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Globales
Betrachtung 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs
Serbien – Spielball der Großmächte
Von Wolfgang Effenberger
Bei den Feierlichkeiten in Paris am 11. November 2018 hat die Protokollabteilung des Elysee-Palasts den Präsidenten von Serbien, Aleksandar Vucic, von der Haupttribüne ausgeschlossen. An seiner Stelle durfte sich der Präsident des erst nach 1999 entstandenen Kosovo, der umstrittene ehemalige UCK-Kämpfer Hashim Thaci, in der Nähe des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, postieren. Ein unglaublicher Affront, der die Geschichtsklitterung der westlichen Wertegemeinschaft entlarvt. Angesichts der aktuellen Diskussion um ein europäisches „Empire“ und die Schaffung einer europäischen Armee ist es dringend notwendig, an die Geschichte der letzten hundert Jahre zu erinnern. Sie soll hier exemplarisch am Schicksal Jugoslawiens aufgezeigt werden. Der letzte Abschnitt ist auch ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Sarajewo: Geschichte einer erfolgreichen Vertuschung
Am 20. Juli 1917 unterzeichnete der serbische Ministerpräsident Nikola Pašic gemeinsam mit dem kroatischen Politiker Ante Trumbic die so genannte »Deklaration von Korfu«. Darin wurde – mit dem Segen Großbritanniens - als Ziel ein Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen als konstitutionelle Monarchie unter der serbischen Dynastie Karadordevic formuliert. Trumbic hatte 1915 im Pariser Exil das »Jugoslawische Komitee« – eine Vereinigung von südslawischen Politikern aus der k. u. k. Monarchie – gegründet mit dem Ziel, einen südslawischen Staat zu schaffen. (1) Diese südslawische Einheitsidee entstammte dem »Geiste des Kompromisses zwischen den großserbischen, zentralistischen und annexionistischen Bestrebungen der Radikalen Partei von Nikola Pašic«. (2)
Einen Tag vorher hatte Pašic zur Ausschaltung der Mitglieder der Organisation »Vereinigung oder Tod« – besser bekannt als »Schwarze Hand« – dem Kriegsminister geschrieben: »Insgesamt sind wir der Meinung, dass in solcher Weise vorgegangen werden muss, um unverzüglich mit dieser Sache aufzuräumen und zu verhüten, dass Europa davon spricht.« (3)
Was umschrieb Pašic mit »dieser Sache«? Wovon sollte Europa nicht sprechen? Es sollte nicht über den Justizmord (»Salonikiprozess«) an den Drahtziehern des Attentats von Sarajewo unter dem Geheimdienstoberst und führenden Mitglied des nationalistisch-terroristischen Geheimbunds »Schwarze Hand«, Dragutin T. Dimitrijevic, genannt Apis, sprechen. Mit weiteren acht angeklagten Offizieren war er am 5. Juni 1917 wegen Hochverrats – ihm wurde ein bis heute nicht nachzuweisender Anschlag auf den Regenten unterschoben – zum Tod verurteilt worden.
Während fünf nicht direkt am Attentat von Sarajewo beteiligte Offiziere begnadigt wurden, wurden Apis, Artillerie-Major Velimir Vulovic und Wachtmeister Radeta Malobabic am 26. Juni 1917 erschossen. Der Mord an Oberst Dimitrijevic machte den südslawischen Staat von Englands Gnaden erst möglich, denn der Patriot Dimitrijevic strebte ein Großserbien an und war gegen die Neuauflage eines Vielvölkerstaates. Dagegen wollte der gebürtige Bulgaro-Mazedonier Pašic Serbien zum Zentrum der jugoslawischen Einigung machen. (4)
Der Fuchs Pašic hatte handfeste Gründe, die Urheber des Attentats von Sarajewo zu eliminieren, denn Oberst Dimitrijevic und Major Vulovic waren die Einzigen, die die genauen Umstände des Attentats von Sarajewo kannten, samt allen Verstrickungen des »ehrbaren« Staatsmannes Nikola Pašic und der russischen Botschaft (Major Tankosic war 1915 gefallen).
Damit die serbische Regierung auch künftig nicht mehr mit den Vorgängen in Sarajewo in Verbindung gebracht werden konnte, musste die »Schwarze Hand« zerschlagen werden. Als Vorwand sollten zwei Gewehrschüsse dienen, die am 10. September 1916 angeblich auf das mit dem serbischen Prinzregenten Alexander Karadordevic von der Front kommende Auto abgegeben wurden. Als sich herausstellte, dass an diesem Tag gar kein Frontbesuch stattgefunden hatte, telegrafierte Pašic dem Innenminister Ljuba Jovanovic nach Saloniki: »Setzen Sie das Datum des Attentats auf den 11. September fest.« (5)
Nun setzte eine Verhaftungswelle ein. Die ganze Organisation der Schwarzen Hand wurde zerschlagen, ihre Führer des Hochverrats angeklagt. Die nicht zur Radikalen Partei von Pašic gehörenden Mitglieder wurden ihrer Stellung enthoben, pensioniert oder nach Bizerta verschleppt, einer Hafenstadt am Mittelmeer im nördlichen Tunesien. Im dortigen französischen Konzentrationslager wurden sie dann als »Boches« empfangen. Diejenigen Mitglieder der Schwarzen Hand, die zugleich auch Mitglied von Pašics Partei waren, wurden in ihren hohen Stellungen belassen.
1953 wurde auf Anordnung des legendären jugoslawischen Minister- und Staatspräsidenten (1945–1980) Josip Broz Tito, der Jugoslawien mit eiserner Hand einte, eine Wiederaufnahme des berühmten »Saloniki«-Prozesses vom Obersten Gerichtshof vorgenommen.
Fast auf den Tag genau 36 Jahre nach der Hinrichtung von Apis und zwei seiner Mitangeklagten sprach der Oberste Gerichtshof Titos sämtliche Angeklagten frei. Zwei Belastungszeugen beeideten vor Gericht, 1917 durch Todesdrohungen zu falschen Aussagen erpresst worden zu sein. Offensichtlich ging es 1917 ausschließlich darum, den Einfluss des Geheimdienstchefs Apis auf die Innenpolitik zu stoppen und die Regierung vor Enthüllungen im Sarajewo-Komplott zu bewahren. Im Verfahren wurden die Opfer von 1917 voll rehabilitiert, und es wurde festgehalten, dass die damaligen Hinrichtungen ein bewusster Justizmord waren – was die Geschichtsforschung schon immer vermutet hatte. Daneben wurde aber die vielleicht noch wichtigere historische Tatsache dokumentiert, dass der amtierende Chef einer serbischen Behörde für den Thronfolgermord in Sarajewo verantwortlich war. Dazu wurde im Belgrader Wiederaufnahmeverfahren ein Bericht von Dimitrijevics (Apis) eigener Hand vorgelesen und als Sensation in der jugoslawischen Presse im Faksimile reproduziert. Darin bekennt Apis, dass er in seiner Funktion als serbischer Geheimdienstchef den Mord von Sarajewo angeordnet und durch seine Agenten hat ausführen lassen.
Im gleichen Jahr, als die Opfer des Justizmordes von 1917 rehabilitiert wurden, begannen in Belgrad die Bauarbeiten für die Umgestaltung des Terazije-Platzes in den »Marx-und-Engels-Platz« zu Ehren der beiden kommunistischen Ideologen, architektonisch dominiert von massiven Gewerkschaftsgebäuden im Stil des sozialistischen Klassizismus. Als die kommunistische Ideologie an Zugkraft verloren hatte, dachte man in Belgrad wieder über Namensänderungen von Straßen und die Umgestaltung von Plätzen nach. Und so wurde 1998 auf dem Platz eine Statue von Nikola Pašic errichtet und der Platz nach diesem Justizmörder benannt (»Trg Nikole Pašica«)! Was war passiert?
