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Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland", Aachen, 9. Mai 2024
In einer Zeit, in der der Dritte Weltkrieg droht
Von Arbeiterfotografie
"Liebe Freundinnen und Freunde des Friedens, in einer Zeit, in der Kriegs-Minister Pistorius redet von 'Kriegstüchtigkeit, Führungsfähigkeit, Wehrpflichtfähigkeit, für den Kriegsfall optimal aufgestellt, groß angelegter Einsatz gegen eine Großmacht mit hoch intensivem Gefecht, Aufwuchsfähigkeit, Innovationsüberlegenheit, Kriegsversorgung' und Putin mit Hitler vergleicht; dieser Minister laut Umfragen der 'beliebteste' sei; die russische Botschaft in Berlin eine Note der Bundesregierung erhält, laut der die Teilnahme russischer Vertreter an Gedenkveranstaltungen zum 79. Jahrestag der Befreiung der KZ-Häftlinge unerwünscht ist; die Landesanwaltschaft des Freistaats Bayern am 'Tag der Pressefreiheit' einem Professor der Universität München mitteilt, ihm würden seine Dienstbezüge um ein Zehntel gekürzt, weil er mehrfach eine Kolumne in der Zeitung 'Demokratischer Widerstand' veröffentlicht habe; Deutsche Politiker 'den Ukraine-Krieg nach Russland tragen' wollen; nicht nur der französische Präsident Macron fordert, Truppen aus EU-Ländern in die Ukraine zu schicken; der britische Außenminister Cameron sagt, die Ukraine habe das Recht, Ziele in Russland mit britischen Waffen anzugreifen; der Generalbundesanwalt die geplante Zerstörung der russischen Krimbrücke durch deutsche Taurus-Marschflugkörper vom Artikel 51 der UN-Charta gedeckt sieht; in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gefordert wird, 'russisches Vermögen, soweit es in Europa eingelagert ist, für Waffenlieferungen an die Ukraine zu verwenden'; 90.000 NATO-Soldaten mit dem Manöver 'Steadfast Defender', davon 12.000 Bundeswehrsoldaten mit dem Manöver 'Quadriga 2024' den Krieg gegen Russland proben; in der der Dritte Weltkrieg droht, wollen wir an dem Tag, an dem Russland dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gedenkt, also heute, 'dem Wahnsinn etwas entgegensetzen' und für 'Gute Nachbarschaft mit Russland' eintreten! Wir haben auch allen Grund dazu!" Mit diesen Worten leitet Dr. Ansgar Klein die Kundgebung der Aachener Bürgerinitiative "Gute Nachbarschaft mit Russland" am 9. Mai 2024 ein. ArbeiterfotografInnen haben sie für die NRhZ dokumentiert.
1 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
2 NATO raus – Raus aus der NATO
3 NATO raus – Raus aus der NATO – Diplomatie statt Waffen und Sanktionen
4 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
5 Vortrag aus einem Interview der NachDenkSetien mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew
6 Freiheit für Julian Assange
7 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
8 Gute Nachbarschaft mit Russland
9 NATO raus – Raus aus der NATO
10 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
11 Druschba – Freundschaft
12 Dr. Ansgar Klein, Michael Aggelidis, Prof. Ulrike Guerot und Wolfgang Effenberger
13 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
14 Michael Aggelidis, Prof. Ulrike Guerot und Wolfgang Effenberger
15 Diplomatie statt Waffen und Sanktionen – Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es so weitergeht!
16 Wolfgang Effenberger und Prof. Ulrike Guerot
17 Die Russen kommen: wir brauchen Euch
18 Vortrag aus einem Interview der NachDenkSetien mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew
19 NATO raus – Raus aus der NATO
20 Freiheit für Julian Assange
21 NATO raus – Raus aus der NATO
Fortsetzung der einleitenden Rede von Dr. Ansgar Klein:
Vor zwei Tagen hat der alte und neue Präsident der russischen Föderation Wladimir Putin u.a. folgendes gesagt: „Wir lehnen den Dialog mit den westlichen Ländern nicht ab. Sie haben die Wahl: Wollen sie weiterhin versuchen, die Entwicklung Russlands zu bremsen, die jahrelange Politik der Aggression und des Drucks auf unser Land fortsetzen, oder einen Weg der Zusammenarbeit und des Friedens suchen?“
Zu unserem „Weg der Zusammenarbeit und des Friedens“ haben wir prominente Redner eingeladen, die wir hier und jetzt herzlich begrüßen: Prof. Ulrike Guérot, eine glühende Europäerin, was sie u.a. mit dem 2014 von ihr gegründeten „European Democracy Lab“ und ihrem 2016 erschienen Buch „Warum Europa eine Republik werden muss – Eine politische Utopie“ bewiesen hat. Weil sie nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch zur derzeitigen politischen Lage immer klare, kritische Worte geäußert hat, ist sie bei den „Herrschenden“ in Ungnade gefallen. Chapeau! dass Sie nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, den Mut haben, hier zum Thema „Gute Nachbarschaft mit Russland“ öffentlich aufzutreten! Herzlich willkommen, Ulrike Guérot!
Michael Aggelidis! Er ist stellvertretender Landesvorsitzender der Partei dieBasis in NRW. Er hat nicht nur beim diesjährigen Ostermarsch in Düsseldorf eine viel beachtete Rede gehalten; er ist auch in Aachen aufgetreten, und zwar im Sommer 2020 bei einer unserer Kundgebungen gegen die „Corona-Maßnahmen“ auf dem Willy-Brandt-Platz. Herzlich willkommen, Michael Aggelidis!
Wolfgang Effenberger! Er war Pionierhauptmann der Bundeswehr, hat dort sozusagen am eigenen Leib das NATO-Unwesen erfahren und ist zu einem nimmermüden Publizisten zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik geworden. Hervorheben möchte ich seine letzten Bücher: „Schwarzbuch EU & NATO – Warum die Welt keinen Frieden findet“ und „Die unterschätzte Macht – Von Geo- bis Biopolitik – Plutokraten transformieren die Welt“. Herzlich willkommen: Wolfgang Effenberger!
Wir hätten gerne auch einen Vertreter der russischen Botschaft als Redner gewonnen, was uns leider nicht gelungen ist. Doch gibt es dank der NachDenkSeiten ein bemerkenswertes Interview mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew, aus dem wir gleich einen Ausschnitt vortragen werden. – Die NachDenkSeiten sind übrigens auf einer Internet-Filter-Liste jugendgefährdender Inhalte gelandet.
Rede von Michael Aggelidis:
„Freundinnen und Freunde des Friedens und der Demokratie, ich zitiere aus der Tagesschau aus der Weizsäcker-Rede zum Kriegsende im Wortlaut „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ (Stand: 08.05.2015 14:00 Uhr). Einleitende Worte der Tagesschau: „Richard von Weizsäcker war der erste Bundespräsident, der den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Seine Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag (…) gilt als ein Meilenstein in der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland. tagesschau.de dokumentiert sie im Wortlaut.“ Soweit die Tagesschau. Ob die das heute auch noch so formulieren würde?
Jetzt Weizsäcker: „(…) Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn? Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. (…)“ Soweit der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Heute, am Jahrestag des Sieges über die Hitlerbarbarei überbieten sich die Politiker der regierenden politischen Klasse der Altparteien in antirussischer Rhetorik und Aussagen, die die Schlussfolgerung erlauben, dass hier aktive Kriegsvorbereitung betrieben wird. Wir sagen dazu: Nicht mit uns! Unsere Kinder kriegt Ihr nicht!
Vielmehr ist historische Erinnerung politisch richtig: Die UdSSR hatte 27 Millionen Tote zu beklagen, ob Soldaten der Roten Armee, Partisanen, die im Hinterland der Font gegen die Mordkommandos der Hitler’schen Sondereinheiten kämpften oder die Zivilisten, die in Leningrad unter der Blockade der Wehrmacht verhungerten, um hier nur ein Kriegsverbrechen der Nazis zu nennen. Die Sowjetunion trug die Hauptlast des Krieges und der anschließende Sieg der Alliierten wäre ohne diesen Kampf im Großen Vaterländischen Krieg – wie ihn die Russen nennen – unmöglich gewesen.
Die heute aus zahlreichen Politikeräußerungen der Ampel herauszuhörende – ich formuliere das jetzt sehr höflich – Russophobie ist jedenfalls ein politisch metastasierendes Krebsgeschwür in einer freien und demokratischen Gesellschaft. Wie ist es möglich, so frage ich, dass eine solche Geschichtsvergessenheit und Verantwortungslosigkeit durch unsere politische Klasse, assistiert durch die Staats- und Konzernmedien praktiziert wird?
Denn wenn diese Politiker dazu auffordern, Kommandostäbe und Ministerien in Russland anzugreifen, müsste es eigentlich Ermittlungsverfahren wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges geben, wenn, ja wenn es nicht diese unselige Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft exakt durch diese Politik gibt, die für eben diese anzuklagenden Straftaten die Verantwortung tragen, liebe Freundinnen und Freunde! Klar ist, wir benötigen in Deutschland vielmehr eine unabhängige Staatsanwaltschaft, die wie in Italien kriminellen Politikern das Handwerk legen kann, liebe Freundinnen und Freunde!
Auch die so genannte CDU ‚Opposition‘ kann es kaum noch erwarten, Taurus in die Ukraine zu liefern und damit Russland zu zwingen, Deutschland als Kriegsbeteiligte zu betrachten. Damit schaden diese Leute unserem Land, sie schaden dem Frieden und das wird immer mehr Menschen deutlich – und das ist gut so!
Unlängst haben sich nicht nur Ungarn und Slowenien gegen eine offizielle Beteiligung mittels Truppen in der Ukraine ausgesprochen, sondern auch der italienische Verteidigungsminister. Aber Leute wie der US-Demokraten-Fraktionschef Jeffries wollen eine direkte Beteiligung von US-Truppen zur Rettung des korrupten und kriminellen Kiewer Regimes. Und wisst Ihr, warum der das sagt und er damit viele Gesinnungskumpane in der EU hat, in zahlreichen europäischen Regierungen? Weil er und seine Kinder nie an die Front gehen würden und weil er und Seinesgleichen glauben, sie würden mit heiler Haut davonkommen, weil andere für ihre Profitinteressen sterben sollen. Und das macht uns wütend! Und deshalb sagen wir und ich wiederhole mich gerne: unsere Kinder kriegt Ihr nicht! Wir werden Euch die Waffen aus der Hand schlagen!
By the way: wer will denn nach den verlorenen Kriegen der USA in Vietnam, in Afghanistan, in Syrien und jetzt gegen die Houthis – zum Teil also gegen Barfußkrieger – allen Ernstes von einer echten militärischen Chance der US – Truppen ausgerechnet gegen die Russische Armee halluzinieren? Und wir als Deutsche sollen Spalier stehen und den US -Truppen zujubeln, wenn die Richtung Osten fahren und unseren eigenen Untergang demütig hinnehmen? Nein! Das werden wir Deutsche nicht! Nicht noch einmal!
