NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 21. Dezember 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Fragen an den ehemaligen Berater des Ministers für Versöhnung in Syrien
Wie kann Syrien überleben?
Elia Samman im Gespräch mit Mitgliedern des Bündnisses gegen Krieg - transkribiert und übersetzt von Markus Heizmann

Am 20. Juli 2023 trafen sich Mitglieder der "Bündnisses gegen Krieg" anlässlich einer Online-Konferenz mit Elia Samman. Elia Samman war bis zur Auflösung dieses Ministeriums Berater des Ministers für Versöhnung in Syrien. (Minister war Ali Haydar). Elia Samman bekleidet heute kein politisches Amt mehr. Nach wir vor ist er jedoch ein politisch interessierter Mensch und ein profunder Kenner der Verhältnisse in Syrien und in der Region. Die TeilnehmerInnen der Runde hatten Gelegenheit, Elia Samman zu befragen. Diese Fragen und die Antworten darauf werden im folgenden protokolliert. Eingangs bedankt sich Elia Samman für die Einladung in unseren Kreis. Er betont nochmals, dass er sich für unsere Fragen als Privatperson zur Verfügung stellt, weder arbeitet er für die Regierung, noch hat er ein politisches Amt inne. Die Fragen stellen Mitglieder des Bündnisses gegen Krieg, die an der Sitzung teilnahmen.


Frage: Die erste Frage, die gestellt wird, betrifft die Besatzung Syriens nordöstlich von Aleppo. Warum ist es der syrischen Armee, eventuell auch mit Hilfe Russlands, nicht gelungen, das gesamte Territorium, inklusive der Öl- und Getreidefelder zurück zu erobern?

Elia Samman: Die syrische Regierung hat die volle Kontrolle und die volle Souveränität über das Land. Mit Ausnahme der fraglichen besetzten Gebiete im Nordosten des Landes. Festgesetzt haben sich vor allem die US-Armee, die türkische Armee, kurdische Bewaffnete und Restbestände des IS. Die kurdischen Bewaffneten arbeiten vor allem mit den US Truppen zusammen. Die IS Leute bekommen zum Teil Unterstützung von der türkischen Armee. Warum gelingt es Russland nicht diese Besatzung zu stoppen? Russland ist nicht nach Syrien gekommen, um Syrien oder dem syrischen Volk zu helfen. Die russische Führung handelt politisch und demzufolge auch aus eigenem Interesse. Erst an zweiter Stelle kommen dann die Interessen Syriens. Russland hat sehr viel für Syrien getan, das wollen wir nicht unterschätzen. Aber es geschah sowohl im Interesse Russlands, als auch im Interesse Syriens. Natürlich will Russland nicht in einen Krieg mit den USA oder mit der Türkei hinein gezogen werden. Als der Angriffskrieg gegen Syrien auf seinem Höhepunkt war, da haben Söldner aus 85 Ländern in Syrien gegen die syrische Armee und gegen das syrische Volk gekämpft. Natürlich war damals für uns die Hilfe Russlands gegen diese Terroristen sehr wertvoll. Russland bekämpfte die Banden vornehmlich aus der Luft. Es gab auch eine Teilnahme von russischen Bodentruppen an den Kämpfen, aber das war – ausser für Spezialeinsätze – eher marginal. Wenn also heute die Besatzung im Nordosten des Landes nicht vehementer bekämpft wird, dann hängt das damit zusammen, dass sowohl die syrische als auch die russische Armee die direkte Konfrontation mit den USA und der Türkei vermeiden wollen.

Frage: Aber wie kann Syrien überhaupt überleben ohne Zugriff auf die Ressourcen, die ja jetzt geraubt werden, vor allem natürlich das Öl?

