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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Krieg und Frieden
Über die Rolle von Bundespräsident Steinmeier
Der Pharisäer von Schloss Bellevue
Von Wolfgang Effenberger

Nach seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten am 13. Februar 2022 hatte Frank-Walter Steinmeier nichts anderes zu tun, als dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in deutlichen Worten die Verantwortung für die Eskalation im Ukraine-Konflikt zuzuweisen. Er ließ sich sogar zu einem Appell an Putin "Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine" (1) hinreißen. Unter großem Beifall der Bundesversammlung gab er Putin den Rat, nicht den Fehler zu machen, die Stärke der Demokratie – Klarheit, Abschreckung und Entschlossenheit – zu unterschätzen. Mit seinem teutonischen Auftreten in seiner ersten Rede als wiedergewählter Präsident befeuerte Steinmeier in verantwortungsloser Weise den amerikanisch-russischen Konflikt. Die NOZ titelte am 14. Februar „Der richtige Präsident zur richtigen Zeit“, und Ralf Schuler ging in seinem BILD-Kommentar „Diese Ansage hatte Wums!“ mit seiner Forderung „Dieser Rede müssen Taten folgen!“ noch weiter. (2) Auf Steinmeier konnten sich bisher die transatlantischen Freunde verlassen.

Am 12. April 2022 wollte der deutsche Bundespräsident Steinmeier zusammen mit den Staatschefs von Polen, Litauen, Lettland und Estland von Warschau aus in die ukrainische Hauptstadt reisen, „um dort ein starkes Zeichen gemeinsamer europäischer Solidarität mit der Ukraine zu senden und zu setzen“, wie er in der polnischen Hauptstadt sagte. Doch dazu kam es nicht. „Ich war dazu bereit. Aber offenbar - und ich muss das zur Kenntnis nehmen - war das in Kiew nicht gewünscht.“ (3)

Was wurde dem deutschen Staatsoberhaupt vom ukrainischen Präsidenten Selenskyi vorgeworfen? Unter anderem hatte Steinmeier bis zuletzt das deutsch-russische Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 verteidigt und noch vor dem 24. Februar 2022 in einem Interview mit der "Rheinischen Post" erklärt, dass die Energiebeziehungen "die letzte Brücke zwischen Russland und Europa" seien. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs – dem offiziellen Ende der Pipeline-Pläne – entschuldigte Steinmeier sich für die Fehleinschätzung.

In Kiew hatte man augenscheinlich auch vergessen, dass im Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem Maidan im Februar 2014 und der Flucht des gewählten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier in diesem vom Westen orchestrierten Regimechange mit die Fäden gezogen hatte. (4) Steinmeiers Versprechen, dass die neuen Machthaber eine "inklusive" Regierung bilden, wurde nicht eingehalten. Dafür durfte die braune Swoboda-Partei im neuen Kiewer Kabinett sogar mehrere Minister, einen Vizepremier und den Generalstaatsanwalt stellen. (5)

Am 25. Oktober 2022 gab es dann für Steinmeiers Reise nach Kiew grünes Licht. In der Ukraine verschaffte sich Steinmeier ein Bild von der Zerstörung durch den Angriffskrieg Russlands und besuchte dabei medienwirksam das nordukrainische Städtchen Korjukiwka nahe der belarusischen Grenze, das zu Beginn des Angriffskriegs von russischen Truppen besetzt wurde, und leistete den Menschen im Luftschutzkeller Gesellschaft. Danach machte er Selenskyi seine Aufwartung. Steinmeier sicherte Selenskyi die zügige Lieferung weiterer deutscher Waffensysteme zur Luftverteidigung zu. Weitere Mehrfachraketenwerfer vom Typ Mars II und zusätzlich vier Panzerhaubitzen 2000 würden „zeitnah in den nächsten Tagen an die Ukraine übergeben“, sagte Steinmeier auf der gemeinsamen Pressekonferenz. Zuvor hatte er dem ukrainischen Volk die unerschütterliche Solidarität Deutschlands zugesichert. (6)

Die von Steinmeier mit leichter Hand gemachten "Morgengaben" stellen einen Verstoß gegen Art. 59 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland dar. Dort ist nachzulesen:
    (1) Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten.