Um es mit Jeffrey Sachs, dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler, der die UN berät, zu sagen: fast alle europäischen Politiker lügen. Ihre Hauptlüge ist der Umstand, dass Russland Deutschlands Feind sei, Russland für so gut wie alles Übel verantwortlich ist und wir das Richtige täten, wenn wir Russland bekämpfen. Der Niedergang Deutschlands, vor Allem der industrielle, aber auch der kulturelle und politische Niedergang unseres Landes, auch Europas wird mit einer beispiellosen medialen Hetze und Desinformation begleitet. Die Neocons der USA treiben einen Keil zwischen uns und Russland und bedrohen damit Frieden, Wohlstand und Zukunft unseres Landes. Deutschland muss sich dagegen zur Wehr setzen Liebe Freundinnen und Freunde!
Unsere industrielle Zukunft liegt in der Kooperation mit Russland, China und den anderen BRICS – Staaten! Wer das negiert, wer das bestreitet, meint es nicht ehrlich und belügt Deutschland und seine Bürgerinnen und Bürger.
Die US-Regierung unternimmt nämlich große Anstrengungen, Industrie aus Deutschland abzuwerben. Noch merken wir scheinbar nichts davon, lediglich die Nennung von Insolvenzen und gestrichenen Arbeitsplätzen schaffen es in die Schlagzeilen der Staats- und Konzernmedien. Es ist im Grunde genommen gleich, von welcher Seite wir dieses Problem betrachten, der Dreh und Angelpunkt, der Ausgangspunkt des Abstiegs Deutschlands ist die Vasallentreue gegenüber dem transatlantischen Hegemon und damit muss jetzt Schluss sein!
Liebe Freundinnen und Freunde, es gibt mit Sicherheit eine Veränderung in der Geopolitik, die Frage ist nur, ob Deutschland als Mitgewinner auf dem BRICS – Zug mitfährt oder den industriellen Niedergang hinnimmt. Ich meine: Im Interesse unseres Landes müssen wir uns mit aller Entschiedenheit gegen diesen gewollten und beabsichtigten Niedergang stemmen!
Dieser ist von unseren transatlantischen Eliten gewollt und bewusst herbeigeführt. Der französische Historiker und Soziologe Emmanuel Todd sieht bereits den bevorstehenden Untergang des Westens, verursacht u.a. durch die bevorstehende Niederlage der USA und der NATO in der Ukraine. Er kommt er zu dem Schluss, dass die Niederlage schließlich in einer Aussöhnung Russlands mit Europa und einer Annäherung an Deutschland gipfeln wird, was den Wünschen der Vereinigten Staaten zuwiderläuft. Klingt das utopisch? Schaut man sich die aktuelle Hysterie an, kann man das für eine riskante Äußerung halten. Für mich und für viele Menschen in Deutschland ist das jedoch eine große Hoffnung! Aber dafür müssen wir kämpfen, geschenkt bekommen wir diese Entwicklung nicht!
Ich erinnere an ein historisches Beispiel: am 16. April 1922 trafen sich im idyllischen Badeort von Rapallo in Italien die Vertreter Sowjetrusslands und Deutschlands zu so genannten Pyjama-Konferenz, während parallel eine Weltwirtschaftskonferenz lief. Als am nächsten Morgen die schockierten Vertreter der Angelsachsen ins Plenum kamen, präsentierten der damalige Außenminister Rathenau, Reichkanzler Joseph Wirth und der russische Außenminister Tschitscherin den Kooperationsvertrag zwischen beiden Mächten, die nach dem 1 Weltkrieg dadurch ihre internationale Isolation beendeten und wirtschaftlich kooperierten. Damals war dieser Vertrag eine Herzensangelegenheit des gesamten deutschen Bürgertums – und natürlich der KPD. Und warum, so frage ich, sollte so etwas nicht auch heute möglich sein, sicher unter anderen Vorzeichen, aber auch mit großen Möglichkeiten? Möglichkeiten für Arbeitsplätze, für große Gewinne, für Frieden! Für kluge Unternehmer also jede Menge Chancen – ganz im Gegensatz zur jetzigen Politik, die Deutschland ruiniert! Wann endlich gibt es im Bürgertum, so frage ich, einen Aufstand, wann endlich einen Kurswechsel, weg von der Nibelungentreue des Transatlantismus hin zu einem souveränen Deutschland, dass mit seinem großen Nachbarn im Osten in Frieden prosperiert?
Wir müssen eine Regierung anstreben, die einen Aufnahmeantrag zu BRICS stellt – auch wenn das nach jetzigen Maßstäben illusorisch erscheint. Aber dahin, liebe Freundinnen und Freunde, muss der Diskurs letztlich gehen.
Lasst uns diesen Kampf um Frieden und Gerechtigkeit weiterführen! Beenden wir die unfassbar geschichtsvergessene Kriegspolitik der deutschen Bundesregierung, die kein Problem damit hat, dass auf ukrainischen Panzern Hakenkreuze und Bandera-Flaggen prangern und die ihre Waffenlieferungen an die rechtsextreme Regierung Netanjahu in diesem Jahr vervielfacht hat. Nur wer innerlich souverän ist und frei von Bevormundung, der kann freie Entscheidungen treffen: für die Wiederaufnahme der Gas- und Öllieferungen aus Russland, für die Wiederbelebung des deutschen Mittelstands und der Entlastung der Verbraucher und der privaten Haushalte. Wer innerlich souverän ist, kann politische Entscheidungen treffen: für die Kündigung aller Truppenverträge, für den Abzug der US-Soldaten aus Deutschland, für den Austritt aus der militärischen Integration der NATO, denn in der politischen Abteilung der NATO wollen wir die Transatlantiker noch eine Weile ärgern – und dann wickeln wir den ganzen verdammten Laden ab!
Rede "Der 9. Mai 2024 – ein denk- und geschichtswürdiger Tag" von Wolfgang Effenberger
Der heutige 9. Mai fällt nicht nur auf Christi Himmelfahrtstag, sondern steht auch für drei geschichtsträchtige Ereignisse: Die seit 1950 jährliche Karlspreisverleihung in Aachen, der Europa-Tag, der auf die Robert-Schumann-Erklärung vom 9. Mai 1950 zurückgeht, und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 im Berliner Stadtteil Karlshorst, ….an die alljährlich neben vielen Veranstaltungen an verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin mit …einer großen Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau erinnert wird – in diesem Jahr können sogar erbeutete deutsche Leopardpanzer präsentiert werden.
Bereits am 7. Mai 1945 unterzeichnete im US-Hauptquartier von General Dwight D. Eisenhower in Rääs Generaloberst Alfred Jodl – Chef des Wehrmachtführungsstabes, eine Kapitulationsurkunde. Die Waffen sollten am nächsten Tag ruhen. Die US-Amerikaner waren am 6. Juni 1944 auf dem europäischen Kriegsschauplatz gelandet, die Sowjetunion war am 22. Juni 1941 von der Wehrmacht überfallen worden.
Die Sowjettruppen hatten allein in der Schlacht um Berlin mehr Gefallene als die USA in Gesamteuropa. [i] Die Gesamtverluste der Sowjetunion werden mit über 25 Millionen beziffert. Darin sind an die drei Millionen russische Gefangene enthalten, die in Deutschland entweder durch Genickschussanlagen oder durch Vernichtung mittels Arbeit ermordet worden sind.
Ebenso beschämend ist die Belagerung des damaligen Leningrad durch die deutsche Heeresgruppe Nord. Die Belagerung dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. 28 Monate oder 872 Tage unvorstellbaren Leids.
Es war ein Teil des Vernichtungskriegs im Osten und somit „ein genozidaler Akt, bei dem rund 1,1 Millionen Menschen gestorben sind“ [ii], die Stadtbevölkerung sollte gezielt ausgehungert werden. Das war ein Kriegsverbrechen, zudem stand die Stadt unter ständigem Artilleriebeschuss. [iii] Vor diesem Hintergrund ist die Forderung Stalins auf eine deutsche Kapitulation im Hauptquartier von Feldmarschall Georgi Schukow in Karlshorst zu verstehen. Und so unterschrieben dann am 9. Mai 1945 – kurz nach Null Uhr – in Karlshorst Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel als ranghöchster deutscher Soldat sowie die Befehlshaber der Teilstreitkräfte vor den vier 4 Siegermächten die bedingungslose Kapitulation. Damit war der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet. [iv]
In den letzten Jahren kam es immer wieder wegen antirussischer Ausschreitungen an den verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin zu großen Polizeieinsätzen. 2024 wird wieder mit erheblicher Polizeipräsenz im Treptower Park und am Tiergarten gerechnet. [v] Laut Wikipedia wird der 9. Mai als Europa-Tag in Erinnerung an die Schuman-Erklärung von 1950 als Ursprung der Europäischen Union gefeiert. Der Stabschef des französischen Außenministers hatte jedoch später erklärt: »Alles begann in Washington« [vi].
Am 9. Mai 1950 traf der US-Außenminister Dean Acheson in Paris mit seinem französischen Kollegen Robert Schuman und dem französischen Vizeministerpräsidenten Georges Bidault zusammen. Anschließend verkündete Schuman: „Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, … so daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.“ [vii]
Diese Erklärung, deren Urheber US-Außenminister Acheson war, steht im Zusammenhang mit Kriegsvorbereitungen – wie immer, wenn Energie und Stahl für kommende Kriege gebündelt werden. Sieben Wochen vor der Schuman-Erklärung, am 16. März 1950, hatte sich Winston Churchill für einen deutschen Verteidigungsbeitrag ausgesprochen. Und nur wenige Monate nach der Schuman-Erklärung wurde die »Dienststelle des Bevollmächtigten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« eingerichtet – dahinter verbarg sich nichts anderes als die Vorbereitung zur Wiederbewaffnung der BRD.
Ein Jahr zuvor, am 4. April 1949, war die NATO gegründet worden. Laut Lord Ismay, dem 1. Generalsekretär, mit der Absicht, „Amerika drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.“ [viii] Im Bündnisvertrag wird die Einsicht verlangt, dass Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit sind. Daher auch der Marshallplan. Nur wenige Monate später, am 19. Dezember 1949, verabschiedeten die USA den Kriegsplan »Dropshot«, mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte.
In der »Grundannahme« heißt es wörtlich: »Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.« Daraufhin sollten 300 Atombomben und zigtausende hochexplosiver Bomben abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt.
Als dann jedoch 1957 der Satellit Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für DROPSHOT wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.
Für mich war es 1999 unvorstellbar, dass sich die Bundesrepublik Deutschland erstmals an einem Krieg, und dann auch noch an einem völkerrechtswidrigen Angriff beteiligt! Nachdem die USA für den Krieg gegen Rest-Jugoslawien kein UN-Mandat bekamen, änderten sie kurzerhand ihre Strategie und mandatieren seither ihre Kriege selbst.
Die Vereinten Nationen sind obsolet geworden – stattdessen beruft man sich auf eine diffuse, exklusive „regelbasierte Ordnung“ und damit auf ein imperiales Faustrecht. Nun soll Deutschland angesichts der sich militärisch ausweitenden Konflikte kriegstüchtig werden. Die Entwicklung, für die der so genannte Wertewesten hauptverantwortlich ist, zielt auf Krieg gegen Russland und China.