Damals regierte Slobodan Miloševic Jugoslawien. Doch im Stadtparlament von Belgrad war seit 1997 die Opposition an der Macht - ehemals junge Studenten, die sich in Jugoslawien in den 70er-Jahren mit der Regierung angelegt, Haftstrafen bekommen und sich dann in den Westen abgesetzt hatten. Ein Vertreter dieser Generation ist Zoran Dindic, der 1952 als Sohn eines Offiziers in Bosnien zur Welt kam, nach dem Abitur in Belgrad Philosophie studierte und eine oppositionelle Gruppe gründete. Nach einer mehrmonatigen Haftstrafe setzte er sein Studium in Deutschland bei Jürgen Habermas fort und promovierte 1979 über »Marx’ kritische Gesellschaftstheorie und das Problem der Begründung«.
1989 wurde Dindic Professor in Novi Sad, wo er mit anderen serbischen Dissidenten die »Demokratische Partei« gründete, und 1997 der erste nicht-kommunistische Bürgermeister von Belgrad. Ein Jahr später wurde das Pašic-Denkmal aufgestellt und der Platz umbenannt. Ein Zeichen der Ergebenheit Dindics für den Westen? Immerhin hatte der britische Politiker Lloyd George schon Pašic im September 1914 als einen der fähigsten europäischen Staatsmänner bezeichnet!
Die Auflösung und Zerstörung Jugoslawiens
Am 25. Juni 1991 erklärten die jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Zwei Tage später brach der Bürgerkrieg aus. Im Herbst folgten die jugoslawischen Teilrepubliken Makedonien und Bosnien-Herzegowina – letztere gegen den Protest der serbischen Bevölkerungsminderheit. Der UN-Sicherheitsrat sah sich nun veranlasst, gegen das von bürgerkriegsähnlichen Kämpfen erschütterte Jugoslawien ein Waffenembargo zu verhängen. Die völkerrechtliche Anerkennung der nun souveränen jugoslawischen Teilrepubliken erfolgte seitens der EU zum 15. Januar 1992, wobei die Wirtschaftssanktionen gegen die jugoslawischen Teilrepubliken Serbien und Montenegro bestehen blieben.
Inzwischen hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst und Jugoslawien – bis dahin von den USA finanziell unterstützt – dadurch seine für die NATO strategische Rolle verloren. So wundert es nicht, dass der Kongress 1990 das »Foreign Operations Approbiatons Law 101-513« (6) verabschiedete, in dem die Mittel für Jugoslawien dramatisch gekürzt waren. Die New York Times zitierte am 27. November 1990 einen CIA-Bericht, der voraussagte, dass dieses Gesetz einen blutigen Bürgerkrieg auslösen würde.
Eine der größten und blutigsten Offensiven während des schon vier Jahre andauernden Bürgerkrieges startete am 3. August 1995 die von den USA unterstützte kroatische Armee mit dem Ziel, die Krajina – mehrheitlich von Serben bewohnt – ethnisch zu säubern. Nach vorausgegangenem NATO-Bombardement brachten die Kroaten die Krajina in ihre Gewalt und lösten damit die größte Flüchtlingswelle auf dem Balkan seit dem Zerfall Jugoslawiens aus. Annähernd 200.000 Krajina-Serben wurden aus ihren Heimstätten vertrieben. (7) Ein Sturm der Entrüstung – wie 1999 im Kosovo – blieb hier aus. Dem London Independent vom 6. August war zu entnehmen, dass die „Wiederbewaffnung und Ausbildung der kroatischen Streitkräfte, die zur Vorbereitung der laufenden Offensive durchgeführt worden waren, Teil eines typischen CIA-Einsatzes war: Wahrscheinlich des weitestreichenden Einsatzes dieser Art seit dem Ende des Vietnamkrieges.“
Der erst vier Monate zurückliegende Massenmord (8) in der Moslem-Enklave Srebrenica – im Verantwortungsbereich des serbisch-bosnischen Generals Ratko Mladic – war in Dayton noch gar kein Thema. Dort wurde auf Einladung Clintons das Friedensabkommen ausgehandelt, am 21. November 1995 vom serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic, dem kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman und dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina Alija Izetbegovic paraphiert und am 14. Dezember feierlich in Paris unterzeichnet. Damit konnte eine 60.000 Mann starke »Internationale Friedenstruppe für Bosnien« (IFOR) offiziell die Befehlsgewalt über die UN-Schutztruppen (UNPROFOR) übernehmen.
US-Präsident Clinton forderte alle Bürger Bosniens auf – Serben, Bosnier, Kroaten, Christen und Muslime – durch gegenseitige Toleranz für eine rasche Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton Sorge zu tragen. Warum verzichtete Clinton darauf, die Albaner zu erwähnen? Nun ja, die USA förderten bereits den Aufbau einer Untergrundarmee im Kosovo und schickten NATO-Stabsoffiziere in die Ausbildungslager der UCK!
Mit Anschlägen auf die serbischen Sicherheitskräfte und der Ermordung von Kosovo-albanischen »Kollaborateuren« machte die UCK auf sich aufmerksam. Im März 1998 veröffentlichte der Zentralstab der »Befreiungsarmee Kosovas« eine Erklärung:
„Das gestiegene internationale Interesse, besonders der amerikanischen und der französisch-deutschen Diplomatie, begrüßend, erklären wir, dass die Lösung der albanischen Frage nicht allein in den gegenwärtigen Grenzen Kosovas festgelegt werden kann, sondern sie muss als Ganze gelöst werden [...] Die Befreiungsarmee Kosovas ruft alle für die Befreiung des Landes fähigen Albaner auf, sich mit unseren Einheiten, die in den Gebieten kämpfen, zu vereinigen, in der Art, dass Kosova für den Feind ein unpassierbares Land wird. Tod den Feinden und Verrätern! Ehre den für die Freiheit Gefallenen!“ (9)
Ibrahim Rugova bestätigte Verbindungen der UCK zu Bin Laden und seiner Organisation al-Qaida. Er nannte auch die Kanäle der Waffenlieferungen: Türkei, Tschechien, die Slowakei, Montenegro, Albanien, Kroatien, Italien und Deutschland, wobei die notwendigen Gelder aus dem Rauschgifthandel stammten oder als Zwangsabgaben von den in Europa lebenden Albanern erpresst wurden. Im Sommer 1998 rief die UCK alle Albaner, auch die im Ausland, zum bewaffneten Kampf für die Errichtung eines eigenen unabhängigen Staates auf. Damit befand sich diese separatistische Terrororganisation auf der gleichen Ebene wie die ETA in Spanien oder die IRA in Nordirland.
