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Literatur
Salim Alafensich: Das Kamel mit den Nasenring – Erzählungen
Eine Wiederentdeckung
Von Markus Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)
Kürzlich erhielten wir von einer Bekannten einen kleinen Band mit palästinensischen Geschichten geschenkt, der uns seltsam bekannt vorkam. Es handelt sich dabei um "Das Kamel mit dem Nasenring" von Salim Alafenisch, erschienen im Unionsverlag, Zürich. Obwohl das Werk vor mittlerweile fast 20 Jahren erschienen ist, ist ein genauerer Blick darauf dennoch angebracht und lehrreich.
Ein palästinensischer Beduine
Salim Alafenisch ist ein palästinensischer Schriftsteller, er wurde in einen Beduinenstamm in der Negev Wüste geboren. Als Kind hütete er die Kamele seines Vaters und seines Stammes, mit vierzehn Jahren lernte er Lesen und Schreiben. Nachdem er das Gymnasium in Nasira (Nazareth) abgeschlossen hatte, studierte er Ethnologie, Soziologie und Psychologie an den Universitäten von London und Heidelberg. Die Geschichten und die Gedichte von Alafenisch stehen in der Tradition der arabischen Erzählkunst der Beduinen. Die Verschriftlichung dieser Tradition ist natürlich eine Herausforderung, die Alafensich jedoch hervorragend meistert.
Die vorliegenden Erzählungen sind im Jahr 2003 im Schweizer Unionsverlag erschienen, wir können also mit Recht von einer Wiederentdeckung sprechen. Im Jahr 2003 waren wir alle mit anderen Dingen beschäftigt. Geschichten aus den Beduinenzelten in der Negev Wüste lasen damals wahrscheinlich die Wenigsten von uns. Was uns im Jahr 2003 umtrieb, das war der Widerstand gegen den Krieg, welchen die USA und ihre Vasallen gegen den Irak bereits zum zweiten Mal losgetreten hatten. Jahre danach fällt uns bei der Lektüre von Salim Alafenischs Buch auf, dass sich die Mechanismen imperialistischer und zionistischer Angriffe nicht nur gleichen, sondern nahezu identisch sind.
Orale Überlieferungen als Erzählstruktur
Alafenisch stellt hier nicht direkt traditionelle Erzählungen der Beduinen vor, vielmehr folgt er der Tradition dieser Erzählkunst, und er spinnt sie weiter bis in unsere Tage. Orale Überlieferungen sind das Grundgerüst seiner Erzählstruktur.
Die Rahmengeschichte spielt sich im Scheichzelt in der Negev-Wüste während einer stürmischen, kalten Winternacht ab. Der Stamm schart sich um das wärmende Feuer im Zelt und lauscht den Erzählungen des alten Hussein. Entlang diesem roten Faden ziehen sich die Erzählungen, die uns Salim Alafensich in einer farbigen und spannenden Sprache präsentiert und die uns im Bann halten.
Anders als andere palästinensische Schriftsteller des Genres - wir denken da vor allem an Ghassan Kanafani oder an Mahmoud Darwisch, (1) welche beide das Leid und die Passion des palästinensischen Volkes bis an die Grenze des erträglichen schildern - bewahrt sich Alafenisch bei aller Tragik der Ereignisse, die er beschreibt, immer eine Prise Humor.
Die Besatzung in der palästinensischen Literatur
Kein palästinensischer Schriftsteller, keine palästinensische Schriftstellerin kommt daran vorbei, die Besatzung, die Folgen der Besatzung und was sich weiter aus dieser Besatzung heraus entwickelt zu thematisieren. Die bereits erwähnten Koryphäen der palästinensischen Literatur, Kanafani und Darwisch, taten dies, indem sie, wie Kanafani, vor allem den Widerstand in all seinen Facetten würdigten und die zionistischen Gräueltaten schonungslos offenlegten. Darwish indes kam relativ spät zu seiner Rolle als politischer Poet der palästinensischen Sache. Dann jedoch wurde auch er zu einer Ikone, zu einer Integrationsfigur, nicht nur für das palästinensische Volk, sondern für die gesamte arabische Welt. Gemeinsam ist beiden, Darwish und Kanafani, dass sie es verstanden haben, mittels ihrer Lyrik und ihrer Prosa die Empörung über das Unrecht, welches den Palästinensern geschieht, zu vermitteln. Ihre Worte sind Teil dieser Empörung und sie fordern uns als LeserInnen oft ganz mittelbar dazu auf, diese Empörung zu teilen, sie fordern uns zur Solidarität und zum Handeln auf.