    (2) Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Für Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend. (7)
Demnach bezieht sich die Kompetenz des deutschen Bundespräsidenten ausschließlich auf die Ratifikation von völkerrechtlichen Verträgen, nicht aber auf die Ausgestaltung dieser Verträge. Da eine materielle Gestaltung der Außenpolitik vollkommen ausgeschlossen ist, müsste nun der Bundespräsident vor dem Bundesverfassungsgericht angeklagt werden. Hierzu hätte jedoch nur entweder der Bundestag oder der Bundesrat mit jeweils einem Viertel seiner Mitglieder die rechtliche Kompetenz. Das scheint allerdings kaum vorstellbar. Eher wird Steinmeier noch Lob von Seiten der Regierung bekommen.

Während der Bundespräsident in Kiew um das Wohlwollen Selenykyis warb, fand in Berlin die Ukraine-Konferenz statt, zu der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzler Olaf Scholz eingeladen hatten.

Laut dem Wirtschaftsberater von Präsident Selenskyj, Alexander Rodnyansky, braucht die Ukraine jeden Monat vier bis fünf Milliarden Dollar für ihren Haushalt: „Wir glauben, dass Deutschland etwa 500 Millionen Dollar pro Monat übernehmen könnte, vor allem mit Blick auf das Jahr 2023,“ (8) so Rodnyansky. Von der EU insgesamt erhoffe sich die ukrainische Regierung rund zwei Milliarden Dollar pro Monat.

Während sich Scholz für einen "Marshallplan" für die Ukraine einsetzte, offerierte von der Leyen der Ukraine Zahlungen von bis zu 1,5 Milliarden Euro jeden Kriegsmonat – das sind allein für 2023 18 Milliarden Euro. Wer wird hier wohl der Hauptzahler sein? Angesichts dieser Summen sind die berühmten 5 Milliarden US-Dollar, die die USA für den Regimechange in der Ukraine ausgegeben haben sollen, ja wohl nur Peanuts! Auf dem Weg zur unipolaren Weltordnung sind die von den USA nach 1945 geschaffenen Wunschprodukte wie EU und NATO wichtige und willige Erfüllungsgehilfen. (9)

An die Partner gerichtet, betonte von der Leyen: „Jeder Euro, jeder Dollar, jedes Pfund und jeder Yen, den wir ausgeben, ist eine Investition in die Ukraine und in demokratische Werte auf der ganzen Welt. Und das ist dringend notwendig. Aber es ist auch ein Statement. Eine Erklärung, dass die freien und demokratischen Nationen dieser Welt zusammenstehen. Und dass wir für unsere Werte einstehen.“ (10)

Nach seiner Rückkehr aus Kiew wandte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Großen Saal von Schloss Bellevue angesichts zahlreicher globaler Krisen an die Nation und stimmte die Bevölkerung auf eine schwierige Zukunft als Folge des russischen Angriffskriegs in der der Ukraine ein: „Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Es beginnt eine Epoche im Gegenwind. (11)


Steinmeier: Es kommen härtere Jahre auf uns zu (12)

Zugleich beschwor er die Widerstandskraft und den Widerstandsgeist insgesamt sechsmal und den "widerstandsfähigen Bürger" gleich fünfmal... Laut Steinmeier befindet sich das Land in der tiefsten Krise seit der Wiedervereinigung. Man müsse nun den Blick schärfen für das, was in dieser Situation verlangt sei. Es folgt das bereits bekannte Mantra: Wir unterstützen die Ukraine „solange es nötig sein wird. Wir unterstützen sie militärisch. Wir unterstützen sie finanziell und politisch. Und wir unterstützen sie ganz akut beim schnellen Wiederaufbau nach Russlands niederträchtigen Angriffen auf Strom, Heizung, warmes Wasser, auf alle lebenswichtigen Infrastrukturen vor dem nahenden Winter.“ (13)