Die Ölfelder sind nur ein Teil, es geht nicht nur um die Ölfelder, sondern vor allem um die Landwirtschaftsflächen. Diese werden im Nordwesten von der Türkei und im Nordosten von den USA besetzt. Die Erträge werden entweder zerstört oder geraubt. Wir reden von Getreide, Baumwolle, Pistazien, Olivenöl usw. Hier müssen wir auf die Sanktionen zu sprechen kommen. Diese Sanktionen, die Blockade, das ist natürlich illegal, und es gibt keinen Bereich innerhalb der syrischen Gesellschaft, der nicht davon betroffen ist. Nach dem Erdbeben wurde gesagt, Lebensmittel und medizinische Güter würden von der Blockade ausgenommen. Das tönt gut, aber es nützt überhaupt nichts. Der gesamte Finanzsektor ist noch immer unter Blockade. Das heißt also, dass weder Lebensmittel noch medizinische Güter ins Land kommen, weil sie der syrische Staat nicht bezahlen kann, denn jeglicher Finanztransfer bleibt blockiert.

Frage: Auf Initiative Algeriens, später auch auf Initiative Saudi-Arabiens ist nun Syrien wieder als Vollmitglied in der arabischen Liga. Wie siehst Du diesbezüglich die Perspektiven?

Solange die USA und die EU es schaffen, alles insbesondere den erwähnten Finanztransfer zu blockieren, hilft das kaum. Selbst wenn Staaten gewillt sind in Syrien, zum Beispiel beim Wiederaufbau zu investieren, wird sich keine private Firma finden, die dies tut. Zum einen weil wie gesagt, der Transfer des Geldes nicht gewährleistet ist, zum anderen aber auch, weil sie fürchten müssen, von den Institutionen der USA und der EU abgestraft zu werden, indem sie zu Beispiel keine Aufträge mehr bekommen oder ähnliches.

Frage: Wie steht es mit Russland und China? Helfen sie bei der Versorgung des syrischen Volkes?

Russland und China helfen Syrien politisch, zum Teil auch militärisch, nicht aber ökonomisch. Früher kamen Öl und Getreidelieferungen aus dem Iran. Nun aber wurde auch die Blockade gegen den Iran zum Teil massiv verschärft. Auch Iran unterstützt Syrien also nicht mehr in dem Mass wie wir das kannten.

Frage: All das verschärft natürlich das Problem der Flüchtlinge. Was kannst Du uns dazu sagen?

Die EU und natürlich auch die USA weigern sich im Land selbst, in Syrien Flüchtlinge zu unterstützen. Das so genannte Flüchtlingsproblem könnte relativ einfach gelöst werden. Die internationale Gemeinschaft müsste nicht die Flüchtlingslager in der Türkei, in Jordanien oder im Libanon unterstützen, sondern eben in Syrien. Würde das geschehen, würden die Menschen auch nach Syrien zurückkehren. Ein Beleg dafür ist, dass die Menschen aus dem Libanon nach wir vor nach Syrien fahren um einzukaufen, einfach weil die Preise dort, trotz allem tiefer sind als im Libanon.

Zusatzfrage: Kommen denn wirklich Flüchtlinge zurück? Es wird geschätzt, dass es ca. 4 bis 5 Millionen syrische Flüchtlinge gibt. Kann Syrien die überhaupt aufnehmen?


Oh ja, sie kehren zurück. Der syrische Staat ist sogar sehr daran interessiert, dass sie zurück kehren. Viele von ihnen sind relativ junge Menschen, die für den Wiederaufbau gebraucht werden. Natürlich werden Abklärungen gemacht, ob sie an terroristischen Aktionen beteiligt waren. Aber es gab und gibt unglaublich viele Amnestien. Ich weiss das aus meiner Zeit als ich noch Berater des Versöhnungsminsteriums war.

Frage: Ein in Europa lebender Syrer berichtet, dass auch Russland am Raub von Energie, also Öl und Gas in Syrien beteiligt seien. Stimmt das?


Nein! Das stimmt nicht. Sowieso können wir die Ölfelder in Syrien vernachlässigen. Das reicht für die Eigenversorgung der syrischen Bevölkerung aus, aber kaum für den Export. Gasfelder, die ausgebeutet werden, gibt es in der Gegend um Tadmor (Palmyra). Dort sind keine russischen Truppen stationiert. Das Russland unser Öl und unser Gas stiehlt, stimmt also nicht.

Frage: Wie sieht es mit dem Wiederaufbau aus? Einerseits dem Wiederaufbau nach dem Krieg, aber auch dem Wiederaufbau nach dem Erdbeben. Haben nicht die Golfstaaten Hilfe zugesagt?