Ganz anders Salim Alafenisch
Die Politik, der politische Moment erschließt sich bei ihm nicht auf den ersten Blick. Erstmal haben wir es bei Salim Alafenisch mit einem Erzähler zu tun, der sein Handwerk ganz offensichtlich bei den Erzählungen der Beduinen erlernt und weiter entwickelt hat. Gleichwohl kommt natürlich auch Alafenisch nicht daran vorbei, die Schrecken und die Absurditäten der Kolonialisierung und der Besatzung in seine Erzählungen einfließen zu lassen, ja je tiefer wir in dieses Werk eintauchen, um so klarer wird: Ebenso wie das Leben der indigenen Stämme in den Weiten Nordamerikas durch den Landraub und den Genozid durch die weißen Siedlerkolonialisten zerstört wurde, so wurde auch das traditionelle Leben der Beduinen zerstört. Dieser Prozess begann noch relativ subtil unter der Herrschaft der Osmanen, die – anderes als die Kalifen zuvor – versuchten die wandernden Stämme sesshaft zu machen. Dieser Versuch ist jedoch gründlich misslungen, und dabei ließ es die Hohe Pforte auch weitestgehend bewenden.
Die europäischen Mächte, namentlich Frankreich und England, brachten den «kranken Mann am Bosporus» endgültig zu Fall. Es ist bezeichnend, dass sie dabei nicht auf die Unterstützung der Beduinen Stämme rechnen konnten, im Gegenteil ergriffen die Stämme Partei für das im Abstieg begriffene osmanische Reich.
In der Folge übernahm Großbritannien als „Mandatsmacht“ die Herrschaft über ganz Palästina und damit auch über die Stämme welche die Negev Wüste seit hunderten von Jahren durchquerten.
Diese Herrschaft, so erfahren wir in den Geschichten die uns Alafenisch erzählt, war ungleich viel ungerechter und repressiver als was die Stämme unter den Kalifen und später unter der Hohen Pforte erlebten. Das richtige Unheil begann jedoch für die Stämme, mit der Ausrufung des israelischen Staates Dieser Staat zwängte die nomadisierenden Stämme und deren Herden in regelrechte Reservate ein. Dies war nicht nur eine massive Einschränkung in die Lebensart der Beduinen, es lief darauf hinaus, diese Lebensart und die damit verbundene Kultur restlos zu zerstören.
Geschichte durch Geschichten lernen
Entlang den Kapiteln des Buches, («Die Siebenbrunnen-Stadt» «Der Gast mit den blauen Augen» «der gelehrte Esel» und «Das Kamel mit dem Nasenring») schildert uns Salim Alafenisch diese Lebensart und diese Kultur anschaulich. Das Leseerlebnis ist zugleich beglückend als auch bedrückend. Beglückend, weil es Alafenisch versteht, das Leben der Beduinen so zu schildern, dass wir als LeserInnen in dieses Leben eintauchen, gleichsam daran teilhaben können. Bedrückend weil die Zerstörung dieser Kultur im Verlauf der Erzählungen nicht nur absehbar, sondern in der Zwischenzeit ja auch zur bitteren Realität geworden ist. Die endlosen Weiten der Wüste, die von den nomadisierenden Beduinen durchstreift wurden, gehören schon längst der Vergangenheit an. Durchschnitten von den Grenzen, gezogen von Skyes und Picot, (2) und denen aufgezwungen, die innerhalb dieser Grenzen leben. Durchschnitten jedoch auch vom Suez Kanal, dieser Wasserstrasse, zu der die anliegenden Völker von den europäischen Kolonialisten ebenso wenig um ihre Meinung gefragt wurden, wie zu den absurden Grenzziehungen. (3)
Anhand von Geschichten kann Geschichte gelehrt, gelernt und rezipiert werden. Die Geschichten vom «Kamel mit dem Nasenring» sind ein Beispiel dafür. Obwohl diese Geschichten mittlerweile fast 20 Jahre alt sind, haben sie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst.
