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Kommentar
Kommentar vom Hochblauen
In Zeiten von Pogromen und Genoziden
Von Evelyn Hecht-Galinski
Tatsächlich ist der 9. November der zentrale Geschichtstag für Deutschland und sollte 83 Jahre nach der „Reichskristallnacht“ 1938 auch als „Schicksalstag“ behandelt werden. Wieder einmal widerspreche ich dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der den 9. November ausschließlich den Juden widmen möchte. (1) Warum nimmt er den Vorschlag meines Vaters, Heinz Galinski, nicht auf, der schon 1988 als Zentralratsvorsitzender in Frankfurt/Main und Ostberlin durch Gedenkveranstaltungen Politiker aus Ost und West zusammenbrachte. Doch wie Norbert Frei in der SZ vom 5. November 2021 richtig schreibt, „verhallte Galinskis Vorschlag, einen gemeinsamen deutsch-deutschen Gedenktag einzuführen“.
Schicksalstag 9. November
Ist nicht gerade die Widersprüchlichkeit dieses Tages so wichtig für ein gemeinsames Gedenken im Jahr 2021, das auch von allen Deutschen, ob jung oder alt, angenommen werden kann? Kann es einen besseren Gedenktag für Deutschland geben als den 9. November? Wohl kaum. Gibt es einen anderen Tag im Jahr, der so viele unterschiedliche Gefühle auslöst? Ja, die Erinnerung an die Pogromnacht wird und muss immer ein fundamentaler Tag unserer Gedenkkultur bleiben. Aber darf das den Blick auf andere Ereignisse, die alle mit dem 9. November untrennbar verbunden sind, verhindern?
Seit 1989 steht dieser Tag für den Fall der Berliner Mauer, am 9. November 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen, und am 8./9. November 1923 unternahm Adolf Hitler in München einen Putschversuch gegen die verhasste Republik, denn auch dieses warnende Beispiel darf nicht in Vergessenheit geraten. Und was ist mit dem wichtigen Datum 1938, als der Schreiner Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller den leider gescheiterten Versuch unternahm, Hitler und führende Köpfe seiner braunen Nazi Bande zu töten. Es gibt noch unzählige andere Ereignisse, die sich mit diesem Datum verbinden lassen, das diesen Tag so wichtig macht. Nicht der 3. Oktober ist der zentrale deutsche Schicksalstag, sondern es ist der 9. November. (2)
Israels Parallelen zur Zeit von 1933 bis 1939
Kommen wir zu den anderen untrennbaren Punkten, die es gebieten, Lehren aus der so genannten „Kristallnacht“ für Palästina und andere Ereignisse zu ziehen. Es ist an der Zeit, gegen die reflexartige Reaktion, die versucht die Verbrechen unter Nazi-Deutschland als einmaliges Ereignis darzustellen, einer Prüfung zu unterziehen. Leider lassen sich nur allzu viele Parallelen zu der Zeit von 1933 bis 1939 ziehen.