Auf die Forderung nach Einstellung der Feindseligkeiten durch den UN-Sicherheitsrat und den Waffenstillstand im Kosovo folgte am 16. Oktober die Einrichtung der Kosovo Verification Mission (KVM) durch die OSZE. Dadurch beruhigte sich die Lage im Kosovo. Der Tod von 45 Albanern, die am 17. Januar 1999 bei einem Scharmützel bei Racak den Tod fanden, erregte dann die Medien und die Gemüter. Am darauf folgenden Tag erschien am Ort des Geschehens, von einem Medientross begleitet, der Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker. Auf Wirkung bedacht trat er vor das Mikrophon: „Ich sehe Leichen, denen, wie bei einer Hinrichtung, aus kürzester Entfernung ins Gesicht geschossen wurde. [...] Ich war in anderen Kriegsgebieten und habe sehr grauenvolle Dinge erlebt. Dies übertrifft aber alles, was ich je in meinem Leben gesehen habe.“ (10)
Dieser Aussage widersprach der damals leitende Bundeswehr-General bei der OSZE, Heinz Loquai: „Zu dieser Zeit konnte er [Walker] überhaupt noch kein Urteil fällen, aber dieses Urteil wurde von der OSZE übernommen, wurde von den Vereinten Nationen übernommen, wurde kritiklos von allen nationalen Regierungen übernommen. Die NATO kam am Tag darauf zu einer Sondersitzung zusammen, ein völlig ungewöhnliches Ereignis. Man kann schon sagen, mit diesem Verhalten hat Walker die Lunte zum Krieg gezündet.“ (11)
In dieser emotional aufgeheizten Situation wurde am 15. März 1999 in Rambouillet weiter verhandelt. Während drei Tage später die kosovo-albanische Delegation den von der Balkan-Kontaktgruppe ausgearbeiteten Vertragsentwurf unterzeichnete, verweigerten die Serben ihre Unterschrift, nicht wegen des Vertrags, sondern einzig und allein wegen des nicht verhandelbaren Anhangs. Darin bestimmte in Teil B Artikel 8 unmissverständlich:
„Das NATO-Personal soll sich mitsamt seinen Fahrzeugen Schiffen Flugzeugen und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraums und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.“ Obendrein sollte die NATO in allen rechtlichen Verfahren, ob zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlich, Immunität genießen.“
Der Anhang wurde von dem deutschen Außenminister Fischer dem Kabinett und dem Parlament (und damit auch der Öffentlichkeit) unterschlagen. Der damalige Finanzminister Lafontaine erfuhr davon erst viel später aus der Presse (12), ebenso wie die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, die dann äußerte: „Hätte ich das gewusst, hätte ich dem Kriegseinsatz nicht zugestimmt.“ Rudolf Augstein urteilte: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“ (13)
In diesen hektischen Tagen vor Kriegsbeginn verabschiedete der US-Kongress am 19. März das »Seidenstraßen-Strategie-Gesetz«, in dem Amerika seine Interessen vom Mittelmeer bis nach Zentralasien unterstreicht. Hier schienen wieder Apologeten des Geostrategen Mackinders am Werk gewesen zu sein – wie der Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski. In Hans-Dietrich Genschers Vorwort zu dessen Buch »Die einzige Weltmacht« heißt es: „Will Amerika auch künftig seine Weltmachtstellung behalten, so muß es seine ganze Aufmerksamkeit diesem Gebiet [»Eurasien«] zuwenden. Hier leben 74 Prozent der Weltbevölkerung, hier liegt der größte Teil der natürlichen Weltressourcen einschließlich der Energievorräte, und hier werden 60 Prozent des Weltbruttosozialproduktes erwirtschaftet. Im Raum von Lissabon bis Wladiwostok entscheidet sich deshalb das künftige Schicksal Amerikas.“ (14)
Fünf Tage später eröffnete die NATO mit ihren Luftangriffen den – völkerrechtswidrigen – Krieg gegen »Rest-Jugoslawien«. Die Vorbereitungen dafür liefen bereits seit Sommer 1998 auf Hochtouren, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Lage in Rest-Jugoslawien noch stabil war.
Ungeachtet der täglichen Luftschläge in Restjugoslawien trafen sich die NATO-Mitglieder am 23. April in Washington zur Feier des 50. Gründungsjubiläums der NATO. Für die zu erweiternde NATO und die kommenden Aufgaben im 21. Jahrhundert stellte US-Präsident Clinton das neue strategische Konzept vor: Weg vom reinen Verteidigungsbündnis und hin zur Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum, wobei die NATO zukünftig »im begrenzten Rahmen« ohne UN-Mandat tätig werden könne. Der ehemalige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber General a.D. Gerd Schmückle brachte die neuen Interventionsziele der NATO auf den Punkt: “Letzten Endes entscheiden die Interessen der Vereinigten Staaten darüber, wo interveniert wird. Alles dreht sich um die Ökonomie. Wo gibt es Öl, wo sind die zukünftigen Ölquellen?“ (15)
War der Jugoslawien-Krieg bereits ein Testlauf für diese neue NATO-Strategie?
"Freedom and Democracy"
Hinter den üblichen Floskeln von Freiheit und Demokratie standen handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen. (16) Diese wurden Ende April 2000 bei einer Konferenz des US-Außenministeriums zu den Themen Balkan und NATO-Osterweiterung in Bratislava unverblümt erläutert.
In seiner Funktion als Vizepräsident der OSZE-Versammlung war auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer geladen, der so alarmiert war, dass er sofort nach der Konferenz den amtierenden SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Brief (17) über die wahren Hintergründe des Jugoslawienkrieges und die künftigen geostrategischen Absichten der USA informierte – ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Unter Pkt. 7 und Pkt. 8 heißt es da:
»Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wieder herzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.« (18)
Dieser Plan wird seitdem konsequent umgesetzt. Unmissverständlich stellte Altkanzler Helmut Schmidt am Ende der ersten Kriegswoche fest: »Gegängelt von den USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet«, (19) und der US-Politologe und Kriegsforscher Professor Daniel Kolko schrieb nach dem Krieg im Berliner Tagesspiegel: »Für die USA ging es darum, militärische Macht zu demonstrieren und ihre Vormachtstellung in der NATO auszubauen.« (20) Der mit einer Lüge erzwungene Krieg ersetzte das Völkerrecht durch das »Recht der Mächtigen«.
82 Jahre nach der »Deklaration von Korfu« zerschlug England im Bündnis mit den USA das von ihm selbst 1917 geschaffene Jugoslawien. Stand Rest-Jugoslawien der NATO-Osterweiterung im Weg? Oder hatte es sich zu sehr an China gebunden, wie der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vermuten lässt? Nach Christopher Clark hat die NATO im Frühjahr 1999 die Serben viel stärker unter Druck gesetzt als Österreich-Ungarn im Juli 1914 - er fragt: »Lag das vor allem daran, dass Russland als Großmacht aus dem Spiel war?« (21) Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien, Ukraine, Ägypten usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange kein Ende finden wird, bis die Triebkräfte, die in den Ersten Weltkrieg geführt haben, aufgedeckt sind und die Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung münden.
Hier wäre es sicherlich hilfreich, wenn sich nicht nur die geschichtliche Forschung, sondern auch die Öffentlichkeit an Hankeys Memoiren aus der Zeit des Ersten Weltkrieges erinnern würde, die einen Einblick in die Kabinetts- und Regierungsstrukturen der Zeit vor 1914 ermöglichen und Rückschlüsse auf die Mentalität und das politische Kalkül sowie die außenpolitische Erwartungshaltung der damaligen britischen Regierung erlauben. Seine Aufzeichnungen können bei der Ausleuchtung der Wege in den Ersten Weltkrieg und bei der Frage um die Vermeidbarkeit dieses verheerenden Krieges eine wichtige Rolle spielen. Damit wäre dann auch die These des »kollektiven Hereinschlitterns« [Lloyd George] der europäischen Mächte in den Krieg nicht mehr haltbar.
In seinem beachtenswerten Buch Politics, Trials and Errors (22) weist Hankey darauf hin, dass Kriege in der Regel durch die Politik begonnen werden. Sie brechen nicht einfach aus, ihnen gehen lange Verhandlungen, Konferenzen, internationale Anstrengungen für den Frieden, Bedrohungen, Kalter Krieg und unerträgliche Belastungen voraus, die dann in einem Akt des Krieges gipfeln – mit oder ohne formelle Erklärung.
Für Hankey ist im Krieg einer der fragwürdigsten Schritte die Ankündigung der Politik der bedingungslosen Kapitulation, wie sie seit Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs gehandhabt wird. (Aktuell zu verfolgen bei der Forderung nach Assads Sturz.) Dadurch werden der Krieg und die Leiden der Menschen nur verlängert und bei Kriegsende eine friedensfördernde Einigung dauerhaft verhindert. Nun ist es endlich an der Zeit, die Thesen von Hankey umzusetzen!
Anfang Dezember 1999 veranstaltete das Zentrum für strategische und internationale Studien (CSIS) in Washington eine Konferenz zum Thema »Die Geopolitik der Energie für das 21. Jahrhundert«. Eine Neuauflage des »Großen Spiels« aus dem 19. Jahrhundert?