Diese absehbare Gefahr brachten wenige Monate nach dem Maidan-Putsch Anfang 2014 Willy Wimmer und ich im Vorwort zu „Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute“ zum Ausdruck: „die gleichen Kreise, die vor hundert Jahren nationale Konflikte für ihre Interessen instrumentalisierten, sind heute wieder am Werk. Wieder wird bedenkenlos gepokert und dabei billigend die Gefahr eines Weltkriegs und damit neues unermessliches Leid in Kauf genommen“. [ix]
Im September 2014 setzte das Pentagon die Langzeitstrategie TRACOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020 -2040“ in Kraft. Darin wurden Heer, Marine und Luftwaffe auf die künftigen Konflikte eingestimmt: An erster Stelle wird die Bedrohung durch Russland und China genannt, dann die durch Iran und Nordkorea und erst zum Schluss die Bedrohung durch transnationale Terroristen.
Im US-Strategiepapier vom Oktober 2022 nannte US-Präsident Biden als Hauptziele:
Stand das serbisch dominierte Rest-Jugoslawien der NATO-Osterweiterung im Weg? Oder hatte es sich zu sehr an China gebunden, wie der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vermuten lässt?
Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien, Ukraine usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange kein Ende finden wird, bis die Triebkräfte, die in den Ersten Weltkrieg geführt haben, aufgedeckt sind und die Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung münden.
Vor Beginn der Münchner Sicherheits-Konferenz 2024 unterschrieben der deutsche Kanzler und der ukrainische Präsident ein auf zunächst 10 Jahre befristetes Sicherheitsabkommen samt Ankündigung eines milliardenschweren Militärhilfepakets.
Eingangs verurteilen darin beide Länder – ich zitiere: „auf das Schärfste den ungerechtfertigten, unprovozierten, illegalen und brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, durch den Russland in gravierender Weise gegen das Völkerrecht einschließlich der UN-Charta verstößt.
Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“ gebunden. [x]
Dieses „Sicherheitsabkommen“ wurde unmittelbar nach der Unterzeichnung wirksam. Damit ist Deutschland auf Gedeih und Verderb an das Schicksal der Ukraine gekettet. Der Eingangssatz lässt jedes diplomatische Geschick vermissen und wird nicht nur die Hardliner im Kreml gegenüber Deutschland unversöhnlich stimmen. Deutschland hat jetzt aus Russland keine Zurückhaltung mehr zu erwarten.
Wie konnte der deutsche Kanzler Olaf Scholz einen für die BRD so existenzbedrohenden Pakt unterschreiben? Sollte die Ukraine auf dem Schlachtfeld in die Knie gezwungen werden, könnte sich der Krieg zu einem umfassenderen regionalen Konflikt ausweiten, in den auch andere europäische Verbündete der Vereinigten Staaten verwickelt werden. [xi] Dieses Szenario wurde schon am 28. Februar 2023 bei der US-Senatsanhörung zum Ukraine-Krieg angedacht:
Senator Rick Scott befragte den 3-Sterne-General Keith Kellogg: „Aber warum hat Deutschland nicht seinen Teil zur tödlichen Hilfe beigetragen?“ „Ich glaube“, so der General“, Deutschland spielt in Europa im Moment keine Rolle mehr“. Anschließend schwärmte der General dem Senator vor: „Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein strategischer Gegner vom Tisch, und wir können uns auf das konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das ist im Moment China…. wenn wir dabei scheitern, … müssen wir vielleicht einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal.“ [xii]
Nun, die USA scheitern gerade in der Ukraine! Kommt nun der dritte große europäische Krieg? Die USA scheinen in einer Situation zu sein, in der als Ausweg nur noch der umfassende Krieg gesehen werden kann. Wieso verschließt sich der deutsche Kanzler den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen? Dass sich seit 2015 in jedem Jahr die NATO-Militärmanöver weiter bis ins Gigantische gesteigert haben, kann ihm nicht entgangen sein! Dazu die unsägliche Kriegsrhetorik der NATO-Generalsekretäre Rasmussen und Stoltenberg. Bertolt Brecht verfasste 1951 einen „Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller“. Angesichts der Remilitarisierung der jungen Bundesrepublik warnte er vor einem Dritten Weltkrieg: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ [xiii]
»Der ›Internationale Karlspreis zu Aachen‹, der 1950 erstmals vergeben wurde, ist der älteste und bekannteste Preis, mit dem Persönlichkeiten oder Institutionen ausgezeichnet werden, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben«, heißt es bedeutungsschwer auf der Homepage der Stiftung, die den Preis alljährlich vergibt. Weiter ist dort zu lesen: »Zum Namensgeber für den Preis wurde Karl der Große, der als erster Einiger Europas gilt und der Ende des achten Jahrhunderts Aachen zu seiner Lieblingspfalz wählte; damit wurde eine Brücke zwischen europäischer Vergangenheit und Zukunft geschlagen.« [xiv]
Karl der Große als Vorbild für ein geeintes und friedliches Europa? Karl wurde am Weihnachtsfest des Jahres 800 nach alttestamentlicher Sitte von Papst Leo III. gesalbt und gekrönt. Seine Anrede lautete: „Allergnädigster, erhabener, von Gott gekrönter, großer, friedebringender Kaiser, der das Römische Reich regiert und durch Gottes Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden ist.“
Es war also kein deutsches oder fränkisches Reich entstanden, sondern das westliche Imperium Romanum. Folglich kann Karl der Große nicht als Mentor eines geeinten Europas dienen. Auch findet sich weder bei seinem Biografen Einhard noch in den Reichsannalen des karolingischen Hofes ein Wort zu Europa. Von Europa sprachen anscheinend eher gebildete Fremde, Iren und Angelsachsen. Kaiser Karl war bei Dänen, Polen, Ungarn, Griechen oder Russen nicht sonderlich beliebt.
Und die Sachsen setzten sich über 32 Jahre lang gegen die unerbittlichen Unterwerfungs- und Christianisierungsfeldzüge Karls zur Wehr, in denen sie die Absicht einer Frankisierung wie auch der Zerschlagung ihrer demokratischen Stammesstrukturen erkannten. Erst zur Zeit Napoleons nahmen die Vorstellungen von Europa Kontur an. Nachdem Napoleon die Lombardei erobert hatte, glaubte sich in der Tradition Karls: »Ich bin Karl der Große.« [xv]
Angesichts der Macht Napoleons skizzierte der deutsche Romantiker Friedrich Schlegel 1810 das Bild von Karl als »Gesetzgeber für das ganze abendländische Europa. [xvi] Selbst im Dritten Reich erfuhr Karl Anerkennung. In seinen Tischgesprächen im Führerhauptquartier bat Hitler seinen Chefideologen Alfred Rosenberg, »einen Heroen wie Karl den Großen nicht als Karl den Sachsenschlächter zu bezeichnen. Geschichte müsse immer aus ihrer Zeit heraus verstanden werden«. [xvii] Für ihn war Karl der erste Einiger aller germanischen Stämme und der erste Schöpfer eines »vereinigten Europas«. Karl gelangte nun zu der fragwürdigen Ehre, Namensgeber für die 1. Französische SS-Waffen-Grenadierdivision »Charlemagne« zu werden. [xviii]
Das braune Regime missbrauchte den großen Franken als integrierende Symbolgestalt für die eigene europäische Machtchimäre. »Karl der Europäer« überstand den Zusammenbruch von 1945 jedoch unbeschadet. Die beeindruckende Aachener Karlsausstellung des Europarats von 1965 galt »dem ersten Kaiser, der Europa zu vereinen wusste« [xix] – mithin einem Leuchtturm. Aber der leuchtet nicht. Der Mythos vom großen Europäer stammt vor allem von nationalsozialistischen Geschichtsschreibern, die den mittelalterlichen Kaiser zum Urahn eines von Hitler geeinten Kontinents machten. Jährlich zu Christi Himmelfahrt wird der Internationale Karlspreis zu Aachen an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen. Der erste Preisträger war Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, am 18. Mai 1950, »in Anerkennung seiner Lebensarbeit für die Gestaltwerdung der Vereinigten Staaten von Europa«. [xx]
1925 war sein umstrittenes Werk „Praktischer Idealismus“ erschienen, eine krude Mischung aus puritanischer Arbeitsethik und marxistischer Heilserwartung.
Propagiert wird ein heroischer Aktionismus mit dem Ziel der völligen Vereinheitlichung der Weltbevölkerung und der totalen technischen Beherrschung der Erde im Sinne einer „Aristokratie der Gesinnung“, die zu einer sozialen Entwicklung ohne Kriege führen soll. Der naive Glaube an den „heroischen Willen“ im Kampf für das Heil der Menschheit bescherte Europa im 20. Jahrhundert die aggressiven Machtstrukturen kollektiver Zwangssysteme – Nationalsozialismus und Stalinismus.
Coudenhoves Vision kann einen das Gruseln lehren: „Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. … Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen“ [xxi]
Die Edlen, entstanden aus der Zuchtwahl nach den »göttlichen Gesetzen erotischer Eugenik«, sollen die Massen führen. Die abendländische Kultur mit ihrer Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten soll orientalisiert, das Volk umerzogen werden: »Ein pazifiziertes und sozialisiertes Abendland wird keine Gebieter und Herrscher mehr brauchen – nur Führer, Erzieher, Vorbilder. In einem orientalischen Europa wird der Zukunftsaristokrat mehr einem Brahmanen und Mandarin gleichen als einem Ritter.«
Coudenhove geißelte den moralischen Verfall sowohl im Kapitalismus als auch im Kommunismus, hoffte aber in naiv-platonischer Manier auf eine »Aristokratie des Geistes«. [xxii] Seine Analyse der Demokratie als Fassade der Geldherrschaft klingt allerdings geradezu aktuell: „… weil die Völker nackte Plutokratie nicht dulden würden, wird ihnen die nominelle Macht überlassen, während die faktische Macht in den Händen der Plutokraten ruht. In republikanischen wie in monarchischen Demokratien sind die Staatsmänner Marionetten, die Kapitalisten Drahtzieher: sie diktieren die Richtlinien der Politik, sie beherrschen durch Ankauf der öffentlichen Meinung die Wähler, durch geschäftliche und gesellschaftliche Beziehungen die Minister.« [xxiii]
Coudenhove-Kalergis »praktischen Idealismus« könnte man als eine der vielen romantischen Gesellschaftsutopien abtun, hätte er nicht eine so fatale politische Wirkkraft entfaltet. 2008 erhielt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel den begehrten Preis. In ihrer Dankesrede betonte sie, dass die höchsten irdischen Güter, »Freiheit, Menschlichkeit und Frieden« immer wieder aufs Neue zu hegen und zu pflegen seien. Nur 6 Jahre zuvor hatte sie als CDU-Chefin eindringlich für eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg geworben. Anfang Dezember 2022 gab die Karlspreisträgerin Merkel ohne jede Scham zu, dass das Abkommen von Minsk nur dazu diente, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine aufzurüsten: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben … Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“ [xxiv]
Und der Karlspreisträger Emmanuel Macron ist gewillt, Truppen in die Ukraine zu schicken. Auch er hatte nichts unternommen, um das Minsk-Abkommen umzusetzen und damit Frieden in die Ukraine zu bringen. So wenig Karl der Große ein friedenbringender Kaiser war, sind es heute die demokratisch gewählten Repräsentanten.
