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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Literatur
Aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt"
Was ist Kunst? Was könnte sie sein?
Von Renate Schoof

Während des Aufenthalts in der Rehaklinik erhält Amelie einen Brief von ihrem Professor an der Kunstakademie, Ernest Parpado. Sie hatte ihm per E-Mail Fotos von Aquarellen geschickt. Im Brief geht es um Kunst in Zeiten von Demokratieabbau und materieller Umverteilung. (1)(2)(3)(4) Der Brief beginnt mit: „Liebe Amelie, hab Dank für Deine Nachricht, die mir wie eine Botschaft von einem anderen Stern erscheint. Ich freue mich für Dich, dass Du Dir – trotz allem – Deinen Lebensmut und Deine Kreativität erhalten hast. Ja, ich fühle mich gedrängt, Dir zu schreiben, wie sehr mich Deine Bilder beeindruckt und zu Überlegungen angeregt haben, die ich gern mit Dir teilen möchte, zumal sie Dich betreffen. Du brauchst eine Perspektive, das ist mir klar geworden, und deswegen schreibe ich Dir meine Gedanken, wenn auch recht ungeordnet und obwohl ich zurzeit unter einer Depression leide, die mir jede Lebensäußerung erschwert, mich alles furchtbar nüchtern, verengt und überaus kritisch sehen lässt. Vielleicht habe ich mich in letzter Zeit zu einem Eigenbrötler und Kritikaster entwickelt, der auf der Klaviatur seiner Verbitterung nur noch die dunklen Tasten spielt. (...)“ Dann geht es im Brief wie folgt weiter:

Ich bin sicher, die Ursache meiner depressiven Verstimmung ist die insgesamt entmutigende Weltlage und unsere Rolle als Künstler darin. Du liest richtig, auch ich empfinde mich als Künstler, worauf ich noch einzugehen beabsichtige. Und Dein künstlerisches Potenzial beweisen bereits die wenigen Bilder, die Du gemalt hast, dessen bin ich sicher. Die Frage ist: Wie damit umgehen?

Diese Frage ist nicht zu beantworten, ohne unser gesellschaftliches Umfeld in den Blick zu nehmen. Wir leben zurzeit in einer besonders aggressiven Phase materieller Umverteilung, genauer: eines Krieges der Superreichen gegen alle anderen, wodurch nicht nur das Leben der überwiegenden Mehrheit der Menschen, ja der Menschheit! in massiver Weise beeinträchtigt wird, sondern überhaupt die über Jahrzehnte mühsam entwickelten demokratischen Lebensformen und Verhältnisse in Gefahr geraten sind. Nach der Statistik haben sowohl die Armut als auch der Reichtum zugenommen, doch kaum jemand regt sich auf. Die Armen werden nicht mehr gebraucht, weder bei uns noch anderswo. Sie werden an den Rand gedrängt, können verhungern, ihr Leben in Lagern fristen oder auf den Schlachtfeldern in destabilisierten Staaten umkommen. Überall Kriege, die von den Vertretern des Großkapitals angezettelt und geschürt werden. Die einen profitieren, die anderen, die vielen, kommen um oder sitzen stumm vor den Fernsehern und verkümmern. Mit dem
Dax steigt die Arbeitslosigkeit. In vielen Ländern liegt allein die Jugendarbeitslosigkeit bei für mich unvorstellbaren 50 Prozent. In Griechenland wurde als Sparmaßnahme gerade der Kunstunterricht an Schulen gestrichen! Das Gesundheitssystem ist inzwischen den Reichen vorbehalten. Und aus Not werden dort die letzten Zeus-Eichen verfeuert. Das ist Krieg!

Ich merke, liebe Amelie, dass ich wieder beginne, mich aufzuregen. Mir fehlt es an Abgeklärtheit; Erkenntnisse und Erfahrungen mit der Brutalität unserer gesellschaftlichen Realität machen mich immer wieder wütend. Das gilt übrigens ebenso für mein Verhältnis zur Kunstszene. Wie inzwischen überall, regieren auch hier Egoismus und Habgier. Was Kunst ist, bestimmt heute der Markt, und zwar nicht selten durch Fantasiepreise, über die selbst namhafte Künstler den Kopf schütteln. Von den Unsummen, die manche Kunstwerke einbringen, erhalten allerdings die Künstler – wie wir wissen – den geringeren Teil, denn die Vermarkter sind immer gieriger geworden. Sie machen in dieser Etikettengesellschaft ihren Reibach mit dem Künstler, der als Markenartikel aufgebaut und gehandelt wird.