Geschickt hatte es damals England verstanden, mit Hilfe Frankreichs und Russlands dem niedergehenden Osmanischen Reich den Transkaukasus, Zentralasien und die Kaspische Senke zu entreissen. Nun eifert Amerika – die »einzig verbliebene Weltmacht« – England nach. Die Vereinigten Staaten wollen das »Große Spiel« spielen und dabei noch die Pax Romana oder Pax Britannica übertreffen. „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlage tiefgreifend verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereurasischer Staat nicht nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die überragende Weltmacht schlechthin hervor,“ analysiert Brzezinski, um dann weiter zu folgern: „Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden gegnerischen Macht verhindern kann.“ (23)
Europa, Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent, ist nach Brzezinski noch weit davon entfernt, eine gewichtige Rolle zu spielen. „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.“ (24) Dabei käme der Weltpolitik ein starkes und geeintes Europa zugute. „Die einzige Weltmacht ist so leicht in Gefahr, wie Helmut Schmidt schreibt, mit ‚innenpolitisch motivierter Rücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen‘. Eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.“ (25)
In einer 14-minütigen Antrittsrede verkündete am 20. Januar 2001 US-Präsident George W. Bush jun. sein politisches Credo: „Unser Mut als Nation war in Zeiten der Wirtschaftskrise und des Krieges eindeutig, als die Verteidigung gegen gemeinsame Gefahren das Allgemeinwohl definierte.“
Wirtschaftskrisen und Kriege – so lehrt uns die Vergangenheit – sind häufig siamesische Zwillinge. Das Wetterleuchten war jedenfalls nicht zu übersehen. Auch wenn im Irak noch Saddam Hussein unangefochten herrschte und nun in Washington wieder ein Bush regierte, war nicht alles beim alten geblieben. Das Leiden im Irak war angestiegen und die Anti-Saddam-Kriegskoalition längst zerbrochen. An der Wand stand schon das Menetekel eines dritten Golfkriegs.
Unmittelbar nach Einstellung der Bombenangriffe auf Jugoslawien wurde am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats verabschiedet. Im Kosovo wurde eine Zivilverwaltung sowie die internationale Sicherheitspräsenz KFOR etabliert. Gleichzeitig begannen die US-Streitkräfte in der Nähe von Urosevac ca. 25 km südlich von Pristina, das 3,86 Quadratkilometer große US-Camp Bondsteel aufzubauen, das größte Camp seit Ende des Vietnamkriegs. Hier können bis zu 7.000 Armeeangehörige aufgenommen werden. (26) Camp Bondsteel wurde zum Außenposten der USA für Operationen im Nahen Osten ausgebaut, der Grund für 99 Jahre gepachtet. So reicht die langfristige Bedeutung dieser im Zentrum Europas liegenden Basis weit über das Kosovo mit seinen zwei Millionen Einwohnern hinaus.
Sechs Monate nach seinem Amtsantritt stattete US-Präsident Bush am 24. Juli 2001 Camp Bondsteel einen Besuch ab. Eingangs bedankte sich Bush bei den Zivilisten und den Fremdfirmen, die sich am Bau von Bondsteel beteiligt hatten (27), um dann die Bedeutung dieses Camps hervorzuheben: »Wir streben eine Welt der Toleranz und der Freiheit an. Von Kosovo nach Kaschmir, vom Mittleren Osten nach Nordirland, ist Freiheit und Toleranz das definierte Ziel für unsere Welt. Und Ihr Dienst setzt hier ein Beispiel für die ganze Welt.« (28)
Anmerkungen:
1) Zit. Nach Rotberg, Robert: The Founder: Cecil Rhodes and the Persuit of Power, New York/Oxford 1988, S. 664-666
2) Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde der jugoslawische Staat als Königkreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet und vereinigte Serbien, Montenegro mit Gebieten der atomisierten Habsgurgermonarchie (Kroatien-Slawonien, Vojvodina, Dalmatien, Krain und Südsteiermark) sowie Bosnien-Herzegowina. Nach Serbien (Srba), Kroatien (Hrvata) und Slowenien (Slovenaca) wurde das Gebilde auch „SHS-Staat“ genannt.
3) Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer, München 1988, S. 192
4) http://lifehacker.rs/wp-content/uploads/2016/02/solunski_proces.jpg.gemeinfrei
5) Boghitschewitsch:“Mord und Justizmord“, Sonderh. D. Südd. Mon.hefte (Feb. 1929)
6) Gesetz über die Bewilligung von Mitteln an das Ausland für 1991.
7) Gesellschaft für bedrohte Völker: Gegen Vertreibung. In http://archiv.hamburger-illustrierte.de/arc2002/international/initiativen/gfb/gegenvertreibung.html vom 11.01.2005
8) Je nach Quellenlage zwischen 3.000 bis 7.000 Opfer
9) Erklärung Nr. 43, Zentralstab der Befreiungsarmee Kosovas, Prishtina 2. März 1998
10) vgl. Interview mit William Walker in: Berliner Zeitung vom 8.4. 2000 sowie Jungle World vom 3.3.1999
11) Monitorsendung vom 08. Februar 2001; vgl. auch:Loquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Baden Baden 2000
12) Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 243
13) Zitiert aus Lafontaine 1999, S. 243
14) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 2001, S. 10f.
15) Die Woche vom 1.4.1999
16) Boghitschewitsch:“Mord und Justizmord“, a.a.O.
17) Präsident Bill Clinton vor der US-Gewerkschaft American Federation of State, County and Municipal Employes (AFSCME): “Remarks to AFSCME Biennial Conventions, Washington, D.C. 23. März 1999.
18) Abdruck in Effenberger, Wolfgang/Wimmer, Willy: Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 547; siehe auch Willy Wimmer: Die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016.
19) Ebd., S. 548
20) Schmidt, Helmut, Frankfurter Rundschau, 3./4. April 1999
21) Kolko, Daniel: Tagesspiegel, 8. Mai 1999
22) Kilb, Andreas: „Alle diese Staaten waren Bösewichte“, 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark in „Aktuell Feulleton“ der FAZ.
23) Brzezinski 2001, S. 15
24) The Guardian am 23. Oktober 2001
25) Lafontaine 1999, S. 255
26) Camp Bondsteel ist modern ausgestattet und bietet zahlreiche Annehmlichkeiten und Einrichtungen des sozialen Lebens: ein Kino, Fitness-Studios, Sportplätze, zwei Kapellen, Bars, einen Supermarkt, mehrere Fastfood-Restaurants, Computer mit Internet-Anschluss und Videospiele. Im angeschlossenen Laura-Bush-Bildungszentrum können Kurse der University of Maryland und der University of Chicago belegt werden.
27) Camp Bondsteel ist für Halliburton eine Goldgrube. Von 1995 bis 2000 zahlt die US-Regierung an Kellogg, Brown & Root 2,2 Milliarden US-Dollar für logistische Unterstützung im Kosovo, was der teuerste Vertrag der US-Geschichte ist. Die Kosten für Kellogg, Brown & Root machen fast ein Sechstel der auf dem Balkan für Operationen ausgegebenen Gesamtkosten aus.
28) US-Präsident George am 24. Juli 2001 im Camp Bondsteel, unter http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/07/20010724-1.html vom 23. Juli 2008
Siehe auch:
Vorwort aus dem Buch "Europas Verhängnis – Kritische angloamerikanische Stimmen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs"
Wer war´s?