Nehmen wir den jüdischen Mob in Israel, der „Tod den Arabern“ ruft und diese Art Parolen an die Apartheidmauer oder Moscheen schmiert, ja sogar niederbrennt. Wenn jüdische „Verteidigungssoldaten“ und Polizisten tatenlos zusehen, wie judaistische Siedler palästinensische Olivenernten und Bäume zerstören, Felder abbrennen und sogar ausländische Erntehelfer ohne Skrupel angegriffen werden, werden Parallelen zu Deutschland 1933-39 nur allzu deutlich. Jüdische Besatzer wurden zu Unterdückern, mit dem dieser Siedlerkolonialstaat die Palästinenser auf den „Untermenschenstatus“ reduziert. Dazu passen Umfragen, dass ein großer Teil dieser jüdischen Israelis weder Palästinenser als Nachbarn, geschweige denn im selben Haus haben möchten. Sie befürworten getrennte Straßen „nur für Juden“ (!), die durch besetztes Land in die illegalen jüdischen Siedlungen führen. Sie unterstützen die völkerrechtswidrige (!) Blockade von Gaza, abgeriegelt von Land und See, und abhängig von Israels Gnaden. Israelis opponierten nicht gegen die Angriffe auf Gaza und den Genozid, der dieses „Konzentrationslager“ zu einem fast unbewohnbaren Ort macht. (3)(4)
Erinnern wir uns an jüdisch-israelische Jugendliche, die sich KZ-Nummern ihrer Vorfahren eintätowieren ließen, um an den Holocaust erinnert zu werden. Und waren es nicht gerade israelische Jugendliche, die sich in geradezu obszöner Weise am Holocaust-Mahnmal und in KZ-Gedenkstätten und in Auschwitz danebenbenahmen? (5)(6)(7)
Israels rassistische, nazi-ähnliche Politik
Erinnern wir uns noch an 2015, als die jüdische „Verteidigungsarmee“ für die damals 30.000 palästinensischen Bewohner im H2-Bezirk des besetzten Hebron „Identifikationsnummern“ einführte? Die Palästinenser, die keine Nummer hatten, wurden abgeführt oder verhaftet. Selbst kleinste Kinder bekamen Nummern, ebenso wie jedes Neugeborene. So wurden Palästinenser von Verwandten getrennt, und mussten sich an 17 internen Kontrollpunkten kontrollieren lassen. Es waren unmenschliche Zustände, denen die Palästinenser ausgesetzt waren, während sich die etwa 500 Hardcore-Siedler wie die Könige fühlen konnten. Erst 1994, nach der Unterzeichnung des Oslo Abkommens, änderte sich das. Allerdings schloss am Ende der zweiten Intifada 2005 die Shushada-Straße und die Palästinenser waren ausgeschlossen. (8) Dass eine Mehrheit der israelischen Juden diesen Zustand unterstützt und Politiker gewählt hat, die diese Maßnahmen unterstützen, ist beängstigend.
Erinnern wir uns deshalb an die wunderbare Knesset-Abgeordnete Hanan Zoabi, die 2015 anlässlich einer Veranstaltung für die „Kristallnacht“ in Amsterdam eine bemerkenswerte Rede hielt, in der sie Israel „eine rassistische Politik“ gegenüber den Palästinensern vorwarf und dem „jüdischen Staat“ vorwarf, ähnliche Verbrechen wie die Nazis begangen zu haben und verglich zu Recht die israelischen Vorschriften mit den Bedingungen, unter denen Juden zur Zeit des „Kristallnacht“-Pogroms 1938 in Deutschland lebten. „Die zentrale Lektion der Kristallnacht wurde nicht gelernt“. „Es ist in Ordnung Araber zu töten, ich habe es sogar mehrmals getan“, zitierte sie den damaligen „Bildungsminister“ und heutigen Ministerpräsidenten(!) Naftali Bennett als ein Beispiel für die naziähnliche Politik des „jüdischen Staats“ gegenüber Palästinensern. Wie Recht sie mit ihren Vergleichen hatte. (9)
Tatsächlich hat sich in diesen vergangenen 6 Jahren die Situation für die Palästinenser in jeder Hinsicht verschlimmert, was kein Wunder ist unter Bennett, seiner Siedlungsexpansionspolitik und seinem „Versprechen“, dass es solange er am Ruder ist, es keinen Palästinenserstaat geben wird (wo auch?) (10)
Israels schonungslose Instrumentalisierung des Holocaust
Was kann man schon von einem jüdischen Besatzerstaat erwarten, der gerade die letzten der überlebenden Holocaustopfer schmählich behandelte und finanziell aushungerte? Erst als viele dieser Menschen auch nach Deutschland auswanderten, erinnerte man sich an ihren Nutzen. Hat nicht gerade diese schonungslose Instrumentalisierung des Holocaust durch israelische Politiker und Lobbyisten dazu geführt, dass Kritik am „jüdischen Staat“ immer mehr verstummt, um bloß nicht in den Verdacht zu geraten, ein Antisemit zu sein?