Dabei haben im Vergleich zu Merkel & Macron die beiden größten Europäer Charles de Gaulle & Willy Brandt keinen Karlspreis bekommen. Sie erinnern sich: De Gaulle wies die NATO aus Frankreich und von Willy Brandt stammt der Ausspruch: „Ohne Frieden ist alles andere NICHTS“. Nun taumelt die europäische Union in eine Katastrophe, die sich seit mindestens 10 Jahren ankündigt. Und Deutschland ist bei einem 3. Weltkrieg Aufmarschgebiet und zentrale Drehscheibe. Gute Nachbarschaft mit Russland ist daher für uns überlebenswichtig.
[i] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1184660/umfrage/amerikanische-verluste-waehrend-des-zweiten-weltkrieges/
[ii] https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/
[iii] Ebda.
[iv] https://www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/blog/...
[v] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/russland-von-kz-gedenkfeier-ausgeladen-was-heißt-das-für-den-9-mai-in-berlin/ar-AA1njdO6?ocid=BingNewsSerp
[vi] Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen 2020, S. 131
[vii] Ebda.
[viii] Ebda., S. 122f.
[ix] Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: Wiederkehr der Hasardeure. Höhr-Grenzhausen 2014, S. 18
[x]www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[xi] Ebda.
[xii] https://www.congress.gov/118/crec/2023/02/28/169/38/CREC-2023-02-28-dailydigest.pdf; https://www.youtube.com/watch?v=tmmPHvlbdwI
[xiii] www.deutschlandfunk.de/vor-70-jahren-als-bertolt-brecht-den-offenen-brief-an-die-100.html
[xiv] 1 www.karlspreis.de
[xv] Vgl. Döbber/Roith: Karl, der große Europäer? Ein dunkler Leuchtturm. In: Leben und Lernen in der EU, www. schulseiten.de/jvfg/page.php?page=geschichte_geschichte_3
[xvi] Zit. wie www.nrhz.de/flyer/beitrag. php?id=22793
[xvii] Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche. Frankfurt a. M. 1993, S. 166
[xviii] Zit. wie Döbber/ Roith: Karl, der große Europäer? A. a. O.
[xix] Zit. wie www.spiegel.de/spiegel/ print/d-21197891.html
[xx] Zit. wie www.karlspreis.de/de/preis traeger/richard-nikolaus-graf-coudenho- ve-kalergi-1950/vita
[xxi] Coudenhove-Kalergi, R. N.: Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus. Wien/ Leipzig 192, S. 23
[xxii] Coudenhove-Kalergi 1925, S. 33
[xxiii] Ebda., S. 39
[xxiv] https://www.wsws.org/de/articles/2022/12/20/merk-d20.html
Redemanuskript von Prof. Ulrike Guérot (frei gespochen):
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bekannte und Freunde, liebe Zuschauer & Zuhörer, auch ich freue mich sehr, heute an diesem besonderen Tag, diesem doppelten Gedenktag, zum einen an die deutsche Kapitulation am 9. Mai 1945 und zum zweiten an die Europäische Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950, zu Ihnen sprechen zu können; zwei Gedenktage, die erstmalig und einmalig mit der feierlichen Verleihung des Karlspreises heute am 9. Mai 2024 zusammenfallen, der wiederum seit 1950 vergeben wird.
Das ist viel Geschichte, es sind viele historisch aufgeladene Daten – Wolfgang Effenberger hat sie Ihnen gerade aufgefächert – die in einer rund 20-minütigen Rede kursorisch zu kommentieren fast unmöglich ist. Zumal wir – nach 70 Jahren Frieden in Europa, Frieden, den wir Europa verdanken, denn Europa, das hieß viele Jahrzehnte #niewiederKrieg – jetzt wieder in einer Zeit leben, von der man schon jetzt sagen kann, dass sie historisch aufgeladen ist, eine Zeit, in der jeder den politischen Umbruch, die Zäsur fühlen kann, und schließlich eine Zeit, in der man den Krieg am Horizont buchstäblich riechen kann, wie ein Gewitter: Deutschland müsse jetzt „kriegstüchtig“ werden, so heißt es, Macron wiederum sagte gegenüber dem Economist, dass er an einem möglichen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine festhalte. Während die EU sich nicht aufraffen kann, andere Kriege angemessen zu verurteilen und in ihren Erklärungen mit Blick auf Gaza nicht einmal den Begriff „Cease Fire“ auf Papier bekommt.
Ich möchte vorschieben, dass meine Einladung zum einen sehr spontan erfolgte, erst letzten Sonntag, so dass ich Ihnen keine historisch ausgefeilte Rede wie Wolfgang bieten kann, dafür war die Zeit zu knapp.
Und dass es zum Anderen für mich etwas ungewöhnlich ist, hier draußen, sozusagen vor dem Aachener Rathaus zu sprechen, denn mehrere Male war ich Gast bei der Verleihung des Karlspreises, zum Beispiel 2017, als der Preisträger der britische Historiker – und Freund von mir – Timothy Gaton Ash aus Oxford war; oder 2018, als der Karlspreis an den damals frisch gewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron vergeben wurde, der kurz nach Amtsantritt 2017 mehrere wichtige europäischen Reden an der Sorbonne oder in Athen gehalten hat. Darauf werde ich zurückkommen.
Deswegen möchte ich mich eher auf ein paar persönliche Erinnerungen beschränken, Erinnerungen an das Europa in den 1980er und 1990er Jahren, an meine Zeit bei Jacques Delors, den großen Kommissionspräsidenten von 1985 bis 1995, an die damalige Aufbruchstimmung in eine Politische Union, an die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses von Michael Gorbatchov, an die Idee einer europäischen Sicherheitsarchitektur mit Russland. Kurz: ich möchte erinnern an die Ambitionen, die Absichten, und die Träume, die man damals von einem einigen, friedlichen und prosperierenden Europa hatte. Ich möchte kurz skizzieren, welche Debatten darüber geführt wurden, in knappen Sätzen nachzeichnen, wo die EU m.E. falsch abgebogen ist, wann die EU die Sympathien und das Wohlwollen der europäischen Bürger verloren, ihre Ziele verfehlt, ihr demokratisches Antlitz verspielt hat, und heute offenbar dabei ist, ihr Erbe und ihren Auftrag – nämlich ein Friedensprojekt zu sein – in den Mülleimer der Geschichte zu schreddern und zwar vor unseren Augen, in unserer Zeit!
In dem die EU jenen europäischen Wesenskern schreddert – Frieden – den der französische Autor Laurent Gaudet in seinem großartigen Epos „L’Europe – un banquet des Peuples“, so beschreibt: „Ce que nous partageons, c’est que nous étions tous burreau et victime.“ Was wir in Europa teilen, ist, dass wir alle zugleich Opfer und Schlächter waren.“ Die europäische Einigung sollte dazu führen, dass wir daraus Lehren ziehen, durch eine gemeinsame, friedenssichernde föderale Ordnung. Jetzt werden die Staaten der EU seit geraumer Zeit immer mehr in ein Kriegsgeschehen hineingezogen, oder bereiten sich gar aktiv drauf vor: man könne ja nicht anders. Der imperialistische Putin allein sei schuld, eine Mitverantwortung des Westens wird kategorisch ausgeschlossen, obgleich viele Argumente auf dem Tisch liegen, dass es eine solche gibt. Wir werden die Schulfrage den Historikern überlassen und hier nicht diskutieren, denn längst ist die Frage nicht mehr, wer zuerst angefangen hat. Sondern wer jetzt zuerst aufhört!
Auch wenn ich derzeit nicht mehr in Bonn bin, wer weiß – was das LAG Köln entscheidet – möchte ich Bertha von Suthner zitieren, deren Namen einer der großen Plätze in Bonn schmückt und die 1916 den Friedensnobelpreis bekommen hat für „Die Waffen nieder“. Das ist das, was jede Mutter sagt, wenn zwei Kinder sich streiten: „Es ist mir egal, wer angefangen hat. Ihr hört jetzt beide sofort auf.“ Denn am Anfang ging es noch um gelb-blaue Fahnen, Solidarität und Helme. Dann um Panzer, dann um Luftabwehrraketen. Inzwischen liegt die atomare Bedrohung in der Latenz, mit der Putin droht, nachdem im September 2022 die damalige britische Außenministerin schon bereit war, to push the nuclear button.
Um das zu betonen: unbestritten geht es um einen „russischen Angriffskrieg“. Ob er „völkerrechtswidrig“ ist, dazu gibt es bereits erste Diskussionen unter Juristen. Aber an der Eskalationsspirale drehen zwei, und nicht nur einer! Wie General Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr sagt: seit den am Unwillen des Westens (!) gescheiterten Friedenverhandlungen vom April 2022 ist der Westen mitverantwortlich für den Krieg. Und ich habe in den letzten Monaten keine EU gesehen, die – würdig des Friedensnobelpreises, der ihr 2012 verliehen wurde – alles, aber auch alles getan hätte, Frieden und Diplomatie zu forcieren.
Im Gegenteil. Die einseitige und hohe finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine von inzwischen insg. rund 107 Mrd Dollar, die auf dem Dezember Gipfel 2023 der EU beschlossen wurde, das unhaltbare (jeder weiß es!) Versprechen einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine und in der Tat jene verhängnisvolle Verkettung des deutschen Schicksals mit dem ukrainischen durch die vertragliche Bindung vom 16. Februar 2024, die Wolfang schon zitiert hat („Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“[1]) und die zehn Jahre Gültigkeit hat, also bis 2034 (!!!), sind wohl Ausdruck dafür, dass die EU, dass die europäischen Staaten, mit einer mir unverständlichen Lust auf Selbstschädigung offenbar lieber auf Jahre den Krieg und den militärischen Konflikt riskieren, auf den sie sich sichtlich vorbereiten, anstatt den Frieden zu gestalten. Weil man nicht eingestehen kann, dass man sich verkalkuliert hat, weil man zu lange erzählt hat, dass Putin den Krieg nicht gewinnen darf, ohne zu spezifizieren, was das denn eigentlich heißen soll? Und das, obwohl deutsche oder auch amerikanische Generäle und Experten wiederholt zum Ausdruck bringen, dass dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist; obgleich sich die Berichte über den Zusammenbruch der ukrainischen Front häufen und die ukrainischen Männer zuhauf desertieren.
