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Globales
Präsident Buhari kritisiert indirekt Africom und sperrt Twitter
Nigeria zwischen Wirtschaftskrise und Bürgerkrieg
Von Georges Hallermayer

Nigeria ist nicht nur ein Corona-geplagtes Land, immerhin die stärkste Wirtschaftsmacht Afrikas. Um den Staatshaushalt auszugleichen, muss die Regierung 36 Staatsunternehmen verkaufen. Die über 210 Millionen Einwohner bedrückt die fünfte Rezession in den letzten zehn Jahren, konkret eine endemische Arbeitslosigkeit: Über die Hälfte der bis 24jährigen und ein Drittel der bis 35jährigen sind ohne Arbeit. Auch eine Folge des ungestümen Bevölkerungswachstums: Zum Beispiel traten 2018 fünf Millionen junge Menschen in den Arbeitsmarkt ein, während nur 450.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden. Dazu galoppierte die Inflation, zum Beispiel von Juli 2020 bis April 2021 von 12,82 auf 18,12 Prozent.

Aber noch mehr besorgt die Menschen in Nigeria der unerklärte Zweifronten-Krieg: im Niger-Delta im christlichen Süden haben sich gegen Ölmultis gerichtete nationalistische Oppositionsbewegungen zu organisierten kriminellen Banden gemausert. Und im muslimischen Nordosten kämpft die djihadistische ISWAP (Islamic State West Africa Province) um die Kontrolle der Provinzen, verfolgt die zerstreuten Boko Haram-Milizen. Seit dem Aufstand 2009 als anfangs sozial-religiöse Protestgruppierung haben die Terroristen über 40.000 Menschen umgebracht und fast zwei Millionen in die Flucht getrieben.

Mit dem Tod ihres Führers Aboubakar Shekau, der sich in die Luft sprengte, um nicht in die Hände von ISWAP zu geraten, scheint das Ende von Boko-Haram besiegelt. ISWAP hatte 30 Boko-Haram-Kommandeure gefangen, darunter zwei von fünf, die als Nachfolger von Shekau in Betracht gezogen werden, berichtete der nigerianische „The Guardian“. Ursprünglich bildeten Boko Haram und ISWAP eine Einheit. ISWAP unter Abu Musab Al-Barnawi, dem Sohn des Boko Haram Gründers Ustaz Mohammed Yusuf, spaltete sich 2016 ab, als Shekau, der dem IS die Treue geschworen hatte, vom IS wegen „Extremismus“ ausgeschlossen wurde. Nach ihrem Sieg in Sambisa letzten Monat hieß der ISWAP die lokale Bevölkerung in der Region am Tschad-See im selbsternannten „Kalifat“ willkommen. Die Bewohner der Inseln im Tschadsee hatte die Islamisten vertrieben, angeblich hätten sie fürs Militär spioniert. Al-Barnawi erlaubte nunmehr zurückzukehren, um zu fischen und ihren Fang zu verkaufen, sobald sie Steuern abgedrückt hätten. Er habe ihnen garantiert, sie hätten nichts zu befürchten.

Am 2. Juni lieferte sich ISWAP mit der nigerianischen Armee eine blutige Schlacht. Die Terroristen griffen in mehreren Wellen die Stadt Damboa im nördlichen Borno-State an. Mit Unterstützung der Luftwaffe zerstörten die Armee-Pick-ups mit Luftabwehrgeschützen wie gepanzerte LKWs mit Explosionsstoffen und Motorräder. Fünfzig Terroristen wurden getötet. General Faruk Yahaya forderte die Truppen auf, die laufende Offensive im Rahmen der Operation Tura Takaibango ebenso erfolgreich fortzusetzen.

Dabei geht es nicht nur gegen die Djihadisten. Massenentführungen sind seit Dezember 2020 ein neuer Trend mit über Eintausend, von Terroristen und kriminellen Banden entführten Frauen und Männern. Die jahrzehntelang im Südwesten friedlich zusammenlebenden Yoruba-Bauern und die nomadisierenden Fulani-Rinderzüchter – ein Konflikt ums durch den Klimawandel knapper werdende Land, der mehr Todesopfer kostete als Boko Haram, so Comfort Ero, der Vizepräsident der International Crisis Group. Die Yoruba rufen gar nach Sezession, andere nach Dorfmilizen. So sind im Februar etwa 4000 Viehzüchter vom Süden in den Norden geflüchtet, wie auch Tausende in umgekehrter Richtung. Aber auch im Norden gleichgelagerte Konflikte. 88 Menschen wurden am 3. Juni von Viehdieben getötet bei einem Überfall auf sechs Dörfer im Kebbi-State, im April neun Polizisten.