Wenn wir also über den Holocaust und Hitlers Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden sprechen, vergessen wir oft, dass der Holocaust auch noch andere Opfer hatte, nämlich die Palästinenser, deren Land ihnen genommen wurde. Sie waren unschuldige Opfer, als die Welt versuchte, einen Platz für die von der Nazi-Tyrannei vertriebenen Juden zu schaffen. Der israelische Historiker Ilan Pappé schreibt:
"Bis 1945 hatte der Zionismus mehr als eine halbe Million Siedler in ein Land gebracht, dessen Bevölkerung fast zwei Millionen betrug... Die einheimische Bevölkerung wurde nicht konsultiert... und ihre Einwände gegen das Projekt, Palästina in einen jüdischen Staat zu verwandeln, wurden nicht berücksichtigt.... Wie bei allen früheren Siedlerkolonialbewegungen war die Antwort auf diese Probleme die doppelte Logik der Vernichtung und Entmenschlichung. Die einzige Möglichkeit für die Siedler, ihren Einfluss auf das Land über die 7 Prozent hinaus auszudehnen und sich eine ausschließliche demografische Mehrheit zu sichern, bestand darin, die Einheimischen aus ihrem Heimatland zu vertreiben. Der Zionismus ist also ein koloniales Projekt der Siedler, das noch nicht abgeschlossen ist... Israel kolonisiert immer noch... enteignet Palästinenser und verweigert den Einheimischen das Recht auf ihre Heimat... das Verbrechen, das die Führung der zionistischen Bewegung, die zur Regierung Israels wurde, begangen hat, war das der ethnischen Säuberung." (10)(11)
Palästinenser: die letzten Opfer des Holocausts
Die Palästinenser als die letzten Opfer des Holocausts, auch das gehört untrennbar zum 9. November, sowie das Gedenken an alle Opfer der kolonialen Gräueltaten, diesem Erbe der weißen Vorherrschaft mit den vielen fundamentalen Verbrechen der westlichen „Werte-Zivilisation“.
Daher ist es mir ein Bedürfnis, ans Ende meines Kommentars unbedingt einen Artikel des australischen Historikers Dirk A. Moses zu stellen, dem Experten für die Geschichte des Völkermords im kolonialen Kontext und der Erinnerung daran. Seit 2020 ist er Professor für Global- und Menschenrechtsgeschichte an der University of North Carolina at Chapel Hill. Auf ihn wurde ich aufmerksam, als ich am 13.10.2021 in der FAZ unter dem Titel „Blinde Flecke“ einen Artikel von Omer Bartov las und mir daraufhin sein leider nur in Englisch publiziertes Buch "The Problems of Genocide" besorgte und zu lesen begann. Kurz danach fand ich noch eine Rezension seines Buchs in der SZ und war begeistert von diesem Historiker. (12)(13). Zuletzt empfehle ich seinen sehr lesenswerten Artikel, der den „Katechismus der Deutschen“ mit seinen „fünf Überzeugungen“, darunter die Staatsräson, kritisiert und die Zeit für gekommen hält, diesen aufzugeben. Seiner überzeugenden Argumentation stimme ich uneingeschränkt zu, in „Zeiten von Pogromen und Genoziden“. (14)
Fußnoten:
(1) https://www.deutschlandfunk.de/zentralrat-der-juden-schuster-gegen-allgemeine-erinnerung.1939.de.html?drn:news_id=1320380
(2) https://www.deutschlandfunk.de/geschichtstraechtiges-datum-historiker-der-9-november.694.de.html?dram:article_id=504589
(3) https://www.middleeastmonitor.com/20210423-100s-jerusalemites-injured-as-ultra-right-wing-israelis-march-chant-death-to-arabs/