War das nicht genau diese europäische Kriegserfahrung, die der Franzose Boris Vian in seinem wunderbaren Lied „Le Deserteur“ , einem Kleinod europäischer Chanson-Kunst, zum Ausdruck gebracht hatte: Wenn Sie Soldaten möchten, Herr Präsident, dann schicken Sie ihre eigenen Söhne… heißt es in dem Lied. Als es zum erstem Mal 1954 im französischen Radio gespielt wurde, wurde es sofort zensiert und dann bis Ende des Algerienkrieges 1962 verboten. Kriegszeiten sind Zensurzeiten – auf beiden Seiten der Front!!! Über den Frieden zu sprechen ist, ihn zu fordern ist auch heute schon wieder hart an der Grenze der Strafbarkeit in Deutschland und Europa.
Wie kann es sein, dass wir 2024 wieder da sind, wo wir 1954, vor siebzig Jahren schon einmal waren, und sich z.B. die polnische Regierung damit rühmt, ukrainische Männer in Polen aufzuspüren und zurück an die Front zu schicken, u.a. zur Verteidigung einer ukrainischen nationalen Souveränität und territorialen Unversehrtheit, die indes ein Kunstprodukt der jüngeren Geschichte ist, wie alle Grenzen in Europa entweder ein Kunstprodukt oder das Ergebnis blutiger Kämpfe aus dem letzten Jahrhundert sind: ob das Elsass Französisch oder Schlesien Deutsch oder Tirol Italienisch ist: darüber wurden die Schlachten im 20. Jahrhundert geführt, bevor durch eine föderale Ordnung in Europa die nationalen Grenzen durchlässig wurden und es nicht mehr so wichtig war, zu welchem Land eine bestimmte Region gehört.
Genau das war nach dem Mauerfall mit der Charta von Paris von 1990 auch die Idee für Osteuropa: eine föderale Ordnung mit Russland, eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der die nationale Zuordnung einzelner Regionen nicht mehr so wichtig ist, weil die Grenzen des europäischen Kontinentes durchlässig sind und die europäischen Völker in Frieden unter dem Dach einer kooperativen, föderalen, europäischen Ordnung leben, anstatt nationale Grenzen und Territorien durch Krieg zu verteidigen und den Schutz voreinander zum einzigen Ziel zu erheben, wo dich der Friede unteilbar ist.
Die Frage nämlich, ob z.B. die Krim russisch oder ukrainisch ist, ist, ist genauso schwer zu beantworten wie die Frage ob das Elsass Deutsch oder Französisch ist. Alle europäischen Staaten sind im Kern multiethnisch, multireligiös und multinational, alle haben unterschiedliche Regionen. Wenn sie Elsässer fragen, ist das Elsass, jenseits seiner staatlichen Zugehörigkeit, einfach elsässisch. Und während im Donbass das Russische gerade aus den Schulbüchern entfernt wird, wird das elsässische in den dortigen Schulen neben dem französischen gerade wieder eingeführt. Wozu wurde siebzig Jahre erzählt, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten sei? Es steht noch in jedem Schulbuch über die EU….. wollen wir diese Schulbücher jetzt umschreiben?
Ausgerechnet Wolodymir Selenski hat letztes Jahr den Karlspreis bekommen hat, eine Entscheidung, die mich, ehrlich gesagt, verdutzt hat, weil ich keine „herausragenden Bemühungen im Bereich der europäischen Einigung“ in seinem Lebenswerk erkennen konnte, die doch das Aachener Preiskomitee verlangt, außer dass sein Land das Motiv dafür bereitstellt, die EU ausgerechnet in einem Krieg zu einen. Manchmal glaube ich, ganz Europa ist derzeit in einem Spielfilm, dessen Titel in Memoriam von James Dean heißt: Denn sie wissen nicht, was sie tun…. Für mich ist es derzeit neben den sinnlosen Toten an der Front das Schlimmste, dass Europa nicht in den Spiegel schauen kann; und nicht in die Texte, die seine Gründungsdokumente sind, so sehr müsste es sich schämen.
Eine in den Osten ausgedehnte, regionale, föderale Ordnung wäre die europäische Antwort auf das Kriegsgeschehen. Neben dem Verrat am Frieden ist es die vermeintliche Verteidigung einer ahistorischen ‚nationalen Einheit‘ der Ukraine, die diesen Krieg so unerträglich uneuropäisch macht: während die EU behauptet, ihre Werte zu verteidigen, in dem sie diesen Krieg im Namen der nationalen Einheit der Ukraine führt, versuchen Schottland, Katalonien oder Korsika gerade, nationale Einheiten zu durchbrechen. Wollen wir mit der EU zurück ins 20. Jahrhundert?
„Europa: Die Zukunft der Geschichte?“, so hieß eine große Ausstellung über Europa in Zürich schon 2015. Wir müssen also kurz zurück in die Geschichte, um die heutigen Fehlstellungen der EU zu erkennen, bevor ich zum Abschluss ein paar Ideen vorstellen möchte, damit Europa in eine andere europäische Zukunft findet, als eine Rückkehr in seine blutige Geschichte.
Inzwischen – „Verschwörungstheorien“ sind ja derzeit in Mode – sind viele, im Übrigen gute historische Bücher im Umlauf, die das Projekt der europäischen Einigung seit 1950, jener Erklärung von Robert Schuman, an die wir heute am 9. Mai erinnern, nicht mehr als Friedensprojekt beschreiben, das nach den Schrecken des 30-jährigen europäischen Krieges (Philipp Blom) von 1914 bis 1945, inklusive Holocaust beschämt auf der Taufe gehoben wurde, sondern die es von Anfang an als amerikanisches Projekt beschreiben, gestartet und gestaltet u.a. mit dem Marshall Plan. Kurz: die USA hätten die europäische Idee stets in ihrem Sinn gesteuert. Das ist mir zu flach, wiewohl es sicher eine Seite der Medaille ist. Vielmehr erscheint die Geschichte der EU als ein umschlungener Pfad, oszillierend zwischen europäischen Ambitionen und auswärtiger Einflussnahme, USA oder CIA hin oder her.
Denn es gab – und gibt vielleicht noch? – eine andere Idee von Europa, eines Europas, geboren aus dem Geist des Widerstandes, wie es in dem gleichnamigen Buch von Frank Nieß[2] heißt, nämlich genau jene Idee eines friedlichen, föderalen, regionalen, sozialen und vor allem bürgerbasierten Europas jenseits nationalstaatlicher Zuordnungen, dessen Protagonist der ersten Stunde der legendäre italienische anti-Faschist Altiero Spinelli gewesen ist, der wiederum bis in die 1980er Jahre Mitglied des Europäischen Parlamentes war, und Co-Autor des europäischen Manifestes von Ventone 1941. Darin heißt es: „Die erste Aufgabe, die angepackt werden muss, und ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt auf dem Papier bleibt, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen.“ [3] Wenig später heißt es im sog. Hertensteiner Programm von 1946 in Punkt 5: „Die Europäische Union steht allen Völkern europäischer Wesensart, die ihre Grundsätze anerkenne, offen.“ Ferner heißt es dort unter Punkt 8: „Die Europäische Union richtet sich gegen niemanden und verzichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht zu sein.“ Wohlgemerkt: in den Texten, die damals den europäischen Geist atmeten, ging es also um europäische Völker, nicht um Staaten! Und es ging um die Entsagung von einem Machtanspruch. Das geflügelte Wort von Jean Monnet lautete: „L’Europe, nous ne coalisons pas des états, mais nous unissont des hommes.“ Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrieren, sondern Menschen zu einen.
Die EU aber hat, und darauf wird als einen ihrer zentralen Webfehler zurückzukommen sein, stets versucht, Staaten zu integrieren – durch einen Binnenmarkt oder eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Verteidigungspolitik oder eine Klimapolitik – und nicht wirklich versucht, Europa als Bürgerprojekt zu begreifen, als Projekt einer gemeinsamen europäischen Demokratie und nicht Integration. Deswegen konnte die EU bis heute nicht zu einer eigenständigen Souveränität gelangen und leidet an einem Demokratiedefizit, das wiederum der Nährboden für die heutigen populistischen Parteien ist, die zwar die EU angreifen, die aber nicht unbedingt gegen ein geeintes Europa sind. In dieser Differenz zwischen EU und Europa, zwischen Bürgern und Staaten, zwischen europäischer Integration und europäischer Demokratie sind vielleicht die Lösungen zu suchen, um Europa im 21. Jahrhundert anders zu gestalten. Denn wenn die EU heute vielen als „usurpiert“ erscheint, von wem auch immer – den USA oder Konzernen – dann konnte das nur passieren, weil die demokratische Bindung der Bürger zum europäischen Projekt nie richtig vorhanden war.
Auch Frank Nieß beschreibt schon akribisch für die 1940er Jahre, wie das europäische Projekt und die vielfältigen europäischen Bewegungen aller Ortens in der Nachkriegszeit, vor allem in den Jahren 1945 bis 1949, also vor der Erklärung von Robert Schuman, zum Spielball von Einflussnahmen wurde: Einflussnahmen der USA ebenso wie der Briten, von Stalin genauso wie von ökonomischen Akteuren. Um Europa und das, was es sein sollte, gab es also stets Gezerre, nach dem II. Weltkrieg und bis in die jüngere und jüngste Geschichte. Quo vadis, Europa? Welches Europa? Europe at the crossroads? ist eine millionenfach gestellte Frage.
Wie ein roter Faden zieht sich in Europa die Frage nach Bundesstaat oder Staatenbund, nach Föderation oder Union, nach nationaler oder europäischer Souveränität – also letztlich die Frage: wer entscheidet in Europa, wer ist der Souverän? – durch die europäische Geschichte, auch durch die über 70-jährige Geschichte der EU. Und damit vor allem die Frage: entscheiden die Europäer selber über ihr Schicksal, ihre Werte und ihre geostrategischen und ökonomischen Interessen und wenn ja, wie machen sie das zusammen? Oder entscheiden „auswärtige Mächte“?
Die europäischen Bibliotheken sind randvoll mit juristischen Analysen über die Versuche einer europäischen Verfassung, über die europäischen Verträge von Rom bis Maastricht, über Reformbemühungen und Regierungskonferenzen von Amsterdam über Nizza und von Laeken bis Lissabon. Nach über 70 Jahren Integration ist die Bilanz der EU ernüchternd. Wir, die Europäer, die europäischen Bürger, haben es nicht geschafft, im demokratischen Sinn Herr des europäischen Projektes zu werden, und die europäische Einigung so zu bauen, so zu vollenden, wie es damals in den Texten des Nachkriegseuropas angedacht oder auch erträumt war. Und zwar unabhängig davon, was die USA vielleicht gewollt oder gesteuert haben. Denn die unbestrittenen Interferenzen der USA sind nur die eine Seite. Die andere ist, bis heute, was wir Europäer aus und auf dem europäischen Kontinent machen wollen?
Wenn wir eine andere Zukunft in Europa wollen als die Geschichte, müssen wir das Nachdenken über Europa im 21. Jahrhundert mit dieser Frage beginnen, genauer: fortsetzen. Il faut cultiver son jardin, man muss seinen Garten hegen, pflegte Voltaire zu sagen. Wir haben den europäischen Garten nicht gehegt! Wir haben ihn verwildern lassen.