Neben der Beschwörung eines allgemeinen "Wir-Gefühls" entdeckte der Bundespräsident seine deutschen Mitbürger. So bemühte er gleich sechsmal den Ausdruck "Wir Deutsche", bzw. "Uns Deutsche". Jetzt braucht man also "Die Deutschen", von denen viele in den letzten Jahren aus Politikverdrossenheit innerlich gekündigt haben? Wie katastrophal muss die Lage sein? Auch verzichtet Steinmeier in seiner nach innen und außen gerichteten kriegstreibenden Rede weitgehend den Luxus des Genderns. In Kriegszeiten gilt anscheinend die kommunikative Regel: „Im Ernstfall besser nicht gendern!“, weil das die Aufmerksamkeit der Zuhörer ablenkt und läppisch wirkt. (14)

Ausgerechnet Steinmeier, der seit 1998 die Belange der deutschen Politik an verantwortungsvoller Stelle mitgestaltet und über die völkerrechtswidrigen Kriege der USA/NATO Bescheid weiß – 1999 Jugoslawien, 2001 Afghanistan, 2003 Irak, 2011 Libyen, 2012 Syrien – macht nun den ebenfalls völkerrechtswidrigen Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine als Epochenbruch aus: Der 24. Februar „hat auch uns in Deutschland in eine andere Zeit, in eine überwunden geglaubte Unsicherheit gestürzt: eine Zeit, gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausbreitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa... Eine Zeit, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt, das Vertrauen in Demokratie, mehr noch: das Vertrauen in uns selbst Schaden genommen hat.“ Nach Steinmeier ist mit diesem Epochenbruch ein Zeitalter zu Ende gegangen. Für das beginnende neue Zeitalter müsse der Blick für das geschärft werden, „was jetzt von uns verlangt ist“.

Die Jahre vor dem 24. Februar 2022 sieht Steinmeier für Deutschland als eine Epoche im Rückenwind. „Es waren Jahre, geprägt vom Glücksmoment der Deutschen Einheit, vom friedlichen Abzug der sowjetischen Truppen, vom Ende der Blockkonfrontation und dem Zusammenwachsen Europas. Es waren Jahre der Friedensdividende, von der wir Deutsche in der Mitte des vereinten Europas reichlich profitiert haben.“ Diese Aussagen bedürfen einer gründlichen Überprüfung.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer Vertragsorganisation verfolgen USA und NATO eine Politik der unipolaren Weltordnung, in der es keine zweite Weltmacht mehr geben darf. Diese imperiale Politik ist nicht gerade vom Geist des Friedens geprägt, und wenn ein aktiver Politiker in Europa den langen Weg in den jetzigen Konflikt kennt, dann ist es der amtierende deutsche Bundespräsident.

In der rot-grünen Kriegskoalition von 1998 wurde Steinmeier Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste. Von 1999 bis 2005 war er unter Schröder Chef des Bundeskanzleramts und von 2005 bis 2009 (Kabinett Merkel I) Außenminister. Nach der Niederlage als Kanzlerkandidat der SPD bei der Wahl 2009 war er bis 2013 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und damit auch Oppositionsführer. Seine zweite Amtszeit als Außenminister dauerte von 2013 bis 2017 (Kabinett Merkel III), anschließend folgte auf Merkels Vorschlag hin die Wahl zum Bundespräsidenten. Steinmeier hat in exponierter Stellung alle völkerrechtswidrigen Kriege der USA widerspruchslos mitgetragen und wohl leider vergessen, dass die Wiedervereinigung 1990 vor allem Russland zu verdanken war. In dem sogenannten 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 verpflichtete sich die Bundesrepublik feierlich, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen“ und „Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“.