Dabei kommt es nicht auf künstlerische Qualität an, sondern auf das, was die Vermarkter „Public Relations“ nennen und womit sie sich besser auskennen als mit Ästhetik. Insofern sind sogar Künstler gefragt, die politische Missstände anprangern – Missstände woanders selbstverständlich, in China, im Iran oder sonst wo, aber keinesfalls bei uns. Wer hier ernsthaft an die gesellschaftlichen Zustände rührt, bildnerisch oder literarisch Kritik äußert, die wehtut und zur Veränderung beitragen könnte, hat von vornherein verspielt.

Für Dich, Amelie, folgt meines Erachtens daraus, dass Du Dir sehr genau überlegen musst, ob Du Dich diesem Kunstbetrieb, der mit wirklicher Kunst nur noch wenig zu tun hat, aussetzen willst. Mit anderen Worten: Es geht darum, wie Du nach dem Studium leben und Deinen Unterhalt verdienen willst. So profan ist das! Entschuldige bitte meine Direktheit, ich bin eher ein Rationalist als ein Romantiker, und mir liegt sehr viel an Dir. (...)

Zum Schluss noch ein paar Worte zum Kunstbetrieb, den ich, wie Du weißt, kritisch sehe. Seit Jahren verfolge ich, wie meine ehemaligen Mitstudenten immer und immer wieder ihre einmal gefundenen Themen variieren, auch um damit Geld zu verdienen. Wiedererkennbarkeit wird bei ihnen – neben Interesse und Freude am Thema, am Werkstoff etc., was ich ihnen gar nicht absprechen will – zum Zwang. Außerdem gibt es ja viele Museen, Villen, Wohnungen und öffentliche Räume zu „bestücken“. Einigen ist es gelungen, mit dem einmal gefundenen Markenzeichen die Lebenshaltungskosten zu bestreiten, Miete und Heizung zu sichern, womöglich auch etwas mehr. Das ist in Ordnung. Aber entsteht so Kunst? Kollegen, mit denen ich vor Jahren spannend diskutieren konnte, haben sich inzwischen mehr oder weniger verkauft. Sie waren wohl dazu gezwungen, um ihren Platz in der Kunstszene zu behaupten. ...

... So wie es in der Musik das absolute Gehör gibt, so gibt es sicherlich auch einen Blick dafür, ob ein Künstler aus seinem Innern geschöpft hat oder ob er mit seinen Bildern nur die eigene und anderer Leute Eitelkeiten befriedigt. (...)

... Gehe ich durch ein Museum, kann ich inzwischen ziemlich mühelos Bilder und Skulpturen sortieren: Da gibt es die aus Eitelkeit, Ruhmsucht, Gewohnheit oder anderen „äußeren Beweggründen“ entstandenen, aber auch einige wenige, die anders sind, etwas Neues, so noch nie Gesehenes zeigen, Werke, die uns berühren, die uns treffen, unseren Blick schärfen für Sinnvolles und Wichtiges oder uns einen Moment innehalten lassen. Das funktioniert auf jeder Etage, in der Moderne ebenso wie bei den alten Meistern und mittelalterlichen religiösen Darstellungen.

Bewusst oder unbewusst sind einige Künstler „eingeweiht“ in das Geheimnis hinter den Dingen, finden Formen für Inhalte, die ihre Bilder sehenswert machen, die den Betrachter berühren und die im Gedächtnis haften bleiben. Kunst als Erforschung und Erweiterung des Gesichtskreises, mit den ihr eigenen Mitteln.

Spannend sind auch Bruchstellen, wenn etwas Neues auf den Plan tritt. Ein Freund von mir sagte vor vielen Jahren, Künstler, die den Namen verdienen, rängen an vorderster Front einer Gesellschaft und einer Epoche um Inhalte und Formen.

Schon früh ging es mir beim Betrachten von Kunst um ein Erlebnis. Durch ein Bild (oder beim Lesen eines Buches) wird mir etwas klar. Das kann auf den ersten, aber vielleicht auch erst durch den zehnten Blick passieren. Es gibt Bilder, die laden ein, sie zu meditieren, andere tragen ihre Aussage offen und unverstellt an uns heran. Zu allen Zeiten sind Porträts entstanden, die dem oder der Dargestellten schmeicheln oder ihn oder sie „entlarven“, um nur zwei von vielen Gesichtspunkten zu nennen.