Das eigentliche Problem für mich ist, dass wir jedes öffentliche Nachdenken darüber, was wir mit und auf diesem Kontinent zusammen machen wollen, jede konstruktive institutionelle Debatte über die EU, ihre Governance-Strukturen etc. seit Jahren eingestellt haben. Es geht nicht mehr darum, dass wir Änderungen am europäischen Gefüge nicht mehr umsetzen oder implementieren können, sondern dass wir praktisch keine institutionellen Änderungswünsche an der EU mehr denken, artikulieren und politisch debattieren können. Die großen Debatten aus der Ära Delors über les grands projets européen, die großen europäischen Projekte, sie sind dahin. Europa ist zu einer einzigen großen Krisenerzählung geworden, Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Krieg. Wer heute 20 Jahre alt ist, hat seit Jahren in der europäischen Medienlandschaft kein einziges positives Bild von Europa geliefert bekommen, obgleich das Leben jedes europäischen Bürgers zu großen Teilen durch die EU bestimmt und reguliert ist.
Muss man sich dann wundern, dass die Afd, wie andere populistische Parteien, den Dexit, Öxit, Italexit, Polexit etc., fordern und die EU als unreformierbar bezeichnen? Ich, die ich in den letzten beiden Jahrzehnten auf hunderten solcher Reformkonferenzen beigewohnt habe würde dem beipflichten. Wir sind denkfaul geworden mit Blick auf die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie oder einer Verfassung; denkfaul mit Blick auf unseren kulturellen Beitrag in Zeiten des Transhumanismus, in denen die europäische Philosophie vielleicht mehr denn je gebraucht wird, und ebenso denkfaul mit Blick auf Europas Rolle in der Welt, in der zukünftigen, multipolaren Welt, die sich am Horizont abzeichnet und in der Europa keine Rolle mehr spielen wird, wenn nicht bald eine neue, zugkräftige Idee von sich selbst entwickelt.
Noch im Oktober 2023, es ist erst wenige Monate her, als einige Abgeordnete im Europäischen Parlament einen neuen europäischen Konvent planten, der 2025, nach den Europawahlen beginnen sollte, der Skizzen, Pläne und Entwürfe für ein Europa 2030/ 2035 machen sollte, um die bevorstehende Erweiterung der EU um die Balkanstaaten, die Ukraine oder die Türkei mit institutionellen Reformschritten zu begleiten, wurde dieser Vorstoß torpediert. In diesen Konvent sollten auch die 49 Bürgervorschläge für Europa, die im Rahmen einer einjährigen Bürgerbefragung der EU zwischen 2021 und 2022 entwickelt worden sind, eingebracht werden. Doch der Konvent wurde kassiert. Kein Zukunftsentwurf, keine Beratungen, kein Nachdenken. Niemand bedauert es, niemanden interessiert es, schlimmer noch: die wenigsten wussten davon. Wie aber soll Europa – und das sollte es ja ursprünglich – ein europäisches Gemeinwesen werden, wenn sich niemand dafür interessiert? Wenn es aber, und das ist mein Punkt, kein gelebtes, erlebtes, belebtes demokratisches Gemeinwesen wird, dann wird die EU (oder ist die schon!) zum Monster: Nous avons crée un monstre, sagte der berühmte französische Ökonom Thomas Piketty schon während der Bankenkrise. Aber niemanden scheint es zu stören, in einem Monster zu leben, ein Apparatus, der jetzt z.B. durch einen European Digital Service Act die Meinungsfreiheit in Europa weiter einschränkt, eine EU, die ihre Zugriffsrechte immer weiter – ich habe das schon 2016 geschrieben – in die europäischen Demokratien fräst, ohne dafür legitimiert zu sein.
Kann man sich in einem Zustand, in der die EU eine abstrakte, von politischen Prozessen entkernte, supranationale Hülle für Governance Strukturen geworden ist, anstatt eine echte bürgernahe, europäische Demokratie, darüber beschweren, wenn andere Mächte die „Steuerung“ in Europa übernehmen, und hier ihre Interessen ausleben?
Wenn „die USA“ ihre Stellvertreterkriege – in denen es, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, neben der kolportierten Absicht, „Russland zu zerschlagen“, im Wesentlichen um wirtschaftliche Interessen, vor allem um gute Böden in der Ukraine geht – in die Mitte Europas pflanzen? Wenn „die Chinesen“ von Belgrad über Budapest mit ihren Infrastrukturprojekten bis ins Herz Europa vorstoßen? Wenn „die Russen“ Europa jetzt in militärische Panik versetzen?
Wessen Schuld ist es, wenn Europa seine Selbstschädigung betreibt, sich ökonomisch und sozial ausnehmen lässt, sich auseinanderdividieren lässt, kein Rückgrat hat, sich nicht emanzipiert, nicht souverän ist, sich nicht wehren kann oder will gegen Missbrauch, kurz: wenn Europa ein suizidales Verhalten an den Tag legt, ja, wenn Europa Selbstmord begeht?
Was – fast würde ich sagen wollen: zum Teufel – ist in uns Europäer gefahren, dass wir heute 2024, am 9. Mai, an dem wir drei historische Daten feiern, so nackt dastehen? Genauer: dass Europa gar nicht mehr dasteht, sondern schon zerfallen ist und in seinem Wesenskern, zerbröselt ist, ohne das wir es zu bemerken scheinen, zu thematisieren wagen, zu trauern bereit sind…..
Denn, und hier erlauben Sie mir bitte, etwas persönlich zu werden: es gab Chancen, Gelegenheiten, Zeitfenster. Es gab Bemühungen, große Politiker, Entwürfe.
1993 bin ich, 30-jährig, auf Max Kohnstamm getroffen, den ehemaligen Berater von Jean Monnet. Auf einer Autofahrt erzählte er mir, wie er in einer Art Shuttle Diplomatie in den 1950er und 1960er Jahren von Stalin zu Wehner, von De Gaulle zu Adenauer oder Andreotti gejettet ist, um die institutionelle Einigung Europas zu forcieren, so dass mir fast schwindelig wurde. Und ob Jean Monnet jetzt Agent der CIA oder nicht war, ist relativ egal: die Absichten der einen sind die Chancen der anderen. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing haben den Ecu als Vorläufer des Euro als Projekt währungspolitischer Unabhängigkeit von den USA konzipiert; Helmut Kohl und Francois Mitterrand haben, mit Delors zusammen, die einheitliche europäische Akte, dann den Binnenmarkt, dann den Euro gemacht und die politische Union auf die Schiene gebracht. Das Schäuble-Lamers Papier von 1994, das ist heute genau 30 Jahre her, war ein kühner, kluger Entwurf für ein demokratisch geeintes Europa. Es ging um Mehrheitsentscheidungen, die Durchbrechung der nationalstaatlichen Repräsentanz, die Aufwertung des Europäischen Parlamentes. Der europäische Bürgerbegriff wurde begründet, es sollte um mehr gehen als um ein „market citizenship“, eine Marktbürgerschaft. „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, hat Jacques Delors immer gesagt, „wir müssen Europa eine Seele geben“, und gemeint war eine politische Seele. Der gleiche Delors der immer wieder und wieder versucht hat, neben dem Euro eine Sozialunion zu etablieren und der 1992 auch den Karlspreis bekommen hat: zurecht! Aus meinem Erleben kann ich diesen Personen nicht absprechen, dass sie sich ehrlich um ein demokratisches, bürgernahes Europa bemüht haben. Aber sie haben es nicht geschafft.
Ich wünschte, ich könnte Geist und Debatten über Europa der 1990er Jahre noch einmal einfangen, für die heutige Jungend U-30: es gab Aufbruchstimmung, der europäische Pass, die bordeauxrote Hülle wurde geschaffen, das europäische Hochschulinstitut gegründet, Beethovens 9. Sinfonie zur europäischen Hymne: „Alle Menschen werden Brüder….“ Es hat dem Kontinent gut getan, es war eine fiebrige Stimmung, die Vorstellung, nach dem Mauerfall könnte ganz Europa einig und frei werden, war ansteckend, Populismus war noch ein Fremdwort.
Nicht, dass die europäischen Projekte – Binnenmarkt, Euro, Ost-Erweiterung – ein Ponyritt gewesen wären. Nein, es gab zähe, strittige Debatten. Aber Europa hatte eine Vorstellung von sich selbst, ein Ziel, vor allem das Ziel, eine politische Gemeinschaft zu werden. Und darin war es damals weiter als heute! Im Vorfeld der europäischen Verfassung von 2003 wurden Bücher geschrieben über La question de l’état européen[4], die Frage eines europäischen Staates. Habermas und Derrida füllten die Feuilletons mit Debatten über eine europäische Verfassung. Etienne Balibar stellte die Frage: Sommes nous des Citoyens Européens? Sind wir europäische Bürger? Oder sind wir als europäische Bürger noch in „nationalen Containern“? Joschka Fischer sprach in seiner legendären Humboldtrede vom Mai 2000 über die Europäische Avantgarde, sogar die Briten erwogen unter Tony Blair eine Teilnahme am Euro. Das ist rund zwanzig Jahre her und hätte ich es nicht selbst erlebt, ich würde es heute selbst nicht mehr glauben.
In unserem Buch „Endspiel Europa“ beschreiben Hauke Ritz[5] und ich detailliert, wie ab dem Moment, wo Europa eigentlich kurz vor seiner Apotheose, seiner Vollendung stand – Erweiterung, Euro, Verfassung – also um die Jahrtausendwende, das europäische Projekt ab da eigentlich nur noch den Abhang der Geschichte herunterrutscht ist.
In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts reihen sich Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Pandemie und jetzt der Krieg in und um die Ukraine aneinander. Europa wurde zu einer einzigen Krisenerzählung. Der amerikanische Einfluss auf diese Geschehnisse – Bankenkrise oder Maidan – ist nicht zu negieren. Aber immer ist die Geschichte dialektisch, immer gibt es die Gegenbewegung, die Europa aus dem Geist des Widerstandes denkt und nicht zum Spielball äußerer Interessen werden lassen möchte.
Nach der Bankenkrise formte sich vor allem unter jungen Leuten der Diskurs über das andere Europa, une autre Europe. Aber noch gibt es öffentliche oder akademische Debatte und relevante Gruppen, die Vorschläge unterbreiten, z.B. die Reformvorschläge der sog. „Glienicker Gruppe“ von 2013 oder diejenigen der „Groupe Eiffel“ von 2014. Der Begriff des europäischen Bürgers gewinnt an Fahrt, die ersten transnationalen Parteien – DiEM oder VOLT – formieren sich, der Pulse of Europe ist auf den Straßen. Es gibt den ersten bürgerbasierten Widerstand gegen das, was Bruno Amable in seinem Buch „Le Blog Bourgeois“[6] nennt, also im Zuge der Bankenkrise vor allem jugendlichen Widerstand gegen das neoliberale Europa und die Governance-Strukturen des Euro. Noch Jean Claude Juncker, Karlspreisträger von 2006, legt, nachdem er 2014 EU-Kommissionspräsident wurde, 2016 ein Weißbuch zur Reform der EU vor. Auch dieses Weißbuch verschwindet in der Schublade der Geschichte.