Dieses Versprechen wurde bisher dreimal gebrochen – jedes Mal war Steinmeier beteiligt:
  • 1999 beim völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien,
  • 2001 im Zuge des völkerrechtswidrigen Angriffs auf Afghanistan 27 Tage nach 9/11 sowie
  • 2003, als die Bundeswehr auf Weisung des damals amtierenden Verteidigungsministers Dr. Peter Struck (SPD) das „völkerrechtliche Verbrechen“ der USA und ihrer Alliierten gegen den Irak und seine Menschen „mit allen Anstrengungen“ unterstützte (15). Bis heute ist die Rolle von Steinmeier und dem ihm unterstellten BND im Irakkrieg umstritten. Recherchen des ARD-Magazins „Panorama“ zufolge soll der deutsche Geheimdienst BND den USA beim Irak-Krieg Hilfestellung geleistet haben. (16)
  • 2008, als entgegen der UN-Resolution 1244 vom 19. Juni 1999, durch die die 78 Tage andauernde Nato-Aggression gegen Serbien (BRJ) beendet und die territoriale Integrität Serbiens (BRJ) sowie eine weitgehende Autonomie für die Provinz Kosovo und Metohija innerhalb Serbiens (BRJ) festgelegt wurde, Kosovo von Serbien abgespalten und von den Nato- und EU-Mitgliedern mit Ausnahme von Spanien, Rumänien, der Slowakei, Griechenland und Zypern anerkannt wurde, denn Biden sprach sich in einer Sitzung des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen im März 2008, bei der der Status des Kosovo fast ein Jahrzehnt nach der Bombardierung Serbiens erörtert wurde, ausdrücklich für „das Recht aus, neue so genannte ‚Länder‘ auszurufen“ (17).
  • 2009, als der am 4. September 2009 von Oberst Klein befohlene fatale Luftangriff in Afghanistan gegen zwei im Morast stecken gebliebene Tanker, bei dem es offiziell 91 Tote, darunter dutzende Zivilisten gegeben (unabhängige Zählungen gehen von 142 Toten aus) hatte, von ihm als Außenminister gebilligt wurde. (18)
All diese Verstöße gegen Völkerrecht und UN-Charta sind Teil der von den USA definierten und von Steinmeier gern zitierten sogenannten „regelbasierten Weltordnung“.

Im Februar 2014 erlebte die Welt dann den orchestrierten Putsch in der Ukraine. Bei der damaligen Unterstützung der USA durch EU und NATO war wieder der deutsche Außenminister Steinmeier involviert. Am 20. Februar 2014 traf sich Steinmeier mit dem ukrainischen Faschistenführer Oleg Tjagnybok in der deutschen Botschaft in Kiew, der nach dem Gespräch als „gleichberechtigter“ Oppositionspartner an den mehrstündigen gemeinsamen Verhandlungen über den Umsturz in der Ukraine teilnehmen durfte. (19)

Präsident Janukowitsch hatte sich den Westen zum Feind gemacht, als er angeblich den Assoziierungsvertrag zur EU doch nicht unterzeichnen wollte. Dieser Vertrag bestand aus zwei Teilen, dem wirtschaftlichen und dem politisch-militärischen. Nachdem Janukowitsch den wirtschaftlichen Teil wegen des zu geringen Handelsvolumens und der Forderung nach flächendeckendem genmanipuliertem Saatgut nicht unterschrieb, sollte er zuerst nur den zweiten Teil (enge Kooperation in der Außen- und Bündnispolitik) unterschreiben. Mit dem Assoziierungsabkommen versucht die EU, Nachbarstaaten enger an sich zu binden, ohne ihnen eine EU-Mitgliedschaft zu eröffnen. (20) Sein vom Westen protegierter Nachfolger, der Oligarch Poroschenko, unterschrieb dann noch im März 2014 den politischen und am 27. Juni 2014 den wirtschaftlichen Teil.

Am 21. Februar 2014 unterzeichneten Präsident Janukowytsch und die Oppositionsführer eine Vereinbarung zur Beilegung der Krise. Steinmeier war es, der den gestürzten Präsidenten Janukowytsch zur "friedlichen Übergabe der Macht überredete".

Anschließend fürchtete Janukowytsch um sein Leben und floh nach Russland. Zwei Tage später, am 23. Februar, wurde das Gesetz, das der russischen Sprache in der Ukraine den Status einer “Regionalsprache” zusicherte, durch das ukrainische Parlament aufgehoben. (21)

Seitdem herrscht in der Ostukraine ein Krieg, der das politische Verhältnis der Europäer zu Russland veränderte und die seit 1991 vorherrschende Politik der Annäherung zwischen Ost und West beendete. Der andauernde Konflikt machte die Ukraine – das zweitgrößte Land Europas – nach Moldawien auch zum zweitärmsten Land des Kontinents.