(4) https://theintercept.com/2018/05/20/norman-finkelstein-gaza-iran-israel-jerusalem-embassy/
(5) https://www.middleeastmonitor.com/20200128-jewish-settlers-burn-down-palestinian-churches-and-mosques/
(6) https://www.welt.de/politik/ausland/article109638001/Holocaust-Erinnerung-fuer-immer-in-Haut-gestochen.html
(7) https://www.bbc.com/news/world-europe-38675835
(8) https://desertpeace.wordpress.com/2015/12/22/numbering-palestinians/
(9) https://desertpeace.wordpress.com/2015/11/09/invoking-the-holocaust-is-sometimes-necessary-to-reveal-the-truth/?fbclid=IwAR2ru-tPLq3XBXoNOWuWaBl-bpAGEZo8RxtzJcR63yK5aU9qVCJPiqwlxI4
(10) https://www.middleeasteye.net/news/israel-bennett-no-palestinian-state-foreseeable-future
(11) https://electronicintifada.net/content/israels-incremental-genocide-gaza-ghetto/13562
(12) https://www.youtube.com/watch?v=FIUzUVs7rbI
(13) https://www.sueddeutsche.de/kultur/a-dirk-moses-genozid-holocaust-kolonialismus-1.5279010
(14) https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/
Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des ehemaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, ist Publizistin und Autorin. Ihre Kommentare für die NRhZ schreibt sie regelmäßig vom "Hochblauen", dem 1165 m hohen "Hausberg" im Badischen, wo sie mit ihrem Ehemann Benjamin Hecht lebt. (http://sicht-vom-hochblauen.de/) 2012 kam ihr Buch "Das elfte Gebot: Israel darf alles" heraus. Erschienen im tz-Verlag, ISBN 978-3940456-51-9 (print), Preis 17,89 Euro. Am 28. September 2014 wurde sie von der NRhZ mit dem vierten "Kölner Karls-Preis für engagierte Literatur und Publizistik" ausgezeichnet.
Online-Flyer Nr. 780 vom 10.11.2021
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Kommentar vom Hochblauen
In Zeiten von Pogromen und Genoziden
Von Evelyn Hecht-Galinski
Tatsächlich ist der 9. November der zentrale Geschichtstag für Deutschland und sollte 83 Jahre nach der „Reichskristallnacht“ 1938 auch als „Schicksalstag“ behandelt werden. Wieder einmal widerspreche ich dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der den 9. November ausschließlich den Juden widmen möchte. (1) Warum nimmt er den Vorschlag meines Vaters, Heinz Galinski, nicht auf, der schon 1988 als Zentralratsvorsitzender in Frankfurt/Main und Ostberlin durch Gedenkveranstaltungen Politiker aus Ost und West zusammenbrachte. Doch wie Norbert Frei in der SZ vom 5. November 2021 richtig schreibt, „verhallte Galinskis Vorschlag, einen gemeinsamen deutsch-deutschen Gedenktag einzuführen“.
Schicksalstag 9. November
Ist nicht gerade die Widersprüchlichkeit dieses Tages so wichtig für ein gemeinsames Gedenken im Jahr 2021, das auch von allen Deutschen, ob jung oder alt, angenommen werden kann? Kann es einen besseren Gedenktag für Deutschland geben als den 9. November? Wohl kaum. Gibt es einen anderen Tag im Jahr, der so viele unterschiedliche Gefühle auslöst? Ja, die Erinnerung an die Pogromnacht wird und muss immer ein fundamentaler Tag unserer Gedenkkultur bleiben. Aber darf das den Blick auf andere Ereignisse, die alle mit dem 9. November untrennbar verbunden sind, verhindern?