Kunst kann revolutioniert werden durch Werke wie „Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ von Kasimir Malewitsch. So etwas kann Denkanstoß sein. Es war Malewitschs Auseinandersetzung mit dem „Lasten der Dinge“, wie er es selbst formulierte, aber selbstverständlich war es ebenso eine Abkehr von Schlachtengemälden, Heiligenmalerei oder in Ölfarbe überdauerndem Herrscherkult. In seiner Schlichtheit zentriert das „Schwarze Quadrat“ den menschlichen Geist.

Und das „Blaue Bild“ von Yves Klein bestaunen sicherlich viele wie ich als reines Farberlebnis oder als Fenster in die Unendlichkeit des Kosmos. Ich erwähne die beiden Bilder, damit es nicht so klingt, als sei ich ein Feind der gegenstandslosen Kunst, zu der ja auch Deine Farbkompositionen gehören.

Aber wusstest Du, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, wie überhaupt in Westeuropa, von den USA aus die nicht gegenständliche Kunst propagiert beziehungsweise durchgesetzt wurde? In Westdeutschland gab es seither vorwiegend Preise, Stipendien und öffentliche Aufmerksamkeit für L’art pour l’art. Gegenständliche Kunst galt als spießig, Kunst hatte „wertfrei“ zu sein, jedenfalls unpolitisch. Dass aber diese Vorgabe, die zu einem Trend wurde, nicht immer funktioniert, wird zum Beispiel deutlich an den nüchternen Bildern eines Edward Hopper, der die Seelenlosigkeit des American Way of Life porträtierte. Verstehe mich nicht falsch, Kunst ist für mich nicht Agitprop und ich schätze, wie gesagt auch die ungegenständliche Kunst. Aber ich habe etwas dagegen, wenn staatliche Organisationen aus kunstfernen Gründen mitbestimmen, welche Art von Kunst gefördert werden soll. Vorbehalte habe ich auch gegenüber vielen Formen von Aktionismus, von Gags, die vor allem ein dekadentes, übersattes Publikum von „Kennern“ erfreuen. Und ich glaube nicht, dass diese Einstellung etwas mit dem Alter oder einer wie auch immer gearteten „Gesinnung“ zu tun hat.

Du merkst, ich bin voller Verärgerung über die großen und kleinen „Windmaschinen“ des Kunstmarktes. Nichtigkeiten werden aufgebauscht, und Dummheiten führen in Sackgassen, während viele Menschen sagen, dass sie sich nicht für Kunst interessieren. Kein Wunder, wenn sie sich nicht angesprochen, nicht gemeint fühlen. Und so wie die angebliche „Politikverdrossenheit“ in Wahrheit ein Zeichen von Frustration und Ärger, ja Zorn auf die von Lobbyisten manipulierten Regierungsmitglieder und Parlamentarier ist, so ist das Desinteresse weiter Bevölkerungskreise an Kunst eine Reaktion auf das, was der Kunstmarkt bietet.

Ich hätte Dir noch viel zu schreiben, doch bevor Du mich für einen närrischen Ignoranten hältst, will ich Dir kurz von einem Eindruck berichten, den ein Freund von mir vor einigen Jahren von der Kasseler Documenta mitbrachte. Eine Künstlerin stellte in einer Vitrine kleine Esel aus verschiedenen Materialien aus. Vor jedem dieser Esel lag ein Zettel mit dem Namen eines Widerstandskämpfers, beispielsweise Sophie Scholl oder Che Guevara. An der gegenüberliegenden Wand befand sich zu jedem Namen ein kurzer Lebenslauf. Gedanklicher Ausgangspunkt ist laut Aussage der Künstlerin ein Foto aus der Zeit des deutschen Faschismus, auf dem ein Uniformierter vergeblich versucht, einen störrischen Esel von der Stelle zu bringen. Das Tier bockt.

Abgesehen von der Darstellungsform, stellt sich die Frage: Kann es darum gehen, störrisch zu sein wie ein Esel, egal gegen wen oder was? Hätte der Esel nicht auch einem Widerstandkämpfer auf der Flucht den Gehorsam verweigert? Meinem Freund und mir erschloss sich weder ein künstlerischer noch irgendein anderer Sinn. Vielmehr scheint es uns ein weiteres markantes Beispiel dafür zu sein, Aufmerksamkeit für die eigene Person durch gesellschaftliche Reflexe herzustellen. Die Namen von anerkannten Persönlichkeiten, die ihr Leben für eine menschlichere Gesellschaft eingesetzt haben, werden meiner Ansicht nach für einen Gag missbraucht, eine Effekthascherei mit Ikonen ohne tieferen Sinn, es ist nicht einmal provokativ.