Das Referendum auf der Krim bezeichnete Steinmeier im März 2014 bei seinen wiederholten Besuchen in Kiew erneut als Bruch des Völkerrechts. (22) Dabei hatten die Krimbewohner nur von ihrem völkerrechtskonformen Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht. Das Selbstbestimmungsrecht besagt, dass ein Volk oder eine Nation das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dieses Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es einem Volk oder einer Nation auch, sich in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuschließen. (23) Das wird aber den über 2 Millionen Bewohnern der Krim vom Westen nicht zugestanden. (24)

Eine positiv-rechtliche Verankerung hat das Selbstbestimmungsprinzip in der UN- Charta gefunden: In Art. 1 Ziff. 2 wird unter den Zielen der Organisation die »Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker« als Grundlage der Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen genannt. Darüber hin- aus ist das Selbstbestimmungsrecht als ein menschenrechtliches Gruppenrecht in den im Jahr 1976 in Kraft getretenen Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen von 1966 (jeweils in Art. 1) kodifiziert worden. (25)

In seiner auf den Krieg einstimmenden Rede am 28. 10.2022 wühlte Steinmeier geschickt die Gefühle auf: „Das Sirenengeheul und der dunkle Rauch über Kiew, die schrecklichen Bilder dieses Morgens, sie gingen mir unter die Haut. Sie markierten das endgültige, bittere Scheitern jahrelanger politischer Bemühungen, auch meiner Bemühungen, genau diesen schrecklichen Moment zu verhindern.“ (26)

Steinmeier gingen die schrecklichen Bilder unter die Haut!? Acht Jahre lang waren die Bewohner von Luhansk und Donezk ständigen Angriffen der ukrainischen Regierungstruppen, der Blackwater-Söldner und des rechtsradikalen Asow-Bataillons ausgesetzt! (27)

Der Werte-Westen hat nichts unternommen, um die Lage der leidenden Menschen in den beiden separatistischen Republiken Luhansk und Donezk zu mildern. Annähernd 14.000 Tote gab es durch den ukrainischen Artilleriebeschuss. Die westliche Wertegemeinschaft nahm davon keine Notiz – wie bei vielen anderen Kriegsschauplätzen von USA und NATO.

Vor diesem Hintergrund sprach Steinmeier von jahrelangen Bemühungen, diesen schrecklichen Moment zu verhindern. Wie sahen seine konkreten Bemühungen aus?

Unter Bundeskanzlerin Merkel wurde 2015 ein Friedensabkommen namens Minsk II von Vertretern der zwei abtrünnigen Republiken DPR und LPR, der OSZE, der Ukraine und Russland unterzeichnet. Die Ukraine hat dieses Abkommen zwar unterzeichnet, sich dann aber geweigert, es umzusetzen. Im Januar 2022 warnte der ukrainische Sicherheitschef Oleksiy Danilov den Westen davor, die Ukraine zur Erfüllung eines von Frankreich und Deutschland vermittelten Friedensabkommens für die Ostukraine zu zwingen.

Danilov befürchtete, dass ein Versuch, das Abkommen umzusetzen, interne Unruhen auslösen könnte, von denen Moskau profitieren würde. (28)

Noch am 10.02.2022 bezeichnete der französische Präsident Macron das Minsker Abkommen als den vielversprechendsten Weg zur Abwendung des Konflikts. Er sagte, dass „die gemeinsame Entschlossenheit [zur Umsetzung des Minsker Abkommens] der einzige Weg ist, der es uns erlaubt, Frieden zu schaffen und eine tragfähige politische Lösung zu finden“. (29)

Damit lag Macron auf der Linie der "Gemeinsamen Erklärung der USA und Deutschlands zur Unterstützung der Ukraine, der europäischen Energiesicherheit und unserer Klimaziele", die am 21. Juli 2021 von US-Präsident Biden und der deutschen Kanzlerin Merkel unterzeichnet worden war. Darin sichern die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung für die Bemühungen Deutschlands und Frankreichs zu, Frieden in der Ostukraine im Rahmen des Normandie-Formats zu erreichen: „Deutschland wird seine Anstrengungen innerhalb des Normandie-Formats intensivieren, um die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu ermöglichen“. (30) Doch weder die Regierung Merkel und die Regierung Scholz hat sich an die Aufforderung gehalten – sollte sie vielleicht nur von den laufenden Kriegsvorbereitungen der USA und NATO an der "Ostflanke" ablenken? Warum soll die deutsche Bevölkerung leiden, wenn ihre politische Elite unfähig oder unwillig ist, sich für die Umsetzung eines von ihr selbst initiierten Friedensabkommens zu sorgen?