Seit 1989 steht dieser Tag für den Fall der Berliner Mauer, am 9. November 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen, und am 8./9. November 1923 unternahm Adolf Hitler in München einen Putschversuch gegen die verhasste Republik, denn auch dieses warnende Beispiel darf nicht in Vergessenheit geraten. Und was ist mit dem wichtigen Datum 1938, als der Schreiner Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller den leider gescheiterten Versuch unternahm, Hitler und führende Köpfe seiner braunen Nazi Bande zu töten. Es gibt noch unzählige andere Ereignisse, die sich mit diesem Datum verbinden lassen, das diesen Tag so wichtig macht. Nicht der 3. Oktober ist der zentrale deutsche Schicksalstag, sondern es ist der 9. November. (2)
Israels Parallelen zur Zeit von 1933 bis 1939
Kommen wir zu den anderen untrennbaren Punkten, die es gebieten, Lehren aus der so genannten „Kristallnacht“ für Palästina und andere Ereignisse zu ziehen. Es ist an der Zeit, gegen die reflexartige Reaktion, die versucht die Verbrechen unter Nazi-Deutschland als einmaliges Ereignis darzustellen, einer Prüfung zu unterziehen. Leider lassen sich nur allzu viele Parallelen zu der Zeit von 1933 bis 1939 ziehen.
Nehmen wir den jüdischen Mob in Israel, der „Tod den Arabern“ ruft und diese Art Parolen an die Apartheidmauer oder Moscheen schmiert, ja sogar niederbrennt. Wenn jüdische „Verteidigungssoldaten“ und Polizisten tatenlos zusehen, wie judaistische Siedler palästinensische Olivenernten und Bäume zerstören, Felder abbrennen und sogar ausländische Erntehelfer ohne Skrupel angegriffen werden, werden Parallelen zu Deutschland 1933-39 nur allzu deutlich. Jüdische Besatzer wurden zu Unterdückern, mit dem dieser Siedlerkolonialstaat die Palästinenser auf den „Untermenschenstatus“ reduziert. Dazu passen Umfragen, dass ein großer Teil dieser jüdischen Israelis weder Palästinenser als Nachbarn, geschweige denn im selben Haus haben möchten. Sie befürworten getrennte Straßen „nur für Juden“ (!), die durch besetztes Land in die illegalen jüdischen Siedlungen führen. Sie unterstützen die völkerrechtswidrige (!) Blockade von Gaza, abgeriegelt von Land und See, und abhängig von Israels Gnaden. Israelis opponierten nicht gegen die Angriffe auf Gaza und den Genozid, der dieses „Konzentrationslager“ zu einem fast unbewohnbaren Ort macht. (3)(4)
Erinnern wir uns an jüdisch-israelische Jugendliche, die sich KZ-Nummern ihrer Vorfahren eintätowieren ließen, um an den Holocaust erinnert zu werden. Und waren es nicht gerade israelische Jugendliche, die sich in geradezu obszöner Weise am Holocaust-Mahnmal und in KZ-Gedenkstätten und in Auschwitz danebenbenahmen? (5)(6)(7)
Israels rassistische, nazi-ähnliche Politik
Erinnern wir uns noch an 2015, als die jüdische „Verteidigungsarmee“ für die damals 30.000 palästinensischen Bewohner im H2-Bezirk des besetzten Hebron „Identifikationsnummern“ einführte? Die Palästinenser, die keine Nummer hatten, wurden abgeführt oder verhaftet. Selbst kleinste Kinder bekamen Nummern, ebenso wie jedes Neugeborene. So wurden Palästinenser von Verwandten getrennt, und mussten sich an 17 internen Kontrollpunkten kontrollieren lassen. Es waren unmenschliche Zustände, denen die Palästinenser ausgesetzt waren, während sich die etwa 500 Hardcore-Siedler wie die Könige fühlen konnten. Erst 1994, nach der Unterzeichnung des Oslo Abkommens, änderte sich das. Allerdings schloss am Ende der zweiten Intifada 2005 die Shushada-Straße und die Palästinenser waren ausgeschlossen. (8) Dass eine Mehrheit der israelischen Juden diesen Zustand unterstützt und Politiker gewählt hat, die diese Maßnahmen unterstützen, ist beängstigend.