Bisher hat noch kein Land wesentlich zum Wiederaufbau beigetragen. Was gekommen ist, das ist humanitäre Nothilfe, diese kam insbesondere aus de Irak. Aus den Öloligarchien kamen ein paar Flugzeuge, ebenfalls mit humanitärer Hilfe, aber nichts Substanzielles. Ich persönlich habe einen Verdacht: Ich meine, dass sie ihre Unterstützung an Bedingungen knüpfen und eine wichtige Bedingung ist wahrscheinlich, dass sie von der syrischen Regierung die „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel fordern. Solange jedoch die Golan Höhen besetzt bleiben und solange die palästinensische Frage nicht geregelt ist, kann dies für keine syrische Regierung eine Option sein.

Bemerkung eines Teilnehmers: Das ist verständlich. Das syrische Volk und jede syrische Regierung war bisher immer standhaft gegenüber dem zionistischen Feind. Ein fauler Kompromiss würde niemals akzeptiert.

Frage: Kannst Du etwas zur Rolle der kurdischen Organisationen in Syrien sagen? Wird es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen diesen Organisationen und der syrischen Armee kommen?

Da müsst ihr mir gestatten, dass ich etwas aushole: Es gibt viele falsche Informationen zur Situation und zur Rolle der kurdischen Bevölkerung in Syrien. Vieles beruht auf einem Mythos. Es gibt zum Beispiel nirgendwo in Syrien – auch nicht in den so genannt „kurdischen Gebieten“ – eine kurdische Mehrheit. Das ist jedoch nicht der Punkt. Jeder Mensch der in Syrien lebt und über die syrische Staatsangehörigkeit verfügt hat dieselben Recht und Pflichten. Dies gilt auch für die Kurden. In der Grenzregion zur Türkei kam es immer wieder vor, dass kurdische Flüchtlinge nach Syrien kamen, auf der Flucht vor dem türkischen Militär, auf der Flucht vor der türkischen Regierung. Unter anderem sehen auch sie nun ihre Chance unter dem Schutz der USA in Syrien einen Staat, eine Autonomie oder wie immer sie es nennen, aufzubauen. Dies geht jedoch nur unter dem Schutz der USA. Unter der Regierung Trump gab es eine kurze Phase während der die USA laut darüber nachdachten, den bewaffneten Kurden die Unterstützung zu entziehen. Prompt reiste eine Delegation der Kurden nach Damaskus um mit der Regierung zu verhandeln. Als die USA ihre Unterstützung weiter laufen ließen, war von Verhandlungen keine Rede mehr. Meiner Ansicht nach wird sich das Problem dann lösen, wenn die USA tatsächlich damit aufhören den bewaffneten Kampf der Kurden zu unterstützen. Dann werden sie das Gespräch mit der Regierung in Damaskus suchen und so wie wir das aus der Vergangenheit, auch mit anderen Gruppen kennen, kann es mit Gesprächen und Verhandlungen auch zu einer Versöhnung kommen.

Frage: Eine Frage zur Wagner Gruppe, die ja zurzeit sehr im Gespräch ist: Laut Prigoschin soll es 2018 einen Zwischenfall gegeben haben. Gemäß Prigoschin hatte die Wagner Gruppe den Auftrag, die Ölfelder von Deir Ezor und die Gasfelder von Tadmor (Palmyra) zu sichern. Prigoschin soll nun gesagt haben, die russische Luftwaffe hätte dies unterstützen sollen und habe das nicht getan. Dadurch seien 318 Wagner Söldner ums Leben gekommen. Kannst Du das bestätigen?

Offensichtlich gibt es viele Falschinformationen, woher die kommen, kann ich nicht sagen. Tatsachen sind: Die syrische Armee war 2018 nicht mehr in Deir Ezor. Die ganze Geschichte mit den angeblich 318 Opfern der Wagner Gruppe ergibt absolut keinen Sinn. Dies auch deswegen, weil jetzt darüber gesprochen wird, nicht aber 2018, als es angeblich geschehen ist. Außerdem beträgt die Distanz zu der nächsten russischen Basis zu Deir Ezor rund 500 km, zu Tadmor (Palmyra) ist es noch mehr. Ich bin keine militärische Fachperson, aber das bedeutet, dass eine Unterstützung aus der Luft nicht unmöglich aber doch sehr schwierig ist. Wir wissen, dass es zu dieser Zeit Absprachen zwischen den USA und Russland gab, wer wann und wo fliegt, damit es nicht zu direkten Zwischenfällen kommt. Das die Wagner Söldner von der russischen Führung verraten wurden, kann ich natürlich nicht ausschließen, aber die 318 Opfer halte ich für eher unwahrscheinlich.