Auch die Rolle Deutschlands, genauer: die von Angela Merkel, in diesen Jahren die Demokratisierung der europäischen Strukturen zu verhindern, werden die Historiker auch Doch was ich erzählen möchte: wir hatten unsere Chance, es gab in Europa Akteure, die über die europäische Zukunft nachgedacht haben, die ein politisch geeintes Europa wollten. Auch Emmanuel Macron, der 2018 noch davon sprach, dass die NATO „Hirntod“ ist, und der heute Bodentruppen in die Ukraine schicken möchte (dazu mehren sich Berichte, dass die franz. Ehrenlegion schon in der Ukraine ist, was eine Verletzung europäischer Vertragsgrundlagen wäre, die im Rahmen des Kriegsgeschehens ein Dammbruch für eine direkte europäische Beteiligung sein könnte), hat nach Amtsantritt zunächst mehrere gute europäische Reden vorgelegt. 2018 war ich dabei, dort in jenem Rathaus, in dem heute der Karlspreis an den europäischen Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt verliehen wird – den Beitrag des Judentums zum kulturellen Erbe Europas möchte ich hier ausdrücklich hervorheben und Rabbi Goldschmidt zum Karlspreis gratulieren – wo der Bürgermeister von Aachen, Marcel Philipp, Emmanuel Macron in den Karlspreis einführte, mit den Worten – aus dem Kopf zitiert – er sei sicher, dass Macron endlich eine deutsche Antwort auf seine europäischen Vorschläge bekommen würde: Démocracie, unité, souveraineté en Europe: Demokratie, Einigkeit und Souveränität für Europa. Emmanuel Macron war der erste Staatschef, der von europäischer Demokratie für die europäischen Bürger, nicht mehr von Integration gesprochen hat. Und von europäischer Souveränität statt nationaler Souveränität. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Laudatio. Die Nervosität des ganzen Saales war zum Greifen, bevor Angela Merkel sie einer belanglosen Rede aus dem Saal entweichen ließ wie Luft aus einem Luftballon, den man einfach loslässt, und der dann wild zappelt, bevor er schlaff auf den Boden plumpst. Bürgermeister Philipp war die Enttäuschung anzusehen. Deutschland hatte nicht auf Frankreich geantwortet. Das deutsch-französische Tandem war gestorben, der letzte Versuch, ein politisches Europa zu Wege zu bringen, abgewürgt.
In der Retrospektive war die zweite Dekade in diesem Jahrhundert wohl das entscheidende Tauziehen zwischen den Ideen eines bürgerbasierten, anderen Europas und dem Emporkommen des europäischen Populismus: Europa erlebte die PiS in Polen, Orban in Ungarn, den Brexit. Das Gespenst des europäischen Populismus ging um, ein Konflikt, ein Diskurs indes, der mit nationalstaatlichen Konturen nichts mehr zu tun hat, sondern auf eine Art europäischen Bürgerkrieg verweist, der zwischen Stadt und Land, reich und arm, jung und alt, Ost und West usw. verläuft.
Beide Gruppen, die Verfechter einer europäischen Demokratie und die europäischen Populisten, teilen, dass sie gegen die EU sind, aber für Europa. Also für ein Europa jenseits der EU! Die einen strebten die Vollendung der europäischen Demokratie an; die anderen die Rückkehr zu nationaler Souveränität, solange es keine europäische Demokratie und keine europäische Souveränität gibt. Die Europawahlen in genau einem Monat werden zeigen, dass letztere wohl vorerst gewinnen werden. Aber vielleicht – oder hoffentlich – nur vorerst?
Denn die Frage der europäischen Souveränität ist immer noch der große weiße Elefant auf dem Tisch der EU. Wenn wir die europäische Souveränitätsfrage lösen wollten, müssten wir verstehen, dass Souveränität nach außen – also europäische Handlungsfähigkeit – und Souveränität nach innen – also die Legitimität eines politischen Systems – mit einander verwoben sind. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das habe ich im Januar 2022 noch für einen bekannten Think Tank in Brüssel ausargumentiert; das Papier ist inzwischen von der Webseite verschwunden.
Und, zweitens, müssten wir verstehen, dass die europäische Souveränität weder bei der EU liegt, noch bei den Nationalstaaten, sondern das Souveränität immer vom Volke ausgeht, genauer von den Bürgern, in diesem Fall den europäischen Bürgern.
Sie alleine wären die Größe, die eine europäische Demokratie formen, die sich auf gleiches Recht jenseits von Herkunft und Identität einigen könnten, die den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger fordern könnten, um endlich aus den ‚nationalen Rechts-Containern“ herauszutreten, ganz so, wie Altiero Spinelli sich das 1941 vorstellte. Würden sie das tun, würden die europäischen Bürger genau über jene Brücke gehen, die ich versucht habe, zu umreißen, jene Brücke von europäischer Integration, die die Staaten gestalten, zu europäischer Demokratie, und auf dem Grundsatz gleichen Rechtes eine Republik begründen. Nicht alles wäre besser, aber Europa einen wichtigen Schritt gegangen. Hoffen wir also, dass sich Europa, wenn es aus dem bevorstehenden Krieg 2034 vielleicht wieder hervor kommt und sich wieder besinnt, Europa sein zu wollen, die alten Texte noch einmal liest, versteht, welche falschen Abbiegungen die EU im 20. Jahrhundert genommen hat, und als regionale, föderale Bürgerrepublik noch einmal sein Glück im 21. Jahrhundert versucht.
[1] www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[2] Frank Nieß, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, edition Suhrkamp, Frankfurt 2001
[3] Vgl.: https://www.cvce.eu/de/obj/das_manifest_von_ventotene_1941-de-316aa96c-e7ff-4b9e-b43a-958e96afbecc.html
[4] Jean Marc Ferry, La Question de l’état Européen, PuF, Paris 2000
[5] Hauke Ritz und Ulrike Guérot
[6] Bruno Amable, Le Blog Bourgeois
Videoaufzeichnung der Veranstaltung:
Online-Flyer Nr. 830 vom 15.05.2024
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Fotogalerien
Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland", Aachen, 9. Mai 2024
In einer Zeit, in der der Dritte Weltkrieg droht
Von Arbeiterfotografie
"Liebe Freundinnen und Freunde des Friedens, in einer Zeit, in der Kriegs-Minister Pistorius redet von 'Kriegstüchtigkeit, Führungsfähigkeit, Wehrpflichtfähigkeit, für den Kriegsfall optimal aufgestellt, groß angelegter Einsatz gegen eine Großmacht mit hoch intensivem Gefecht, Aufwuchsfähigkeit, Innovationsüberlegenheit, Kriegsversorgung' und Putin mit Hitler vergleicht; dieser Minister laut Umfragen der 'beliebteste' sei; die russische Botschaft in Berlin eine Note der Bundesregierung erhält, laut der die Teilnahme russischer Vertreter an Gedenkveranstaltungen zum 79. Jahrestag der Befreiung der KZ-Häftlinge unerwünscht ist; die Landesanwaltschaft des Freistaats Bayern am 'Tag der Pressefreiheit' einem Professor der Universität München mitteilt, ihm würden seine Dienstbezüge um ein Zehntel gekürzt, weil er mehrfach eine Kolumne in der Zeitung 'Demokratischer Widerstand' veröffentlicht habe; Deutsche Politiker 'den Ukraine-Krieg nach Russland tragen' wollen; nicht nur der französische Präsident Macron fordert, Truppen aus EU-Ländern in die Ukraine zu schicken; der britische Außenminister Cameron sagt, die Ukraine habe das Recht, Ziele in Russland mit britischen Waffen anzugreifen; der Generalbundesanwalt die geplante Zerstörung der russischen Krimbrücke durch deutsche Taurus-Marschflugkörper vom Artikel 51 der UN-Charta gedeckt sieht; in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gefordert wird, 'russisches Vermögen, soweit es in Europa eingelagert ist, für Waffenlieferungen an die Ukraine zu verwenden'; 90.000 NATO-Soldaten mit dem Manöver 'Steadfast Defender', davon 12.000 Bundeswehrsoldaten mit dem Manöver 'Quadriga 2024' den Krieg gegen Russland proben; in der der Dritte Weltkrieg droht, wollen wir an dem Tag, an dem Russland dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gedenkt, also heute, 'dem Wahnsinn etwas entgegensetzen' und für 'Gute Nachbarschaft mit Russland' eintreten! Wir haben auch allen Grund dazu!" Mit diesen Worten leitet Dr. Ansgar Klein die Kundgebung der Aachener Bürgerinitiative "Gute Nachbarschaft mit Russland" am 9. Mai 2024 ein. ArbeiterfotografInnen haben sie für die NRhZ dokumentiert.
1 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
2 NATO raus – Raus aus der NATO
3 NATO raus – Raus aus der NATO – Diplomatie statt Waffen und Sanktionen
4 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
5 Vortrag aus einem Interview der NachDenkSetien mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew
6 Freiheit für Julian Assange
7 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
8 Gute Nachbarschaft mit Russland
9 NATO raus – Raus aus der NATO
10 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
11 Druschba – Freundschaft
12 Dr. Ansgar Klein, Michael Aggelidis, Prof. Ulrike Guerot und Wolfgang Effenberger
13 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
14 Michael Aggelidis, Prof. Ulrike Guerot und Wolfgang Effenberger
15 Diplomatie statt Waffen und Sanktionen – Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es so weitergeht!
16 Wolfgang Effenberger und Prof. Ulrike Guerot
17 Die Russen kommen: wir brauchen Euch
18 Vortrag aus einem Interview der NachDenkSetien mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew
19 NATO raus – Raus aus der NATO
20 Freiheit für Julian Assange
21 NATO raus – Raus aus der NATO
Fortsetzung der einleitenden Rede von Dr. Ansgar Klein:
Vor zwei Tagen hat der alte und neue Präsident der russischen Föderation Wladimir Putin u.a. folgendes gesagt: „Wir lehnen den Dialog mit den westlichen Ländern nicht ab. Sie haben die Wahl: Wollen sie weiterhin versuchen, die Entwicklung Russlands zu bremsen, die jahrelange Politik der Aggression und des Drucks auf unser Land fortsetzen, oder einen Weg der Zusammenarbeit und des Friedens suchen?“
Zu unserem „Weg der Zusammenarbeit und des Friedens“ haben wir prominente Redner eingeladen, die wir hier und jetzt herzlich begrüßen: Prof. Ulrike Guérot, eine glühende Europäerin, was sie u.a. mit dem 2014 von ihr gegründeten „European Democracy Lab“ und ihrem 2016 erschienen Buch „Warum Europa eine Republik werden muss – Eine politische Utopie“ bewiesen hat. Weil sie nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch zur derzeitigen politischen Lage immer klare, kritische Worte geäußert hat, ist sie bei den „Herrschenden“ in Ungnade gefallen. Chapeau! dass Sie nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, den Mut haben, hier zum Thema „Gute Nachbarschaft mit Russland“ öffentlich aufzutreten! Herzlich willkommen, Ulrike Guérot!