Drei Monate nach der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung mit der Aufforderung, Minsk II umzusetzen, am Freitag, dem 22. Oktober 2021, titelte die Süddeutsche Zeitung: „NATO rüstet sich für Konflikt mit Moskau“. Friedensaktivitäten seitens der deutschen Regierung bzw. des deutschen Präsidenten - Fehlanzeige!

Nach dem fluchtartigen Abzug der US-Truppen und ihrer Hilfswilligen aus Afghanistan sagte Bundespräsident Steinmeier am 24. August 2021: „Wir erleben in diesen Tagen eine menschliche Tragödie, für die wir Mitverantwortung tragen, und eine politische Zäsur, die uns erschüttert und die Welt verändern wird“ (31).

Zur Erinnerung: nur 27 Tage nach dem Terroranschlag auf das World-Trade-Center am 11. September 2001 hatten die USA Afghanistan überfallen, obwohl nachweislich kein einziger Afghane an diesem Anschlag beteiligt war (vorgegebener Kriegsgrund: die Taliban hätten nicht schnell genug Osama bin Laden ausgeliefert, der dort um Asyl nachgesucht hatte).

Steinmeiers Analyse war durchaus zutreffend. Nicht zutreffend war jedoch seine Aussage, dass „wir Mitverantwortung tragen“. Wer ist wir? Sollte Steinmeier in der "Dritten Person" gesprochen haben, dann mag es sogar stimmen. Der politische Technokrat Steinmeier hat während des gesamten Afghanistaneinsatzes an exponierter Stelle alle Maßnahmen mitgetragen, wenn nicht sogar ermöglicht. Nun hilft Steinmeier seinen transatlantischen Freunden, das US-Langzeitstrategiepapier TRADOC 525-3-1 "Win in a Complex World 2020-2040" vom September 2014 umzusetzen. Darin werden die US-Streitkräfte angewiesen, die von Russland und China ausgehende Bedrohung in diesen Dekaden abzubauen. Es folgen der Iran und Nordkorea. (32) Die US-Verteidigungsstrategie vom Oktober 2022 wurde um den Abschnitt "Überprüfung der Nuklearposition und der Raketenabwehr" erweitert.



Ansonsten hat sich zu TRADOC 525-3-1 nicht viel geändert. Es geht um die Abschreckung von Angriffen der Public Republic China (PRC), Russlands, Nordkoreas und Irans. Das grundlegende Ziel dabei: die unipolare Weltmacht. Es geht um verbesserte künftige Kriegsführungsfähigkeiten, während vor allem die NATO-Staaten ihre konventionellen Fähigkeiten zur Kriegsführung stärken sollen. (33)

Bei diesem Krieg wird es keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben. Hauptverlierer wird Europa sein. Steinmeiers Aussage, die Ukraine bekommt so lange Hilfe, wie es notwendig ist, bedeutet im Glücksfall nur den finanziellen und wirtschaftlichen Ruin, im schlimmeren Fall Leid und Zerstörung von unvorstellbarem Ausmaß. Deutschland ist auf dem Weg, Harakiri zu begehen. Und das alles für die geopolitischen Interessen einer kleinen US-Elite.

Wie können die Medien Steinmeiers von Hybris und wertewestlicher Trunkenheit geprägte Rede als "Epochenwandel" feiern? Dagegen suchte man in den Medien nach der gleichzeitig gehaltenen Rede des russischen Präsidenten Putin vor dem Valdai-Klub vergebens. Der mediale Austausch zwischen Kriegsparteien ist die Voraussetzung, um überhaupt erst einmal in Friedensgespräche zu kommen. Das scheint aber gar nicht beabsichtigt zu sein.