Im Rahmen dieser Documenta hieß es, wenn ich mich recht erinnere, aktuell sei eine Kunst, wenn sie für uns Heutige bedeutsam sei. Wie tief das Niveau gesunken ist, zeigte sich, als allen Ernstes in der Szene darüber diskutiert wurde, ob Spinnennetze oder etwa die Computersoftware von elektronischen Bankräubern angewandte Kunst sei, vergleichbar mit der Höhlenmalerei unserer Vorfahren. Während aber ein Spinnennetz, so kunstvoll es aussehen mag, instinktiv als Mittel zum Beutefang gebildet wird, entsteht diese Computersoftware zwar bewusst, allerdings bin ich nicht bereit, Aktivitäten, die längst verboten sein sollten und allein der eigenen Bereicherung dienen, zu Kunst zu erklären.

Was sollen die Vergleiche? Warum wird gesellschaftsschädigendes Verhalten stilisiert? Nennt man bald jeden stinknormalen Wohnungseinbruch eine Performance? Selbst wenn ein Spinnennetz „kunstvoller“ sein mag als manches Kunstexponat, ist es eben nicht „künstlich“ entstanden, es gehört zum Tier. Die Ebenen zu vermischen macht nichts klarer, sondern gehört zum Konzept Beliebigkeit. Anything goes.

Ach Amelie, ich musste mir in meinem Leben zu viele dumme Begründungen und Theorien anhören, die Kunstmachern dazu dienten, eigenes Tun zu rechtfertigen, habe mich übergesehen an all dem Zeug, das zu Kunst erklärt wird. Außerdem habe ich unzählige Studenten und Studentinnen betreut, die trotz ihrer Begabung und Anfängen, die hoffen ließen, scheiterten, meist am eigenen Unvermögen, an ihrer Verführbarkeit und daran, dass sie sich zu früh zufrieden gaben mit etwas Unfertigem. Und diejenigen, die nach meinem Dafürhalten am fähigsten waren, scheiterten am Kunstmarkt, manche auch an ihren eigenen Ansprüchen.

Liebe Amelie, lass Dir die Kur nicht von meinen verdrießlichen Anmerkungen verderben, genieße die sonnigen Tage in der Natur, lass von Dir hören und sei herzlich gegrüßt, Ernest.


Renate Schoof: Alle Wünsche werden erfüllt



Klappenbroschur, 275 Seiten, 16.90 Euro
Zeitgeist Verlag, Höhr-Grenzhausen 2018

Mitten im Leben neu beginnen. Raus aus dem überfordernden Alltag und der zu eng gewordenen Partnerschaft. Endlich Luft zum Atmen und Träumen, endlich Platz für Wünsche. Amelie lebt nun in einer Stadt für Anfänge und überraschende Begegnungen. Sie genießt es, unterwegs zu sein, zu malen – und sich zu verlieben. Der Verdacht, an Krebs erkrankt zu sein, verändert alles: Amelie gerät in einen Irrgarten aus Angst und Hoffnung. Doch da ist auch das Bedürfnis, dem inneren Kompass zu folgen. Ein Roman über die Kunst, die Liebe und die Krankheit.

Renate Schoof lebt als freie Schriftstellerin in Göttingen. Nach einer Ausbildung im Buchhandel arbeitete sie als Dokumentarin bei der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg; anschließend studierte sie Pädagogik und Germanistik und war neun Jahre als Lehrerin tätig. Von ihr erschienen bisher mehr als zwanzig Bücher, u. a. die Romane „Blauer Oktober“ und „Alle Wünsche werden erfüllt“, der Erzählungsband „In ganz naher Ferne“, das Sachbuch „Geheimnisse des Christentums – Vom verborgenen Wissen alter Bilder“ sowie die Kinder- und Jugendromane „W + M = Liebe?“ und „Wiedersehen in Berlin“. Weitere Informationen: www.renateschoof.de


Fußnoten:

1 Besprechung des Romans "Alle Wünsche werden erfüllt" von Renate Schoof
Von Beate Grazianski
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24694

2 Weiterer Auszug aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt" (1)
Geisterbahn Schule
NRhZ 672 vom 05.09.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25173

3 Weiterer Auszug aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt" (2)
Sprayen (und fotografieren) als Gesellschaftskritik
NRhZ 674 vom 19.09.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25233

4 Weiterer Auszug aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt"
Brustkrebs – Eine Krankheit von Karrierefrauen?
NRhZ 679 vom 24.10.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25326

Online-Flyer Nr. 683  vom 21.11.2018

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