Jenseits von aller Folklore wird über weite Strecken auf oft humorvolle Art vermittelt, dass die Repression, welcher die Beduinenstämme ausgesetzt waren, durchaus einer Hierarchie unterliegt: Am besten konnten sich sie Stämme unter dem Kalifat bewegen. Unter den Osmanen erfuhren sie bereits bestimmte Einschränkungen, die sich unter der britischen «Mandatsherrschaft» noch einmal massiv verstärkten. Eine Anekdote dazu: So verboten zum Beispiel die Briten, nicht nur den Nomaden, sondern allen, die ihrem «Mandat» unterstanden, ihren eigenen, selbst angebauten Tabak zu rauchen. So sollte der Verkauf von englischen Zigaretten gefördert werden. Diese und andere Ungerechtigkeiten und Absurditäten wurden jedoch bei weiten übertroffen, als die Israelis das Land raubten und in der Folge weite Teile davon illegal besetzten. All dies und noch viel mehr erfahren wir bei Salim Alafenisch in Form von locker erzählten Geschichten, die jedoch zugleich von großer politischer Brisanz sind.
Wo Unrecht ist, ist auch der Widerstand dagegen
Alafenisch, dessen Themen, gemäß seinen eigenen Aussagen aus seiner eigenen Erfahrung und aus seiner eigenen Lebensgeschichte stammen, ist es wert, von einer breiten Leserschaft entdeckt, bzw. wiederentdeckt zu werden. Die Realität, die er beschreibt ist weder für die Beduinen noch für alle anderen PalästinenserInnen besser geworden. Im Gegenteil verschärft sich – auch bedingt durch die aktive Ignoranz der so genannten Weltgemeinschaft gegenüber diesen Verbrechen, die Lage der vom Zionismus und Imperialismus unterdrückten Menschen täglich. Wir lesen das nicht explizit in den Geschichten vom «Kamel mit dem Nasenring», weil uns Alafensischs Erzählungen nicht direkt mit der Nase darauf stossen. Gleichwohl ist es eine Tatsache:
Wo das Unrecht herrscht, da wächst auch der Widerstand gegen das Unrecht. Und genau so wie in den Büchern, nicht nur von Salim Alafenisch, sondern auch von zahlreichen anderen arabischen AutorInnen dieses Unrecht angeprangert wird, so wächst auch die Empörung gegen dieses Unrecht. Imperialismus, Kolonialismus und Zionismus sind höchst hässliche Episoden innerhalb der menschlichen Geschichte. So auch zum Beispiel Algerien: Im Jahr 1830 wurde Algerien durch die französischen Horden besetzt. Die Befreiung erfolgte im Jahr 1962 durch das algerische Volk und durch die Kräfte der FLN. Die FLN (Front Liberation National) vereinte das algerische Volk im Kampf gegen die französische Besatzung. Ganze 132 Jahre litt das Volk Algeriens unter der illegalen Besatzung durch die Franzosen! Daraus lernen wir, dass ein Unrecht keinen Bestand haben kann, da es von den Menschen auf Dauer nicht hingenommen wird. (4) Der Widerstand ist immer stärker als das Unrecht.
Salim Alafensich: Das Kamel mit den Nasenring - Erzählungen
Unionsverlag, Zürich 2003, ISBN 978-3-293-20266-5, 192 Seiten, 8.90 Euro
Fußnoten:
1 Mehr zu Kanafani und Darwish in „Poesie des Widerstandes“ Farid Darrage und Markus Heizmann, TuP Verlag, 2012 ausserdem hier:
https://www.youtube.com/watch?v=nSYYkLSqxg0 (Letzter Zugriff Januar 2022)
2 Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 war eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, durch die deren koloniale Interessengebiete im Arabischen Raum nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden. Siehe dazu auch:
https://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25577 (Letzter Zugriff Januar 2022)
3 Unter dem ägyptischen Präsidenten Nasser wurde der Kanal am 26. Juli 1956 verstaatlicht. Dies löste die Suezkrise aus. Am 29. Oktober 1956 griffen israelische, britische und französische Truppen Ägypten an, bekannt wurden diese Angriffe unter dem Namen Dreier-Aggression. Siehe dazu „Die Geschichte der arabischen Völker von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Karam Khella, TuP Verlag Hamburg, 2016 (5. Auflage)
4 Zu Algerien siehe auch: „Kolonialmacht vertrieben – Kolonialismus beendet?“ in
https://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27427 (Letzter Zugriff Januar 2022)
Online-Flyer Nr. 785 vom 26.01.2022
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Salim Alafensich: Das Kamel mit den Nasenring – Erzählungen
Eine Wiederentdeckung
Von Markus Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)
Kürzlich erhielten wir von einer Bekannten einen kleinen Band mit palästinensischen Geschichten geschenkt, der uns seltsam bekannt vorkam. Es handelt sich dabei um "Das Kamel mit dem Nasenring" von Salim Alafenisch, erschienen im Unionsverlag, Zürich. Obwohl das Werk vor mittlerweile fast 20 Jahren erschienen ist, ist ein genauerer Blick darauf dennoch angebracht und lehrreich.