Da mag ein Blick in die Zeit vor dem geopolitischen Einfluss der US-Neokonservativen ("Project for the New American Century" (PNAC)) hilfreich sein. Hauptthese: „US-amerikanische Führerschaft ist sowohl gut für die Vereinigten Staaten von Amerika als auch für die ganze Welt“ (34). Nach Einschätzung des U.S. Peace Council wollen die USA „die Osterweiterung der NATO unter ihrer Vorherrschaft fortsetzen, Russland als Konkurrenten auf dem europäischen Energiemarkt zurückdrängen, ihren überhöhten Militärhaushalt damit rechtfertigen und den Verkauf von US-Kriegsmaterial an ihre europäischen NATO-Vasallen sicherstellen. Ein Europa, das auch weiterhin in die EU-Staaten, Großbritannien und Russland aufgespalten ist, nützt nur den imperialen USA.“ (35)

Vor der immer dröhnenderen Kriegsrhetorik sollte man innehalten und die Erfahrung von Willy Wimmer – ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium und von 1994-2000 Vizepräsident der OSZE- Vollversammlung – zur Kenntnis nehmen: Im Frühjahr 1988 flog die Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter dem Vorsitz von Willy Wimmer zu einem Arbeitsbesuch nach Washington. Dort traf sich jährlich diese Gruppe mit Vertretern des Kongresses und der amerikanischen Regierung, um über außen- und sicherheitspolitische Fragen zu konferieren. Doch 1988 ging die Fahrt direkt ins Hauptquartier der CIA nach Langley. „Erstaunt hörten wir dort den Ausführungen zu“, so Willy Wimmer, „die eine völlig neue amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion zum Thema hatten: Wir sollten uns lösen ... von dem, was wir seit Jahrzehnten über militärische Potenziale und Strategien in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West in Europa gehört hatten. Die Ergebnisse einer Studie zu diesem Themenfeld sei eindeutig: die Sowjetunion verfolge rein defensive Absichten. Es gehe ihr einzig und allein um Verteidigung zum Schutz von "Mütterchen Russland"“ (36)

Konnte sich nach dem 2. Weltkrieg eine bipolare Welt (USA vs. UdSSR) bilden, versuchen finanzstarke Kräfte in den USA seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Welt als "Hegemon" zu beherrschen (unipolar). Das trifft in China, Russland und Indien auf wenig Gegenliebe. Diese Länder sowie der globale Süden streben eine multipolare Welt- und Friedensordnung an. Es wäre einen Versuch wert. Alle Länder und Regionen, die seit 500 Jahren unter dem europäischen und später dem amerikanischen Kolonialismus gelitten haben, sehnen sich nach einer Ordnung, in der alle gleichberechtigt an der Weltpolitik und deren Geschehnissen teilnehmen können.


Anmerkungen:

1) https://web.de/magazine/politik/ukraine-krise/steinmeier-appelliert-putin-loesen-schlinge-hals-ukraine-36601742
2) https://www.bild.de/politik/kolumnen/kolumne/kommentar-zur-steinmeier-rede-jetzt-muessen-taten-folgen-79139890.bild.html
3) https://www1.wdr.de/nachrichten/steinmeier-ausladung-ukraine-gruende-100.html
4) Von fünf Milliarden Dollar an die Ukraine sprach die amerikanische Staatssekretärin für Außenpolitik, Victoria Nuland, in einem Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew am 28. Januar 2014. https://www.zeit.de/2015/20/ukraine-usa-maidan-finanzierung/seite-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com
5) https://taz.de/Kommentar-Konflikt-auf-der-Krim/!5047222/
6) https://www.berliner-zeitung.de/news/ukraine-krieg-bundespraesident-frank-walter-steinmeier-sichert-wolodymyr-selenskyj-zeitnahe-lieferung-weiterer-waffen-zu-li.276875
7) https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_59.html
8) https://www.fr.de/politik/ukraine-konferenz-berlin-scholz-selenskyj-monatlich-vier-bis-fuenf-milliarden-dollar-benoetigt-news-zr-91872826.html
9) Siehe Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO , Höhr-Grenzhausen 2020
10) https://germany.representation.ec.europa.eu/news/von-der-leyen-bei-ukraine-konferenz-freie-nationen-dieser-welt-stehen-zusammen-2022-10-25_de
11) https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
12) Osnabrücker Zeitung 29. Oktober 2022 55. Jg. Nr. 253 S. 1
13) https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
14) https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/wir-als-deutsche-und-widerstandskraeftige-buerger
15) Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Pra?ventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergra?bt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, in: Ambos, Kai/Arnold, Jo?rg (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Vo?lkerrecht, Berlin 2004, S. 28
16) Spiegel, „BND soll USA im Irak-Krieg unterstützt haben“, am 12.01.2006, <https:// www.spiegel.de/politik/deutschland/bomben-auf- bagdad-bnd-soll-usa-im-irak-krieg-unterstuetzt- haben-a-394787.html
17) https://www.wsws.org/de/articles/2022/02/23/pers-f23.html
18) https://www.tagesspiegel.de/politik/urteil-zu-tanklasterangriff-keine-entschaedigung-fuer-luftangriff-in-kundus/26919074.html
19) Guido Grandt, „VERSCHWIEGEN: Wie Steinmeier sich 2014 mit ukrainischen Faschisten traf!“, am 14.02.2022, https://www. guidograndt.de/2022/02/14/verschwiegen-wie- steinmeier-sich-2014-mit-ukrainischen-faschisten- traf/
20) https://www.lpb-bw.de/ukraine-eu-nato
21) https://uacrisis.org/de/65033-sprachengesetz-der-ukraine
22) https://www.dw.com/de/steinmeier-stärkt-kiew-den-rücken/a-17514449
23) Joachim Bentzien, „Die völkerrechtlichen Schranken der nationalen Souveränität im 21. Jahrhundert“, Peter Lang, Frankfurt am Main 2007, S. 45 <https://www.schulthess.com/buchshop/detail/ ISBN-9783631567814/Bentzien-Joachim/Die- voelkerrechtlichen-Schranken-der-nationalen- Souveraenitaet-im-21.-Jahrhundert>
24) Bundeszentrale für politische Bildung, „Bevöl- kerungsstand und Entwicklung“, am 18.10.2018, <https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und- fakten/europa/70497/bevoelkerungsstand-und- entwicklung/#:~:text=In%20den%2028%20 Mitgliedstaaten%20der%20Europäischen%20 Union%20%28EU%29,diese%20fünf%20 Staaten%20nach%20Angaben%20von%20 Eurostat%20>
25) https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_1977/Heft_1_1977/02_Beitrag_Delbrueck_VN_1-77.pdf, S. 6-8
26) https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
27) https://www.voltairenet.org/article215490.html
28) https://apnews.com/article/russia-ukraine-russia-france-germany-europe-d9ahttps://edition.cnn.com/2022/02/09/europe/minsk-agreement-ukraine-russia-explainer-intl/index.html2ed365b58d35274bf0c3c18427e81
29) https://edition.cnn.com/2022/02/09/europe/minsk-agreement-ukraine-russia-explainer-intl/index.html
30) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gemeinsame-erklaerung-usa-und-deutschland/2472074
31) https://www.idowa.de/inhalt.afghanistan-steinmeier-sind-fuer-tragoedie-mitverantwortlich.a04f84c4-5720-4167-b4a9-c3eb4b2e6690.html
32) https://usacac.army.mil/sites/default/files/documents/cact/GEN%20PERKINS%20HOW%20TO%20WIN%20IN%20COMPLEX%20WORLD.pdfbzw.
https://ntrl.ntis.gov/NTRL/dashboard/searchResults/titleDetail/ADA611359.xhtml
33) https://media.defense.gov/2022/Oct/27/2003103845/-1/-1/1/2022-NATIONAL-DEFENSE-STRATEGY-NPR-MDR.PDF
34) https://dewiki.de/Lexikon/Project_for_the_New_American_Century
35) https://uspeacecouncil.org/u-s-peace-council-statement-on-russias-military-intervention-in-ukraine/
36) Willy Wimmer: die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016, S. 11/12


Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022).

Online-Flyer Nr. 801  vom 18.11.2022

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