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 683 vom 21.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25411
Aus "Europas Verhängnis – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht"
Wir haben nicht mehr viel Zeit
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 665 vom 27.06.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25000
Zivadin Jovanovic: „1244 – Ein Schlüssel zum Frieden in Europa“
Vorschläge zu einer gerechten und nachhaltigen Lösung des Kosovo- und Metohija-Problems
Von Milica Radojkovic-Hänsel
NRhZ 683 vom 21.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25409
Zeitzeugen des Großen Krieges 1914-1918
„Die Jugend starb, bevor sie zu leben beginnen konnte“
Von Rudolf Hänsel
NRhZ 681 vom 07.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25367
Online-Flyer Nr. 683 vom 21.11.2018
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Betrachtung 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs
Serbien – Spielball der Großmächte
Von Wolfgang Effenberger
Bei den Feierlichkeiten in Paris am 11. November 2018 hat die Protokollabteilung des Elysee-Palasts den Präsidenten von Serbien, Aleksandar Vucic, von der Haupttribüne ausgeschlossen. An seiner Stelle durfte sich der Präsident des erst nach 1999 entstandenen Kosovo, der umstrittene ehemalige UCK-Kämpfer Hashim Thaci, in der Nähe des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, postieren. Ein unglaublicher Affront, der die Geschichtsklitterung der westlichen Wertegemeinschaft entlarvt. Angesichts der aktuellen Diskussion um ein europäisches „Empire“ und die Schaffung einer europäischen Armee ist es dringend notwendig, an die Geschichte der letzten hundert Jahre zu erinnern. Sie soll hier exemplarisch am Schicksal Jugoslawiens aufgezeigt werden. Der letzte Abschnitt ist auch ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Sarajewo: Geschichte einer erfolgreichen Vertuschung
Am 20. Juli 1917 unterzeichnete der serbische Ministerpräsident Nikola Pašic gemeinsam mit dem kroatischen Politiker Ante Trumbic die so genannte »Deklaration von Korfu«. Darin wurde – mit dem Segen Großbritanniens - als Ziel ein Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen als konstitutionelle Monarchie unter der serbischen Dynastie Karadordevic formuliert. Trumbic hatte 1915 im Pariser Exil das »Jugoslawische Komitee« – eine Vereinigung von südslawischen Politikern aus der k. u. k. Monarchie – gegründet mit dem Ziel, einen südslawischen Staat zu schaffen. (1) Diese südslawische Einheitsidee entstammte dem »Geiste des Kompromisses zwischen den großserbischen, zentralistischen und annexionistischen Bestrebungen der Radikalen Partei von Nikola Pašic«. (2)
Einen Tag vorher hatte Pašic zur Ausschaltung der Mitglieder der Organisation »Vereinigung oder Tod« – besser bekannt als »Schwarze Hand« – dem Kriegsminister geschrieben: »Insgesamt sind wir der Meinung, dass in solcher Weise vorgegangen werden muss, um unverzüglich mit dieser Sache aufzuräumen und zu verhüten, dass Europa davon spricht.« (3)
Was umschrieb Pašic mit »dieser Sache«? Wovon sollte Europa nicht sprechen? Es sollte nicht über den Justizmord (»Salonikiprozess«) an den Drahtziehern des Attentats von Sarajewo unter dem Geheimdienstoberst und führenden Mitglied des nationalistisch-terroristischen Geheimbunds »Schwarze Hand«, Dragutin T. Dimitrijevic, genannt Apis, sprechen. Mit weiteren acht angeklagten Offizieren war er am 5. Juni 1917 wegen Hochverrats – ihm wurde ein bis heute nicht nachzuweisender Anschlag auf den Regenten unterschoben – zum Tod verurteilt worden.
Während fünf nicht direkt am Attentat von Sarajewo beteiligte Offiziere begnadigt wurden, wurden Apis, Artillerie-Major Velimir Vulovic und Wachtmeister Radeta Malobabic am 26. Juni 1917 erschossen. Der Mord an Oberst Dimitrijevic machte den südslawischen Staat von Englands Gnaden erst möglich, denn der Patriot Dimitrijevic strebte ein Großserbien an und war gegen die Neuauflage eines Vielvölkerstaates. Dagegen wollte der gebürtige Bulgaro-Mazedonier Pašic Serbien zum Zentrum der jugoslawischen Einigung machen. (4)
Der Fuchs Pašic hatte handfeste Gründe, die Urheber des Attentats von Sarajewo zu eliminieren, denn Oberst Dimitrijevic und Major Vulovic waren die Einzigen, die die genauen Umstände des Attentats von Sarajewo kannten, samt allen Verstrickungen des »ehrbaren« Staatsmannes Nikola Pašic und der russischen Botschaft (Major Tankosic war 1915 gefallen).
Damit die serbische Regierung auch künftig nicht mehr mit den Vorgängen in Sarajewo in Verbindung gebracht werden konnte, musste die »Schwarze Hand« zerschlagen werden. Als Vorwand sollten zwei Gewehrschüsse dienen, die am 10. September 1916 angeblich auf das mit dem serbischen Prinzregenten Alexander Karadordevic von der Front kommende Auto abgegeben wurden. Als sich herausstellte, dass an diesem Tag gar kein Frontbesuch stattgefunden hatte, telegrafierte Pašic dem Innenminister Ljuba Jovanovic nach Saloniki: »Setzen Sie das Datum des Attentats auf den 11. September fest.« (5)
Nun setzte eine Verhaftungswelle ein. Die ganze Organisation der Schwarzen Hand wurde zerschlagen, ihre Führer des Hochverrats angeklagt. Die nicht zur Radikalen Partei von Pašic gehörenden Mitglieder wurden ihrer Stellung enthoben, pensioniert oder nach Bizerta verschleppt, einer Hafenstadt am Mittelmeer im nördlichen Tunesien. Im dortigen französischen Konzentrationslager wurden sie dann als »Boches« empfangen. Diejenigen Mitglieder der Schwarzen Hand, die zugleich auch Mitglied von Pašics Partei waren, wurden in ihren hohen Stellungen belassen.
1953 wurde auf Anordnung des legendären jugoslawischen Minister- und Staatspräsidenten (1945–1980) Josip Broz Tito, der Jugoslawien mit eiserner Hand einte, eine Wiederaufnahme des berühmten »Saloniki«-Prozesses vom Obersten Gerichtshof vorgenommen.
Fast auf den Tag genau 36 Jahre nach der Hinrichtung von Apis und zwei seiner Mitangeklagten sprach der Oberste Gerichtshof Titos sämtliche Angeklagten frei. Zwei Belastungszeugen beeideten vor Gericht, 1917 durch Todesdrohungen zu falschen Aussagen erpresst worden zu sein. Offensichtlich ging es 1917 ausschließlich darum, den Einfluss des Geheimdienstchefs Apis auf die Innenpolitik zu stoppen und die Regierung vor Enthüllungen im Sarajewo-Komplott zu bewahren. Im Verfahren wurden die Opfer von 1917 voll rehabilitiert, und es wurde festgehalten, dass die damaligen Hinrichtungen ein bewusster Justizmord waren – was die Geschichtsforschung schon immer vermutet hatte. Daneben wurde aber die vielleicht noch wichtigere historische Tatsache dokumentiert, dass der amtierende Chef einer serbischen Behörde für den Thronfolgermord in Sarajewo verantwortlich war. Dazu wurde im Belgrader Wiederaufnahmeverfahren ein Bericht von Dimitrijevics (Apis) eigener Hand vorgelesen und als Sensation in der jugoslawischen Presse im Faksimile reproduziert. Darin bekennt Apis, dass er in seiner Funktion als serbischer Geheimdienstchef den Mord von Sarajewo angeordnet und durch seine Agenten hat ausführen lassen.
Im gleichen Jahr, als die Opfer des Justizmordes von 1917 rehabilitiert wurden, begannen in Belgrad die Bauarbeiten für die Umgestaltung des Terazije-Platzes in den »Marx-und-Engels-Platz« zu Ehren der beiden kommunistischen Ideologen, architektonisch dominiert von massiven Gewerkschaftsgebäuden im Stil des sozialistischen Klassizismus. Als die kommunistische Ideologie an Zugkraft verloren hatte, dachte man in Belgrad wieder über Namensänderungen von Straßen und die Umgestaltung von Plätzen nach. Und so wurde 1998 auf dem Platz eine Statue von Nikola Pašic errichtet und der Platz nach diesem Justizmörder benannt (»Trg Nikole Pašica«)! Was war passiert?