Ein palästinensischer Beduine
Salim Alafenisch ist ein palästinensischer Schriftsteller, er wurde in einen Beduinenstamm in der Negev Wüste geboren. Als Kind hütete er die Kamele seines Vaters und seines Stammes, mit vierzehn Jahren lernte er Lesen und Schreiben. Nachdem er das Gymnasium in Nasira (Nazareth) abgeschlossen hatte, studierte er Ethnologie, Soziologie und Psychologie an den Universitäten von London und Heidelberg. Die Geschichten und die Gedichte von Alafenisch stehen in der Tradition der arabischen Erzählkunst der Beduinen. Die Verschriftlichung dieser Tradition ist natürlich eine Herausforderung, die Alafensich jedoch hervorragend meistert.
Die vorliegenden Erzählungen sind im Jahr 2003 im Schweizer Unionsverlag erschienen, wir können also mit Recht von einer Wiederentdeckung sprechen. Im Jahr 2003 waren wir alle mit anderen Dingen beschäftigt. Geschichten aus den Beduinenzelten in der Negev Wüste lasen damals wahrscheinlich die Wenigsten von uns. Was uns im Jahr 2003 umtrieb, das war der Widerstand gegen den Krieg, welchen die USA und ihre Vasallen gegen den Irak bereits zum zweiten Mal losgetreten hatten. Jahre danach fällt uns bei der Lektüre von Salim Alafenischs Buch auf, dass sich die Mechanismen imperialistischer und zionistischer Angriffe nicht nur gleichen, sondern nahezu identisch sind.
Orale Überlieferungen als Erzählstruktur
Alafenisch stellt hier nicht direkt traditionelle Erzählungen der Beduinen vor, vielmehr folgt er der Tradition dieser Erzählkunst, und er spinnt sie weiter bis in unsere Tage. Orale Überlieferungen sind das Grundgerüst seiner Erzählstruktur.
Die Rahmengeschichte spielt sich im Scheichzelt in der Negev-Wüste während einer stürmischen, kalten Winternacht ab. Der Stamm schart sich um das wärmende Feuer im Zelt und lauscht den Erzählungen des alten Hussein. Entlang diesem roten Faden ziehen sich die Erzählungen, die uns Salim Alafensich in einer farbigen und spannenden Sprache präsentiert und die uns im Bann halten.
Anders als andere palästinensische Schriftsteller des Genres - wir denken da vor allem an Ghassan Kanafani oder an Mahmoud Darwisch, (1) welche beide das Leid und die Passion des palästinensischen Volkes bis an die Grenze des erträglichen schildern - bewahrt sich Alafenisch bei aller Tragik der Ereignisse, die er beschreibt, immer eine Prise Humor.
Die Besatzung in der palästinensischen Literatur
Kein palästinensischer Schriftsteller, keine palästinensische Schriftstellerin kommt daran vorbei, die Besatzung, die Folgen der Besatzung und was sich weiter aus dieser Besatzung heraus entwickelt zu thematisieren. Die bereits erwähnten Koryphäen der palästinensischen Literatur, Kanafani und Darwisch, taten dies, indem sie, wie Kanafani, vor allem den Widerstand in all seinen Facetten würdigten und die zionistischen Gräueltaten schonungslos offenlegten. Darwish indes kam relativ spät zu seiner Rolle als politischer Poet der palästinensischen Sache. Dann jedoch wurde auch er zu einer Ikone, zu einer Integrationsfigur, nicht nur für das palästinensische Volk, sondern für die gesamte arabische Welt. Gemeinsam ist beiden, Darwish und Kanafani, dass sie es verstanden haben, mittels ihrer Lyrik und ihrer Prosa die Empörung über das Unrecht, welches den Palästinensern geschieht, zu vermitteln. Ihre Worte sind Teil dieser Empörung und sie fordern uns als LeserInnen oft ganz mittelbar dazu auf, diese Empörung zu teilen, sie fordern uns zur Solidarität und zum Handeln auf.