Ob der Nationale Rinderzucht-Reform-Plan von 2019 NLTP dem tödlichen Kreislauf ein Ende setzen kann? Er sieht vor, auf öffentlichem brachliegendem Grasland 119 riesige Rinderfarmen anzulegen, was über zwei Millionen Arbeitsplätze in der Verwertungskette der Fleisch- und Milchproduktion schaffen soll. Den Milliardenplan zu finanzieren, übernimmt die nigerianische Bundesregierung 80 Prozent der Kosten, während 20 Prozent von den beteiligten Bundesstaaten und Privatinvestoren wie Aliko Dangote erwartet werden.

Aber um „das edle Ziel zu erreichen“ (Präsident Buhari) wird es noch ein weiter Weg sein. Er forderte in einem bilateralen virtuellen Treffen US-Außenminister Antony Blinken auf, das AFRICOM-Hauptquartier von Stuttgart nach Afrika „näher an Kampfstätten (closer to the theater of operations) zu verlegen, ob nach Nigeria ließ er unausgesprochen. Im Juli 2020 hatte Africom-Commander General Stephen Townsend von Umzugsplänen als Teil der geplanten Truppenreduzierung in Deutschland gesprochen. Buharis „Salto rückwärts“ zog vielfältige Kritik nach sich: Von „eine offene Einladung für die Rekolonisation Afrikas“, so der frühere nigerianische Senator Shehu Sani über panafrikanische Kritik „Afrika gehört den Afrikanern“ bis zu den republikanischen Senatoren South Carolinas, das Hauptquartier zurück in den USA, in Charleston einzurichten.

Zum Ausdruck kommt darin aber auch Frustration über die Ausbreitung der Djihadisten in Richtung Hauptstadt Abuja - die auf 2,2 Millionen angeschwollene Flut von Binnenflüchtlingen (nach UNHCR im März 100.000 allein in der Provinz Maradi im Süden), die Aufgabe der Rückführung von über 300.000 Flüchtlingen in den Nachbarländern Kamerun und und Niger – aber auch eine indirekte Kritik des Präsidenten an den ungenügend scheinenden „verdeckten Krieg“ Africoms, sich nach der Methode AAA (Approach, Assistance, Accompagny, Näherung, Assistenz, Begleitung) der Front zu nähern. Die Ausbreitung der Djihadisten nimmt nach Nick Turse in der südafrikanischen „Mail & Guardian“ trotz der 2019 in 22 afrikanischen Ländern operierenden US-Spezialkräfte, 14 Prozent der globalen Aktivitäten, zu. Präsident Buhari suchte wie seine Vorgänger von den USA modernes Kriegsgerät wie Drohnen, Satelliten etc. anzuschaffen, die Militärs wiesen aber eine US-Aufsicht zurück. Nigerias Raumfahrt-Agentur NASRDA jedenfalls erklärte in einem Statement, dass ihre Satelliten die Terroristen nicht verfolgen können. Die beiden Satelliten stehen nicht geostationär im Orbit, nur ein kurzes Zeitfenster könne zur Beobachtung genutzt werden, was wiederum die Djihadisten auszunutzen wussten. Die Satelliten gehören seit 2018 ersetzt, was nach dem neuen Generaldirektor noch in diesem Jahr passieren soll.

Dass der Microblogging-Dienst Twitter den Account des Präsidenten in einem Akt der Zensur für zwei Tage blockierte, nutzte die Regierung, den Dienst zu sperren. In zwei Tweets hatte Buhari indirekt der separatistischen IPOB-Gruppe im Süden mit dem Beispiel der Separatisten Biafras gedroht. Beobachter sehen eine willkommene Revanche dafür, dass Twitter seine erste afrikanische Repräsentanz in Ghana und nicht in Lagos errichtete. Die Regierung will jedenfalls, dass Twitter sich registrieren lässt. Informationsminister Lai Mohammed kritisierte Twitter für „doppelte Standards“, denn die „flammenden tweets von Mazi Mnamdi Kana, der Führer der Sepratisten, seien bis heute nicht gelöscht. Auch die TV-Sender wurden aufgefordert, ihre Twitter-Konten zu löschen. Ob die temporäre Sperre die Kommunikation von Boko Haram und ISWAP behindern kann und den Anti-Terror-Operationen der Armee nutzt? Die Wirtschaftlobby NESG sieht negative Effekte für Nigerias Ökonomie. Wann die Sperre von Twitter aufgehoben werde, konnte Außenminister Geofrey Onyeama nicht sagen.


Verfasst am 9. Juni 2021, zuletzt aktualisiert am 14. Juni 2021


Online-Flyer Nr. 772  vom 23.06.2021

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