Damals regierte Slobodan Miloševic Jugoslawien. Doch im Stadtparlament von Belgrad war seit 1997 die Opposition an der Macht - ehemals junge Studenten, die sich in Jugoslawien in den 70er-Jahren mit der Regierung angelegt, Haftstrafen bekommen und sich dann in den Westen abgesetzt hatten. Ein Vertreter dieser Generation ist Zoran Dindic, der 1952 als Sohn eines Offiziers in Bosnien zur Welt kam, nach dem Abitur in Belgrad Philosophie studierte und eine oppositionelle Gruppe gründete. Nach einer mehrmonatigen Haftstrafe setzte er sein Studium in Deutschland bei Jürgen Habermas fort und promovierte 1979 über »Marx’ kritische Gesellschaftstheorie und das Problem der Begründung«.
1989 wurde Dindic Professor in Novi Sad, wo er mit anderen serbischen Dissidenten die »Demokratische Partei« gründete, und 1997 der erste nicht-kommunistische Bürgermeister von Belgrad. Ein Jahr später wurde das Pašic-Denkmal aufgestellt und der Platz umbenannt. Ein Zeichen der Ergebenheit Dindics für den Westen? Immerhin hatte der britische Politiker Lloyd George schon Pašic im September 1914 als einen der fähigsten europäischen Staatsmänner bezeichnet!
Die Auflösung und Zerstörung Jugoslawiens
Am 25. Juni 1991 erklärten die jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Zwei Tage später brach der Bürgerkrieg aus. Im Herbst folgten die jugoslawischen Teilrepubliken Makedonien und Bosnien-Herzegowina – letztere gegen den Protest der serbischen Bevölkerungsminderheit. Der UN-Sicherheitsrat sah sich nun veranlasst, gegen das von bürgerkriegsähnlichen Kämpfen erschütterte Jugoslawien ein Waffenembargo zu verhängen. Die völkerrechtliche Anerkennung der nun souveränen jugoslawischen Teilrepubliken erfolgte seitens der EU zum 15. Januar 1992, wobei die Wirtschaftssanktionen gegen die jugoslawischen Teilrepubliken Serbien und Montenegro bestehen blieben.
Inzwischen hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst und Jugoslawien – bis dahin von den USA finanziell unterstützt – dadurch seine für die NATO strategische Rolle verloren. So wundert es nicht, dass der Kongress 1990 das »Foreign Operations Approbiatons Law 101-513« (6) verabschiedete, in dem die Mittel für Jugoslawien dramatisch gekürzt waren. Die New York Times zitierte am 27. November 1990 einen CIA-Bericht, der voraussagte, dass dieses Gesetz einen blutigen Bürgerkrieg auslösen würde.
Eine der größten und blutigsten Offensiven während des schon vier Jahre andauernden Bürgerkrieges startete am 3. August 1995 die von den USA unterstützte kroatische Armee mit dem Ziel, die Krajina – mehrheitlich von Serben bewohnt – ethnisch zu säubern. Nach vorausgegangenem NATO-Bombardement brachten die Kroaten die Krajina in ihre Gewalt und lösten damit die größte Flüchtlingswelle auf dem Balkan seit dem Zerfall Jugoslawiens aus. Annähernd 200.000 Krajina-Serben wurden aus ihren Heimstätten vertrieben. (7) Ein Sturm der Entrüstung – wie 1999 im Kosovo – blieb hier aus. Dem London Independent vom 6. August war zu entnehmen, dass die „Wiederbewaffnung und Ausbildung der kroatischen Streitkräfte, die zur Vorbereitung der laufenden Offensive durchgeführt worden waren, Teil eines typischen CIA-Einsatzes war: Wahrscheinlich des weitestreichenden Einsatzes dieser Art seit dem Ende des Vietnamkrieges.“
Der erst vier Monate zurückliegende Massenmord (8) in der Moslem-Enklave Srebrenica – im Verantwortungsbereich des serbisch-bosnischen Generals Ratko Mladic – war in Dayton noch gar kein Thema. Dort wurde auf Einladung Clintons das Friedensabkommen ausgehandelt, am 21. November 1995 vom serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic, dem kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman und dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina Alija Izetbegovic paraphiert und am 14. Dezember feierlich in Paris unterzeichnet. Damit konnte eine 60.000 Mann starke »Internationale Friedenstruppe für Bosnien« (IFOR) offiziell die Befehlsgewalt über die UN-Schutztruppen (UNPROFOR) übernehmen.
US-Präsident Clinton forderte alle Bürger Bosniens auf – Serben, Bosnier, Kroaten, Christen und Muslime – durch gegenseitige Toleranz für eine rasche Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton Sorge zu tragen. Warum verzichtete Clinton darauf, die Albaner zu erwähnen? Nun ja, die USA förderten bereits den Aufbau einer Untergrundarmee im Kosovo und schickten NATO-Stabsoffiziere in die Ausbildungslager der UCK!
Mit Anschlägen auf die serbischen Sicherheitskräfte und der Ermordung von Kosovo-albanischen »Kollaborateuren« machte die UCK auf sich aufmerksam. Im März 1998 veröffentlichte der Zentralstab der »Befreiungsarmee Kosovas« eine Erklärung:
„Das gestiegene internationale Interesse, besonders der amerikanischen und der französisch-deutschen Diplomatie, begrüßend, erklären wir, dass die Lösung der albanischen Frage nicht allein in den gegenwärtigen Grenzen Kosovas festgelegt werden kann, sondern sie muss als Ganze gelöst werden [...] Die Befreiungsarmee Kosovas ruft alle für die Befreiung des Landes fähigen Albaner auf, sich mit unseren Einheiten, die in den Gebieten kämpfen, zu vereinigen, in der Art, dass Kosova für den Feind ein unpassierbares Land wird. Tod den Feinden und Verrätern! Ehre den für die Freiheit Gefallenen!“ (9)
Ibrahim Rugova bestätigte Verbindungen der UCK zu Bin Laden und seiner Organisation al-Qaida. Er nannte auch die Kanäle der Waffenlieferungen: Türkei, Tschechien, die Slowakei, Montenegro, Albanien, Kroatien, Italien und Deutschland, wobei die notwendigen Gelder aus dem Rauschgifthandel stammten oder als Zwangsabgaben von den in Europa lebenden Albanern erpresst wurden. Im Sommer 1998 rief die UCK alle Albaner, auch die im Ausland, zum bewaffneten Kampf für die Errichtung eines eigenen unabhängigen Staates auf. Damit befand sich diese separatistische Terrororganisation auf der gleichen Ebene wie die ETA in Spanien oder die IRA in Nordirland.