Erinnern wir uns deshalb an die wunderbare Knesset-Abgeordnete Hanan Zoabi, die 2015 anlässlich einer Veranstaltung für die „Kristallnacht“ in Amsterdam eine bemerkenswerte Rede hielt, in der sie Israel „eine rassistische Politik“ gegenüber den Palästinensern vorwarf und dem „jüdischen Staat“ vorwarf, ähnliche Verbrechen wie die Nazis begangen zu haben und verglich zu Recht die israelischen Vorschriften mit den Bedingungen, unter denen Juden zur Zeit des „Kristallnacht“-Pogroms 1938 in Deutschland lebten. „Die zentrale Lektion der Kristallnacht wurde nicht gelernt“. „Es ist in Ordnung Araber zu töten, ich habe es sogar mehrmals getan“, zitierte sie den damaligen „Bildungsminister“ und heutigen Ministerpräsidenten(!) Naftali Bennett als ein Beispiel für die naziähnliche Politik des „jüdischen Staats“ gegenüber Palästinensern. Wie Recht sie mit ihren Vergleichen hatte. (9)
Tatsächlich hat sich in diesen vergangenen 6 Jahren die Situation für die Palästinenser in jeder Hinsicht verschlimmert, was kein Wunder ist unter Bennett, seiner Siedlungsexpansionspolitik und seinem „Versprechen“, dass es solange er am Ruder ist, es keinen Palästinenserstaat geben wird (wo auch?) (10)
Israels schonungslose Instrumentalisierung des Holocaust
Was kann man schon von einem jüdischen Besatzerstaat erwarten, der gerade die letzten der überlebenden Holocaustopfer schmählich behandelte und finanziell aushungerte? Erst als viele dieser Menschen auch nach Deutschland auswanderten, erinnerte man sich an ihren Nutzen. Hat nicht gerade diese schonungslose Instrumentalisierung des Holocaust durch israelische Politiker und Lobbyisten dazu geführt, dass Kritik am „jüdischen Staat“ immer mehr verstummt, um bloß nicht in den Verdacht zu geraten, ein Antisemit zu sein?
Wenn wir also über den Holocaust und Hitlers Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden sprechen, vergessen wir oft, dass der Holocaust auch noch andere Opfer hatte, nämlich die Palästinenser, deren Land ihnen genommen wurde. Sie waren unschuldige Opfer, als die Welt versuchte, einen Platz für die von der Nazi-Tyrannei vertriebenen Juden zu schaffen. Der israelische Historiker Ilan Pappé schreibt:
"Bis 1945 hatte der Zionismus mehr als eine halbe Million Siedler in ein Land gebracht, dessen Bevölkerung fast zwei Millionen betrug... Die einheimische Bevölkerung wurde nicht konsultiert... und ihre Einwände gegen das Projekt, Palästina in einen jüdischen Staat zu verwandeln, wurden nicht berücksichtigt.... Wie bei allen früheren Siedlerkolonialbewegungen war die Antwort auf diese Probleme die doppelte Logik der Vernichtung und Entmenschlichung. Die einzige Möglichkeit für die Siedler, ihren Einfluss auf das Land über die 7 Prozent hinaus auszudehnen und sich eine ausschließliche demografische Mehrheit zu sichern, bestand darin, die Einheimischen aus ihrem Heimatland zu vertreiben. Der Zionismus ist also ein koloniales Projekt der Siedler, das noch nicht abgeschlossen ist... Israel kolonisiert immer noch... enteignet Palästinenser und verweigert den Einheimischen das Recht auf ihre Heimat... das Verbrechen, das die Führung der zionistischen Bewegung, die zur Regierung Israels wurde, begangen hat, war das der ethnischen Säuberung." (10)(11)
Palästinenser: die letzten Opfer des Holocausts
Die Palästinenser als die letzten Opfer des Holocausts, auch das gehört untrennbar zum 9. November, sowie das Gedenken an alle Opfer der kolonialen Gräueltaten, diesem Erbe der weißen Vorherrschaft mit den vielen fundamentalen Verbrechen der westlichen „Werte-Zivilisation“.