Ganz anders Salim Alafenisch
Die Politik, der politische Moment erschließt sich bei ihm nicht auf den ersten Blick. Erstmal haben wir es bei Salim Alafenisch mit einem Erzähler zu tun, der sein Handwerk ganz offensichtlich bei den Erzählungen der Beduinen erlernt und weiter entwickelt hat. Gleichwohl kommt natürlich auch Alafenisch nicht daran vorbei, die Schrecken und die Absurditäten der Kolonialisierung und der Besatzung in seine Erzählungen einfließen zu lassen, ja je tiefer wir in dieses Werk eintauchen, um so klarer wird: Ebenso wie das Leben der indigenen Stämme in den Weiten Nordamerikas durch den Landraub und den Genozid durch die weißen Siedlerkolonialisten zerstört wurde, so wurde auch das traditionelle Leben der Beduinen zerstört. Dieser Prozess begann noch relativ subtil unter der Herrschaft der Osmanen, die – anderes als die Kalifen zuvor – versuchten die wandernden Stämme sesshaft zu machen. Dieser Versuch ist jedoch gründlich misslungen, und dabei ließ es die Hohe Pforte auch weitestgehend bewenden.
Die europäischen Mächte, namentlich Frankreich und England, brachten den «kranken Mann am Bosporus» endgültig zu Fall. Es ist bezeichnend, dass sie dabei nicht auf die Unterstützung der Beduinen Stämme rechnen konnten, im Gegenteil ergriffen die Stämme Partei für das im Abstieg begriffene osmanische Reich.
In der Folge übernahm Großbritannien als „Mandatsmacht“ die Herrschaft über ganz Palästina und damit auch über die Stämme welche die Negev Wüste seit hunderten von Jahren durchquerten.
Diese Herrschaft, so erfahren wir in den Geschichten die uns Alafenisch erzählt, war ungleich viel ungerechter und repressiver als was die Stämme unter den Kalifen und später unter der Hohen Pforte erlebten. Das richtige Unheil begann jedoch für die Stämme, mit der Ausrufung des israelischen Staates Dieser Staat zwängte die nomadisierenden Stämme und deren Herden in regelrechte Reservate ein. Dies war nicht nur eine massive Einschränkung in die Lebensart der Beduinen, es lief darauf hinaus, diese Lebensart und die damit verbundene Kultur restlos zu zerstören.
Geschichte durch Geschichten lernen
Entlang den Kapiteln des Buches, («Die Siebenbrunnen-Stadt» «Der Gast mit den blauen Augen» «der gelehrte Esel» und «Das Kamel mit dem Nasenring») schildert uns Salim Alafenisch diese Lebensart und diese Kultur anschaulich. Das Leseerlebnis ist zugleich beglückend als auch bedrückend. Beglückend, weil es Alafenisch versteht, das Leben der Beduinen so zu schildern, dass wir als LeserInnen in dieses Leben eintauchen, gleichsam daran teilhaben können. Bedrückend weil die Zerstörung dieser Kultur im Verlauf der Erzählungen nicht nur absehbar, sondern in der Zwischenzeit ja auch zur bitteren Realität geworden ist. Die endlosen Weiten der Wüste, die von den nomadisierenden Beduinen durchstreift wurden, gehören schon längst der Vergangenheit an. Durchschnitten von den Grenzen, gezogen von Skyes und Picot, (2) und denen aufgezwungen, die innerhalb dieser Grenzen leben. Durchschnitten jedoch auch vom Suez Kanal, dieser Wasserstrasse, zu der die anliegenden Völker von den europäischen Kolonialisten ebenso wenig um ihre Meinung gefragt wurden, wie zu den absurden Grenzziehungen. (3)
Anhand von Geschichten kann Geschichte gelehrt, gelernt und rezipiert werden. Die Geschichten vom «Kamel mit dem Nasenring» sind ein Beispiel dafür. Obwohl diese Geschichten mittlerweile fast 20 Jahre alt sind, haben sie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst.