Auf die Forderung nach Einstellung der Feindseligkeiten durch den UN-Sicherheitsrat und den Waffenstillstand im Kosovo folgte am 16. Oktober die Einrichtung der Kosovo Verification Mission (KVM) durch die OSZE. Dadurch beruhigte sich die Lage im Kosovo. Der Tod von 45 Albanern, die am 17. Januar 1999 bei einem Scharmützel bei Racak den Tod fanden, erregte dann die Medien und die Gemüter. Am darauf folgenden Tag erschien am Ort des Geschehens, von einem Medientross begleitet, der Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker. Auf Wirkung bedacht trat er vor das Mikrophon: „Ich sehe Leichen, denen, wie bei einer Hinrichtung, aus kürzester Entfernung ins Gesicht geschossen wurde. [...] Ich war in anderen Kriegsgebieten und habe sehr grauenvolle Dinge erlebt. Dies übertrifft aber alles, was ich je in meinem Leben gesehen habe.“ (10)
Dieser Aussage widersprach der damals leitende Bundeswehr-General bei der OSZE, Heinz Loquai: „Zu dieser Zeit konnte er [Walker] überhaupt noch kein Urteil fällen, aber dieses Urteil wurde von der OSZE übernommen, wurde von den Vereinten Nationen übernommen, wurde kritiklos von allen nationalen Regierungen übernommen. Die NATO kam am Tag darauf zu einer Sondersitzung zusammen, ein völlig ungewöhnliches Ereignis. Man kann schon sagen, mit diesem Verhalten hat Walker die Lunte zum Krieg gezündet.“ (11)
In dieser emotional aufgeheizten Situation wurde am 15. März 1999 in Rambouillet weiter verhandelt. Während drei Tage später die kosovo-albanische Delegation den von der Balkan-Kontaktgruppe ausgearbeiteten Vertragsentwurf unterzeichnete, verweigerten die Serben ihre Unterschrift, nicht wegen des Vertrags, sondern einzig und allein wegen des nicht verhandelbaren Anhangs. Darin bestimmte in Teil B Artikel 8 unmissverständlich:
„Das NATO-Personal soll sich mitsamt seinen Fahrzeugen Schiffen Flugzeugen und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraums und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.“ Obendrein sollte die NATO in allen rechtlichen Verfahren, ob zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlich, Immunität genießen.“
Der Anhang wurde von dem deutschen Außenminister Fischer dem Kabinett und dem Parlament (und damit auch der Öffentlichkeit) unterschlagen. Der damalige Finanzminister Lafontaine erfuhr davon erst viel später aus der Presse (12), ebenso wie die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, die dann äußerte: „Hätte ich das gewusst, hätte ich dem Kriegseinsatz nicht zugestimmt.“ Rudolf Augstein urteilte: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“ (13)
In diesen hektischen Tagen vor Kriegsbeginn verabschiedete der US-Kongress am 19. März das »Seidenstraßen-Strategie-Gesetz«, in dem Amerika seine Interessen vom Mittelmeer bis nach Zentralasien unterstreicht. Hier schienen wieder Apologeten des Geostrategen Mackinders am Werk gewesen zu sein – wie der Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski. In Hans-Dietrich Genschers Vorwort zu dessen Buch »Die einzige Weltmacht« heißt es: „Will Amerika auch künftig seine Weltmachtstellung behalten, so muß es seine ganze Aufmerksamkeit diesem Gebiet [»Eurasien«] zuwenden. Hier leben 74 Prozent der Weltbevölkerung, hier liegt der größte Teil der natürlichen Weltressourcen einschließlich der Energievorräte, und hier werden 60 Prozent des Weltbruttosozialproduktes erwirtschaftet. Im Raum von Lissabon bis Wladiwostok entscheidet sich deshalb das künftige Schicksal Amerikas.“ (14)
Fünf Tage später eröffnete die NATO mit ihren Luftangriffen den – völkerrechtswidrigen – Krieg gegen »Rest-Jugoslawien«. Die Vorbereitungen dafür liefen bereits seit Sommer 1998 auf Hochtouren, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Lage in Rest-Jugoslawien noch stabil war.
Ungeachtet der täglichen Luftschläge in Restjugoslawien trafen sich die NATO-Mitglieder am 23. April in Washington zur Feier des 50. Gründungsjubiläums der NATO. Für die zu erweiternde NATO und die kommenden Aufgaben im 21. Jahrhundert stellte US-Präsident Clinton das neue strategische Konzept vor: Weg vom reinen Verteidigungsbündnis und hin zur Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum, wobei die NATO zukünftig »im begrenzten Rahmen« ohne UN-Mandat tätig werden könne. Der ehemalige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber General a.D. Gerd Schmückle brachte die neuen Interventionsziele der NATO auf den Punkt: “Letzten Endes entscheiden die Interessen der Vereinigten Staaten darüber, wo interveniert wird. Alles dreht sich um die Ökonomie. Wo gibt es Öl, wo sind die zukünftigen Ölquellen?“ (15)
War der Jugoslawien-Krieg bereits ein Testlauf für diese neue NATO-Strategie?
"Freedom and Democracy"
Hinter den üblichen Floskeln von Freiheit und Demokratie standen handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen. (16) Diese wurden Ende April 2000 bei einer Konferenz des US-Außenministeriums zu den Themen Balkan und NATO-Osterweiterung in Bratislava unverblümt erläutert.
In seiner Funktion als Vizepräsident der OSZE-Versammlung war auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer geladen, der so alarmiert war, dass er sofort nach der Konferenz den amtierenden SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Brief (17) über die wahren Hintergründe des Jugoslawienkrieges und die künftigen geostrategischen Absichten der USA informierte – ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Unter Pkt. 7 und Pkt. 8 heißt es da:
»Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wieder herzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.« (18)
Dieser Plan wird seitdem konsequent umgesetzt. Unmissverständlich stellte Altkanzler Helmut Schmidt am Ende der ersten Kriegswoche fest: »Gegängelt von den USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet«, (19) und der US-Politologe und Kriegsforscher Professor Daniel Kolko schrieb nach dem Krieg im Berliner Tagesspiegel: »Für die USA ging es darum, militärische Macht zu demonstrieren und ihre Vormachtstellung in der NATO auszubauen.« (20) Der mit einer Lüge erzwungene Krieg ersetzte das Völkerrecht durch das »Recht der Mächtigen«.
82 Jahre nach der »Deklaration von Korfu« zerschlug England im Bündnis mit den USA das von ihm selbst 1917 geschaffene Jugoslawien. Stand Rest-Jugoslawien der NATO-Osterweiterung im Weg? Oder hatte es sich zu sehr an China gebunden, wie der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vermuten lässt? Nach Christopher Clark hat die NATO im Frühjahr 1999 die Serben viel stärker unter Druck gesetzt als Österreich-Ungarn im Juli 1914 - er fragt: »Lag das vor allem daran, dass Russland als Großmacht aus dem Spiel war?« (21) Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien, Ukraine, Ägypten usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange kein Ende finden wird, bis die Triebkräfte, die in den Ersten Weltkrieg geführt haben, aufgedeckt sind und die Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung münden.
Hier wäre es sicherlich hilfreich, wenn sich nicht nur die geschichtliche Forschung, sondern auch die Öffentlichkeit an Hankeys Memoiren aus der Zeit des Ersten Weltkrieges erinnern würde, die einen Einblick in die Kabinetts- und Regierungsstrukturen der Zeit vor 1914 ermöglichen und Rückschlüsse auf die Mentalität und das politische Kalkül sowie die außenpolitische Erwartungshaltung der damaligen britischen Regierung erlauben. Seine Aufzeichnungen können bei der Ausleuchtung der Wege in den Ersten Weltkrieg und bei der Frage um die Vermeidbarkeit dieses verheerenden Krieges eine wichtige Rolle spielen. Damit wäre dann auch die These des »kollektiven Hereinschlitterns« [Lloyd George] der europäischen Mächte in den Krieg nicht mehr haltbar.
In seinem beachtenswerten Buch Politics, Trials and Errors (22) weist Hankey darauf hin, dass Kriege in der Regel durch die Politik begonnen werden. Sie brechen nicht einfach aus, ihnen gehen lange Verhandlungen, Konferenzen, internationale Anstrengungen für den Frieden, Bedrohungen, Kalter Krieg und unerträgliche Belastungen voraus, die dann in einem Akt des Krieges gipfeln – mit oder ohne formelle Erklärung.
Für Hankey ist im Krieg einer der fragwürdigsten Schritte die Ankündigung der Politik der bedingungslosen Kapitulation, wie sie seit Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs gehandhabt wird. (Aktuell zu verfolgen bei der Forderung nach Assads Sturz.) Dadurch werden der Krieg und die Leiden der Menschen nur verlängert und bei Kriegsende eine friedensfördernde Einigung dauerhaft verhindert. Nun ist es endlich an der Zeit, die Thesen von Hankey umzusetzen!
Anfang Dezember 1999 veranstaltete das Zentrum für strategische und internationale Studien (CSIS) in Washington eine Konferenz zum Thema »Die Geopolitik der Energie für das 21. Jahrhundert«. Eine Neuauflage des »Großen Spiels« aus dem 19. Jahrhundert?
