistert war und für den Führer kämpfen wollte, kochte sie ihm zur Stärkung einen leckeren Griessbrei mit Himbeersaft, was seine Lieblingsspeise war. Sie mischte aber mehrere Schlaftabletten darunter. Der Junge aß den Brei, und weil er hungrig war störte er sich nicht an dem bitteren Beigeschmack. Die Schlaftabletten wirkten schnell. Er schlief ein.
Da schleppte ihn die Mutter in den Heizungskeller, wo noch ein ordentlicher Haufen Koks vom Winter übrig geblieben war. Sie schaufelte ein Loch, legte den Schlafenden hinein und bedeckte ihn gut mit Koks, der genug Atemluft an seine Nase ließ. Als bald darauf der Kreisleiter mit einem SS-Mann die Straße durchkämmte nach brauchbarem Menschenmaterial, fanden sie bei der Mutter nichts, weil der Junge schon selbst aufgebrochen war zur Front. Eine solche Jugend braucht unser Führer! lobten die Männer.
Am nächsten Tag waren die gesammelten Volksstürmer nach Stettin abmarschiert, der Kreisleiter war Richtung Elbe getürmt und die Mutter hatte ihren Sohn für den Frieden gerettet.
Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016
Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).
Online-Flyer Nr. 613 vom 17.05.2017
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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (2)
Die kluge Mutter
Von Erasmus Schöfer
Es war im letzten Jahr des letzten großen Krieges in Deutschland, als die Rote Armee jenseits der Oder stand und die Nazis fast keine Soldaten mehr übrig hatten. Da kamen sie auf die Idee, aus den Großvätern und den Pimpfen einen Volkssturm aufzustellen, mit dem sie den Endsieg doch noch erringen oder wenigstens ihre Reichshauptstadt Berlin verteidigen wollten. Deshalb gingen die Goldfasane mit dem Parteiabzeichen in ihren braunen Uniformen in den pommerschen Dörfern von Haus zu Haus, um solches Kanonenfutter einzusammeln, damit es im Kampf Mann gegen Mann die russischen Panzer zurückschlagen sollte.
Eine Mutter in Jasenitz bei Pölitz hatte vom Dorflehrer davon gehört und wollte ihren dritten jüngsten Sohn nicht auch noch auf die Schlachtbank lassen. Weil der Junge mit seinen vierzehn Jahren immer noch begeistert war und für den Führer kämpfen wollte, kochte sie ihm zur Stärkung einen leckeren Griessbrei mit Himbeersaft, was seine Lieblingsspeise war. Sie mischte aber mehrere Schlaftabletten darunter. Der Junge aß den Brei, und weil er hungrig war störte er sich nicht an dem bitteren Beigeschmack. Die Schlaftabletten wirkten schnell. Er schlief ein.
Da schleppte ihn die Mutter in den Heizungskeller, wo noch ein ordentlicher Haufen Koks vom Winter übrig geblieben war. Sie schaufelte ein Loch, legte den Schlafenden hinein und bedeckte ihn gut mit Koks, der genug Atemluft an seine Nase ließ. Als bald darauf der Kreisleiter mit einem SS-Mann die Straße durchkämmte nach brauchbarem Menschenmaterial, fanden sie bei der Mutter nichts, weil der Junge schon selbst aufgebrochen war zur Front. Eine solche Jugend braucht unser Führer! lobten die Männer.
Am nächsten Tag waren die gesammelten Volksstürmer nach Stettin abmarschiert, der Kreisleiter war Richtung Elbe getürmt und die Mutter hatte ihren Sohn für den Frieden gerettet.
Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016
Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).
Online-Flyer Nr. 613 vom 17.05.2017
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