Jenseits von aller Folklore wird über weite Strecken auf oft humorvolle Art vermittelt, dass die Repression, welcher die Beduinenstämme ausgesetzt waren, durchaus einer Hierarchie unterliegt: Am besten konnten sich sie Stämme unter dem Kalifat bewegen. Unter den Osmanen erfuhren sie bereits bestimmte Einschränkungen, die sich unter der britischen «Mandatsherrschaft» noch einmal massiv verstärkten. Eine Anekdote dazu: So verboten zum Beispiel die Briten, nicht nur den Nomaden, sondern allen, die ihrem «Mandat» unterstanden, ihren eigenen, selbst angebauten Tabak zu rauchen. So sollte der Verkauf von englischen Zigaretten gefördert werden. Diese und andere Ungerechtigkeiten und Absurditäten wurden jedoch bei weiten übertroffen, als die Israelis das Land raubten und in der Folge weite Teile davon illegal besetzten. All dies und noch viel mehr erfahren wir bei Salim Alafenisch in Form von locker erzählten Geschichten, die jedoch zugleich von großer politischer Brisanz sind.
Wo Unrecht ist, ist auch der Widerstand dagegen
Alafenisch, dessen Themen, gemäß seinen eigenen Aussagen aus seiner eigenen Erfahrung und aus seiner eigenen Lebensgeschichte stammen, ist es wert, von einer breiten Leserschaft entdeckt, bzw. wiederentdeckt zu werden. Die Realität, die er beschreibt ist weder für die Beduinen noch für alle anderen PalästinenserInnen besser geworden. Im Gegenteil verschärft sich – auch bedingt durch die aktive Ignoranz der so genannten Weltgemeinschaft gegenüber diesen Verbrechen, die Lage der vom Zionismus und Imperialismus unterdrückten Menschen täglich. Wir lesen das nicht explizit in den Geschichten vom «Kamel mit dem Nasenring», weil uns Alafensischs Erzählungen nicht direkt mit der Nase darauf stossen. Gleichwohl ist es eine Tatsache:
Wo das Unrecht herrscht, da wächst auch der Widerstand gegen das Unrecht. Und genau so wie in den Büchern, nicht nur von Salim Alafenisch, sondern auch von zahlreichen anderen arabischen AutorInnen dieses Unrecht angeprangert wird, so wächst auch die Empörung gegen dieses Unrecht. Imperialismus, Kolonialismus und Zionismus sind höchst hässliche Episoden innerhalb der menschlichen Geschichte. So auch zum Beispiel Algerien: Im Jahr 1830 wurde Algerien durch die französischen Horden besetzt. Die Befreiung erfolgte im Jahr 1962 durch das algerische Volk und durch die Kräfte der FLN. Die FLN (Front Liberation National) vereinte das algerische Volk im Kampf gegen die französische Besatzung. Ganze 132 Jahre litt das Volk Algeriens unter der illegalen Besatzung durch die Franzosen! Daraus lernen wir, dass ein Unrecht keinen Bestand haben kann, da es von den Menschen auf Dauer nicht hingenommen wird. (4) Der Widerstand ist immer stärker als das Unrecht.
Salim Alafensich: Das Kamel mit den Nasenring - Erzählungen
Unionsverlag, Zürich 2003, ISBN 978-3-293-20266-5, 192 Seiten, 8.90 Euro
Fußnoten:
1 Mehr zu Kanafani und Darwish in „Poesie des Widerstandes“ Farid Darrage und Markus Heizmann, TuP Verlag, 2012 ausserdem hier:
https://www.youtube.com/watch?v=nSYYkLSqxg0 (Letzter Zugriff Januar 2022)
2 Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 war eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, durch die deren koloniale Interessengebiete im Arabischen Raum nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden. Siehe dazu auch:
https://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25577 (Letzter Zugriff Januar 2022)
3 Unter dem ägyptischen Präsidenten Nasser wurde der Kanal am 26. Juli 1956 verstaatlicht. Dies löste die Suezkrise aus. Am 29. Oktober 1956 griffen israelische, britische und französische Truppen Ägypten an, bekannt wurden diese Angriffe unter dem Namen Dreier-Aggression. Siehe dazu „Die Geschichte der arabischen Völker von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Karam Khella, TuP Verlag Hamburg, 2016 (5. Auflage)
4 Zu Algerien siehe auch: „Kolonialmacht vertrieben – Kolonialismus beendet?“ in
https://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27427 (Letzter Zugriff Januar 2022)
Online-Flyer Nr. 785 vom 26.01.2022
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