Frage: Wir alle wissen, dass es fast täglich zu Angriffen seitens Israel gegen Syrien kommt, oft von den besetzten Golan Höhen aus. Die USA sind von zionistischen PolitikerInnen dominiert. Der Plan eines „Großisrael“ steht nach wie vor auf der zionistischen Agenda, ebenso wie die Zerschlagung Syriens. Was kannst Du uns dazu sagen?

Die Zionisten, nicht nur die Zionisten in Israel akzeptieren Syrien nicht. Meiner Meinung nach wurde die Krise in Syrien von Beginn an von zionistischen Kreisen geplant, vorbereitet und umgesetzt. All dies im Fahrwasser des so genannte «arabischen Frühlings». Mich persönlich erstaunt es nicht, dass der zionistische Staat Land raubt, Menschen vertreibt, ermordet und seine Nachbarn angreift. Das ist Teil des zionistischen Konzepts. Was mich jedoch erstaunt, ist das Schweigen darüber, insbesondere das Schweigen innerhalb der EU. Die Medien berichten nicht oder dann völlig einseitig darüber. Das solches in den USA geschieht ist nicht weiter  erstaunlich, aber es überrascht mich doch, dass es in der EU auch so ist.

Frage: Zu den Sanktionen gegen den Iran: Der Iran stand ja schon vorher unter Blockade. Was ist der Unterschied zu heute?


Die Sanktionen gegen Iran wurden massiv verstärkt. Die Situation im Land ist demzufolge sehr schlecht. Das kann sich natürlich wieder ändern, aber im Moment ist es so.

Frage: Im Moment explodiert die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten. Gibt es Auswirkungen davon auf Syrien und wenn ja, welche?

Palästina, der palästinensische Widerstand wurde seit jeher von jeder syrischen Regierung und insbesondere vom syrischen Volk unterstützt. Durch die andauernden Angriffe Israels gegen Syrien, die ihr ja erwähnt habt, soll einerseits Syrien für seine Solidarität mit der palästinensischen Sache bestraft werden. Anderseits will der Zionistenstaat damit aber auch von den wachsenden inneren Konflikten und Widersprüchen ablenken. Die Zionisten, nicht nur die Zionisten im besetzten Palästina, in Israel, versuchen alles zu beeinflussen.

Frage: Wie beurteilst Du die Aussöhnung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien?

Zurzeit hat das für Syrien noch keine Auswirkungen. Die USA werden eine vollständige Aussöhnung, das heißt auch eine Loslösung Saudi-Arabiens vom US amerikanischen Einfluss nicht dulden. Es ist zu hoffen, dass dies von der saudischen Führung verstanden wird. Vor allem auch, weil eine Orientierung nach Russland oder nach China für die Saudis in ihrem eigenen Interesse liegt.


Damit endet das Gespräch mit Elia Samman. Die TeilnehmerInnen der Runde bedanken sich bei ihm, dass der sich die Zeit genommen hat, mit uns zu diskutieren und unsere Fragen zu beantworten. Das Gespräch wurde in englischer und in arabischer Sprache geführt und ins deutsche übersetzt. Ein ausführliches Interview mit Elia Samman findet sich in der Publikation «Syrien – ein Land im Widerstand – Mehr als ein Reisebericht» von Eva und Markus Heizmann, TuP Verlag, Hamburg. Der Filmemacher Jan Poldervaart drehte im Jahr 2018 in Syrien einen Kurzfilm in dem auch Elia Samman zu Wort kommt: https://vimeo.com/263652499

Online-Flyer Nr. 816  vom 09.08.2023

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FILMCLIP



Video von Georg Maria Vormschlag
FOTOGALERIE