Geschickt hatte es damals England verstanden, mit Hilfe Frankreichs und Russlands dem niedergehenden Osmanischen Reich den Transkaukasus, Zentralasien und die Kaspische Senke zu entreissen. Nun eifert Amerika – die »einzig verbliebene Weltmacht« – England nach. Die Vereinigten Staaten wollen das »Große Spiel« spielen und dabei noch die Pax Romana oder Pax Britannica übertreffen. „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlage tiefgreifend verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereurasischer Staat nicht nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die überragende Weltmacht schlechthin hervor,“ analysiert Brzezinski, um dann weiter zu folgern: „Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden gegnerischen Macht verhindern kann.“ (23)
Europa, Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent, ist nach Brzezinski noch weit davon entfernt, eine gewichtige Rolle zu spielen. „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.“ (24) Dabei käme der Weltpolitik ein starkes und geeintes Europa zugute. „Die einzige Weltmacht ist so leicht in Gefahr, wie Helmut Schmidt schreibt, mit ‚innenpolitisch motivierter Rücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen‘. Eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.“ (25)
In einer 14-minütigen Antrittsrede verkündete am 20. Januar 2001 US-Präsident George W. Bush jun. sein politisches Credo: „Unser Mut als Nation war in Zeiten der Wirtschaftskrise und des Krieges eindeutig, als die Verteidigung gegen gemeinsame Gefahren das Allgemeinwohl definierte.“
Wirtschaftskrisen und Kriege – so lehrt uns die Vergangenheit – sind häufig siamesische Zwillinge. Das Wetterleuchten war jedenfalls nicht zu übersehen. Auch wenn im Irak noch Saddam Hussein unangefochten herrschte und nun in Washington wieder ein Bush regierte, war nicht alles beim alten geblieben. Das Leiden im Irak war angestiegen und die Anti-Saddam-Kriegskoalition längst zerbrochen. An der Wand stand schon das Menetekel eines dritten Golfkriegs.
Unmittelbar nach Einstellung der Bombenangriffe auf Jugoslawien wurde am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats verabschiedet. Im Kosovo wurde eine Zivilverwaltung sowie die internationale Sicherheitspräsenz KFOR etabliert. Gleichzeitig begannen die US-Streitkräfte in der Nähe von Urosevac ca. 25 km südlich von Pristina, das 3,86 Quadratkilometer große US-Camp Bondsteel aufzubauen, das größte Camp seit Ende des Vietnamkriegs. Hier können bis zu 7.000 Armeeangehörige aufgenommen werden. (26) Camp Bondsteel wurde zum Außenposten der USA für Operationen im Nahen Osten ausgebaut, der Grund für 99 Jahre gepachtet. So reicht die langfristige Bedeutung dieser im Zentrum Europas liegenden Basis weit über das Kosovo mit seinen zwei Millionen Einwohnern hinaus.
Sechs Monate nach seinem Amtsantritt stattete US-Präsident Bush am 24. Juli 2001 Camp Bondsteel einen Besuch ab. Eingangs bedankte sich Bush bei den Zivilisten und den Fremdfirmen, die sich am Bau von Bondsteel beteiligt hatten (27), um dann die Bedeutung dieses Camps hervorzuheben: »Wir streben eine Welt der Toleranz und der Freiheit an. Von Kosovo nach Kaschmir, vom Mittleren Osten nach Nordirland, ist Freiheit und Toleranz das definierte Ziel für unsere Welt. Und Ihr Dienst setzt hier ein Beispiel für die ganze Welt.« (28)
Anmerkungen:
1) Zit. Nach Rotberg, Robert: The Founder: Cecil Rhodes and the Persuit of Power, New York/Oxford 1988, S. 664-666
2) Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde der jugoslawische Staat als Königkreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet und vereinigte Serbien, Montenegro mit Gebieten der atomisierten Habsgurgermonarchie (Kroatien-Slawonien, Vojvodina, Dalmatien, Krain und Südsteiermark) sowie Bosnien-Herzegowina. Nach Serbien (Srba), Kroatien (Hrvata) und Slowenien (Slovenaca) wurde das Gebilde auch „SHS-Staat“ genannt.
3) Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer, München 1988, S. 192
4) http://lifehacker.rs/wp-content/uploads/2016/02/solunski_proces.jpg.gemeinfrei
5) Boghitschewitsch:“Mord und Justizmord“, Sonderh. D. Südd. Mon.hefte (Feb. 1929)
6) Gesetz über die Bewilligung von Mitteln an das Ausland für 1991.
7) Gesellschaft für bedrohte Völker: Gegen Vertreibung. In http://archiv.hamburger-illustrierte.de/arc2002/international/initiativen/gfb/gegenvertreibung.html vom 11.01.2005
8) Je nach Quellenlage zwischen 3.000 bis 7.000 Opfer
9) Erklärung Nr. 43, Zentralstab der Befreiungsarmee Kosovas, Prishtina 2. März 1998
10) vgl. Interview mit William Walker in: Berliner Zeitung vom 8.4. 2000 sowie Jungle World vom 3.3.1999
11) Monitorsendung vom 08. Februar 2001; vgl. auch:Loquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Baden Baden 2000
12) Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 243
13) Zitiert aus Lafontaine 1999, S. 243
14) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 2001, S. 10f.
15) Die Woche vom 1.4.1999
16) Boghitschewitsch:“Mord und Justizmord“, a.a.O.
17) Präsident Bill Clinton vor der US-Gewerkschaft American Federation of State, County and Municipal Employes (AFSCME): “Remarks to AFSCME Biennial Conventions, Washington, D.C. 23. März 1999.
18) Abdruck in Effenberger, Wolfgang/Wimmer, Willy: Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 547; siehe auch Willy Wimmer: Die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016.
19) Ebd., S. 548
20) Schmidt, Helmut, Frankfurter Rundschau, 3./4. April 1999
21) Kolko, Daniel: Tagesspiegel, 8. Mai 1999
22) Kilb, Andreas: „Alle diese Staaten waren Bösewichte“, 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark in „Aktuell Feulleton“ der FAZ.
23) Brzezinski 2001, S. 15
24) The Guardian am 23. Oktober 2001
25) Lafontaine 1999, S. 255
26) Camp Bondsteel ist modern ausgestattet und bietet zahlreiche Annehmlichkeiten und Einrichtungen des sozialen Lebens: ein Kino, Fitness-Studios, Sportplätze, zwei Kapellen, Bars, einen Supermarkt, mehrere Fastfood-Restaurants, Computer mit Internet-Anschluss und Videospiele. Im angeschlossenen Laura-Bush-Bildungszentrum können Kurse der University of Maryland und der University of Chicago belegt werden.
27) Camp Bondsteel ist für Halliburton eine Goldgrube. Von 1995 bis 2000 zahlt die US-Regierung an Kellogg, Brown & Root 2,2 Milliarden US-Dollar für logistische Unterstützung im Kosovo, was der teuerste Vertrag der US-Geschichte ist. Die Kosten für Kellogg, Brown & Root machen fast ein Sechstel der auf dem Balkan für Operationen ausgegebenen Gesamtkosten aus.
28) US-Präsident George am 24. Juli 2001 im Camp Bondsteel, unter http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/07/20010724-1.html vom 23. Juli 2008
Siehe auch:
Vorwort aus dem Buch "Europas Verhängnis – Kritische angloamerikanische Stimmen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs"
Wer war´s?
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 683 vom 21.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25411
Aus "Europas Verhängnis – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht"
Wir haben nicht mehr viel Zeit
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 665 vom 27.06.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25000
Zivadin Jovanovic: „1244 – Ein Schlüssel zum Frieden in Europa“
Vorschläge zu einer gerechten und nachhaltigen Lösung des Kosovo- und Metohija-Problems
Von Milica Radojkovic-Hänsel
NRhZ 683 vom 21.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25409
Zeitzeugen des Großen Krieges 1914-1918
„Die Jugend starb, bevor sie zu leben beginnen konnte“
Von Rudolf Hänsel
NRhZ 681 vom 07.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25367
Online-Flyer Nr. 683 vom 21.11.2018
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