Daher ist es mir ein Bedürfnis, ans Ende meines Kommentars unbedingt einen Artikel des australischen Historikers Dirk A. Moses zu stellen, dem Experten für die Geschichte des Völkermords im kolonialen Kontext und der Erinnerung daran. Seit 2020 ist er Professor für Global- und Menschenrechtsgeschichte an der University of North Carolina at Chapel Hill. Auf ihn wurde ich aufmerksam, als ich am 13.10.2021 in der FAZ unter dem Titel „Blinde Flecke“ einen Artikel von Omer Bartov las und mir daraufhin sein leider nur in Englisch publiziertes Buch "The Problems of Genocide" besorgte und zu lesen begann. Kurz danach fand ich noch eine Rezension seines Buchs in der SZ und war begeistert von diesem Historiker. (12)(13). Zuletzt empfehle ich seinen sehr lesenswerten Artikel, der den „Katechismus der Deutschen“ mit seinen „fünf Überzeugungen“, darunter die Staatsräson, kritisiert und die Zeit für gekommen hält, diesen aufzugeben. Seiner überzeugenden Argumentation stimme ich uneingeschränkt zu, in „Zeiten von Pogromen und Genoziden“. (14)
Fußnoten:
(1) https://www.deutschlandfunk.de/zentralrat-der-juden-schuster-gegen-allgemeine-erinnerung.1939.de.html?drn:news_id=1320380
(2) https://www.deutschlandfunk.de/geschichtstraechtiges-datum-historiker-der-9-november.694.de.html?dram:article_id=504589
(3) https://www.middleeastmonitor.com/20210423-100s-jerusalemites-injured-as-ultra-right-wing-israelis-march-chant-death-to-arabs/
(4) https://theintercept.com/2018/05/20/norman-finkelstein-gaza-iran-israel-jerusalem-embassy/
(5) https://www.middleeastmonitor.com/20200128-jewish-settlers-burn-down-palestinian-churches-and-mosques/
(6) https://www.welt.de/politik/ausland/article109638001/Holocaust-Erinnerung-fuer-immer-in-Haut-gestochen.html
(7) https://www.bbc.com/news/world-europe-38675835
(8) https://desertpeace.wordpress.com/2015/12/22/numbering-palestinians/
(9) https://desertpeace.wordpress.com/2015/11/09/invoking-the-holocaust-is-sometimes-necessary-to-reveal-the-truth/?fbclid=IwAR2ru-tPLq3XBXoNOWuWaBl-bpAGEZo8RxtzJcR63yK5aU9qVCJPiqwlxI4
(10) https://www.middleeasteye.net/news/israel-bennett-no-palestinian-state-foreseeable-future
(11) https://electronicintifada.net/content/israels-incremental-genocide-gaza-ghetto/13562
(12) https://www.youtube.com/watch?v=FIUzUVs7rbI
(13) https://www.sueddeutsche.de/kultur/a-dirk-moses-genozid-holocaust-kolonialismus-1.5279010
(14) https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/
Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des ehemaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, ist Publizistin und Autorin. Ihre Kommentare für die NRhZ schreibt sie regelmäßig vom "Hochblauen", dem 1165 m hohen "Hausberg" im Badischen, wo sie mit ihrem Ehemann Benjamin Hecht lebt. (http://sicht-vom-hochblauen.de/) 2012 kam ihr Buch "Das elfte Gebot: Israel darf alles" heraus. Erschienen im tz-Verlag, ISBN 978-3940456-51-9 (print), Preis 17,89 Euro. Am 28. September 2014 wurde sie von der NRhZ mit dem vierten "Kölner Karls-Preis für engagierte Literatur und Publizistik" ausgezeichnet.
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