Michael Aggelidis! Er ist stellvertretender Landesvorsitzender der Partei dieBasis in NRW. Er hat nicht nur beim diesjährigen Ostermarsch in Düsseldorf eine viel beachtete Rede gehalten; er ist auch in Aachen aufgetreten, und zwar im Sommer 2020 bei einer unserer Kundgebungen gegen die „Corona-Maßnahmen“ auf dem Willy-Brandt-Platz. Herzlich willkommen, Michael Aggelidis!
Wolfgang Effenberger! Er war Pionierhauptmann der Bundeswehr, hat dort sozusagen am eigenen Leib das NATO-Unwesen erfahren und ist zu einem nimmermüden Publizisten zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik geworden. Hervorheben möchte ich seine letzten Bücher: „Schwarzbuch EU & NATO – Warum die Welt keinen Frieden findet“ und „Die unterschätzte Macht – Von Geo- bis Biopolitik – Plutokraten transformieren die Welt“. Herzlich willkommen: Wolfgang Effenberger!
Wir hätten gerne auch einen Vertreter der russischen Botschaft als Redner gewonnen, was uns leider nicht gelungen ist. Doch gibt es dank der NachDenkSeiten ein bemerkenswertes Interview mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew, aus dem wir gleich einen Ausschnitt vortragen werden. – Die NachDenkSeiten sind übrigens auf einer Internet-Filter-Liste jugendgefährdender Inhalte gelandet.
Rede von Michael Aggelidis:
„Freundinnen und Freunde des Friedens und der Demokratie, ich zitiere aus der Tagesschau aus der Weizsäcker-Rede zum Kriegsende im Wortlaut „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ (Stand: 08.05.2015 14:00 Uhr). Einleitende Worte der Tagesschau: „Richard von Weizsäcker war der erste Bundespräsident, der den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Seine Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag (…) gilt als ein Meilenstein in der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland. tagesschau.de dokumentiert sie im Wortlaut.“ Soweit die Tagesschau. Ob die das heute auch noch so formulieren würde?
Jetzt Weizsäcker: „(…) Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn? Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. (…)“ Soweit der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Heute, am Jahrestag des Sieges über die Hitlerbarbarei überbieten sich die Politiker der regierenden politischen Klasse der Altparteien in antirussischer Rhetorik und Aussagen, die die Schlussfolgerung erlauben, dass hier aktive Kriegsvorbereitung betrieben wird. Wir sagen dazu: Nicht mit uns! Unsere Kinder kriegt Ihr nicht!
Vielmehr ist historische Erinnerung politisch richtig: Die UdSSR hatte 27 Millionen Tote zu beklagen, ob Soldaten der Roten Armee, Partisanen, die im Hinterland der Font gegen die Mordkommandos der Hitler’schen Sondereinheiten kämpften oder die Zivilisten, die in Leningrad unter der Blockade der Wehrmacht verhungerten, um hier nur ein Kriegsverbrechen der Nazis zu nennen. Die Sowjetunion trug die Hauptlast des Krieges und der anschließende Sieg der Alliierten wäre ohne diesen Kampf im Großen Vaterländischen Krieg – wie ihn die Russen nennen – unmöglich gewesen.
Die heute aus zahlreichen Politikeräußerungen der Ampel herauszuhörende – ich formuliere das jetzt sehr höflich – Russophobie ist jedenfalls ein politisch metastasierendes Krebsgeschwür in einer freien und demokratischen Gesellschaft. Wie ist es möglich, so frage ich, dass eine solche Geschichtsvergessenheit und Verantwortungslosigkeit durch unsere politische Klasse, assistiert durch die Staats- und Konzernmedien praktiziert wird?
Denn wenn diese Politiker dazu auffordern, Kommandostäbe und Ministerien in Russland anzugreifen, müsste es eigentlich Ermittlungsverfahren wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges geben, wenn, ja wenn es nicht diese unselige Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft exakt durch diese Politik gibt, die für eben diese anzuklagenden Straftaten die Verantwortung tragen, liebe Freundinnen und Freunde! Klar ist, wir benötigen in Deutschland vielmehr eine unabhängige Staatsanwaltschaft, die wie in Italien kriminellen Politikern das Handwerk legen kann, liebe Freundinnen und Freunde!
Auch die so genannte CDU ‚Opposition‘ kann es kaum noch erwarten, Taurus in die Ukraine zu liefern und damit Russland zu zwingen, Deutschland als Kriegsbeteiligte zu betrachten. Damit schaden diese Leute unserem Land, sie schaden dem Frieden und das wird immer mehr Menschen deutlich – und das ist gut so!
Unlängst haben sich nicht nur Ungarn und Slowenien gegen eine offizielle Beteiligung mittels Truppen in der Ukraine ausgesprochen, sondern auch der italienische Verteidigungsminister. Aber Leute wie der US-Demokraten-Fraktionschef Jeffries wollen eine direkte Beteiligung von US-Truppen zur Rettung des korrupten und kriminellen Kiewer Regimes. Und wisst Ihr, warum der das sagt und er damit viele Gesinnungskumpane in der EU hat, in zahlreichen europäischen Regierungen? Weil er und seine Kinder nie an die Front gehen würden und weil er und Seinesgleichen glauben, sie würden mit heiler Haut davonkommen, weil andere für ihre Profitinteressen sterben sollen. Und das macht uns wütend! Und deshalb sagen wir und ich wiederhole mich gerne: unsere Kinder kriegt Ihr nicht! Wir werden Euch die Waffen aus der Hand schlagen!
By the way: wer will denn nach den verlorenen Kriegen der USA in Vietnam, in Afghanistan, in Syrien und jetzt gegen die Houthis – zum Teil also gegen Barfußkrieger – allen Ernstes von einer echten militärischen Chance der US – Truppen ausgerechnet gegen die Russische Armee halluzinieren? Und wir als Deutsche sollen Spalier stehen und den US -Truppen zujubeln, wenn die Richtung Osten fahren und unseren eigenen Untergang demütig hinnehmen? Nein! Das werden wir Deutsche nicht! Nicht noch einmal!
Um es mit Jeffrey Sachs, dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler, der die UN berät, zu sagen: fast alle europäischen Politiker lügen. Ihre Hauptlüge ist der Umstand, dass Russland Deutschlands Feind sei, Russland für so gut wie alles Übel verantwortlich ist und wir das Richtige täten, wenn wir Russland bekämpfen. Der Niedergang Deutschlands, vor Allem der industrielle, aber auch der kulturelle und politische Niedergang unseres Landes, auch Europas wird mit einer beispiellosen medialen Hetze und Desinformation begleitet. Die Neocons der USA treiben einen Keil zwischen uns und Russland und bedrohen damit Frieden, Wohlstand und Zukunft unseres Landes. Deutschland muss sich dagegen zur Wehr setzen Liebe Freundinnen und Freunde!
Unsere industrielle Zukunft liegt in der Kooperation mit Russland, China und den anderen BRICS – Staaten! Wer das negiert, wer das bestreitet, meint es nicht ehrlich und belügt Deutschland und seine Bürgerinnen und Bürger.
Die US-Regierung unternimmt nämlich große Anstrengungen, Industrie aus Deutschland abzuwerben. Noch merken wir scheinbar nichts davon, lediglich die Nennung von Insolvenzen und gestrichenen Arbeitsplätzen schaffen es in die Schlagzeilen der Staats- und Konzernmedien. Es ist im Grunde genommen gleich, von welcher Seite wir dieses Problem betrachten, der Dreh und Angelpunkt, der Ausgangspunkt des Abstiegs Deutschlands ist die Vasallentreue gegenüber dem transatlantischen Hegemon und damit muss jetzt Schluss sein!
Liebe Freundinnen und Freunde, es gibt mit Sicherheit eine Veränderung in der Geopolitik, die Frage ist nur, ob Deutschland als Mitgewinner auf dem BRICS – Zug mitfährt oder den industriellen Niedergang hinnimmt. Ich meine: Im Interesse unseres Landes müssen wir uns mit aller Entschiedenheit gegen diesen gewollten und beabsichtigten Niedergang stemmen!
Dieser ist von unseren transatlantischen Eliten gewollt und bewusst herbeigeführt. Der französische Historiker und Soziologe Emmanuel Todd sieht bereits den bevorstehenden Untergang des Westens, verursacht u.a. durch die bevorstehende Niederlage der USA und der NATO in der Ukraine. Er kommt er zu dem Schluss, dass die Niederlage schließlich in einer Aussöhnung Russlands mit Europa und einer Annäherung an Deutschland gipfeln wird, was den Wünschen der Vereinigten Staaten zuwiderläuft. Klingt das utopisch? Schaut man sich die aktuelle Hysterie an, kann man das für eine riskante Äußerung halten. Für mich und für viele Menschen in Deutschland ist das jedoch eine große Hoffnung! Aber dafür müssen wir kämpfen, geschenkt bekommen wir diese Entwicklung nicht!
Ich erinnere an ein historisches Beispiel: am 16. April 1922 trafen sich im idyllischen Badeort von Rapallo in Italien die Vertreter Sowjetrusslands und Deutschlands zu so genannten Pyjama-Konferenz, während parallel eine Weltwirtschaftskonferenz lief. Als am nächsten Morgen die schockierten Vertreter der Angelsachsen ins Plenum kamen, präsentierten der damalige Außenminister Rathenau, Reichkanzler Joseph Wirth und der russische Außenminister Tschitscherin den Kooperationsvertrag zwischen beiden Mächten, die nach dem 1 Weltkrieg dadurch ihre internationale Isolation beendeten und wirtschaftlich kooperierten. Damals war dieser Vertrag eine Herzensangelegenheit des gesamten deutschen Bürgertums – und natürlich der KPD. Und warum, so frage ich, sollte so etwas nicht auch heute möglich sein, sicher unter anderen Vorzeichen, aber auch mit großen Möglichkeiten? Möglichkeiten für Arbeitsplätze, für große Gewinne, für Frieden! Für kluge Unternehmer also jede Menge Chancen – ganz im Gegensatz zur jetzigen Politik, die Deutschland ruiniert! Wann endlich gibt es im Bürgertum, so frage ich, einen Aufstand, wann endlich einen Kurswechsel, weg von der Nibelungentreue des Transatlantismus hin zu einem souveränen Deutschland, dass mit seinem großen Nachbarn im Osten in Frieden prosperiert?
Wir müssen eine Regierung anstreben, die einen Aufnahmeantrag zu BRICS stellt – auch wenn das nach jetzigen Maßstäben illusorisch erscheint. Aber dahin, liebe Freundinnen und Freunde, muss der Diskurs letztlich gehen.
Lasst uns diesen Kampf um Frieden und Gerechtigkeit weiterführen! Beenden wir die unfassbar geschichtsvergessene Kriegspolitik der deutschen Bundesregierung, die kein Problem damit hat, dass auf ukrainischen Panzern Hakenkreuze und Bandera-Flaggen prangern und die ihre Waffenlieferungen an die rechtsextreme Regierung Netanjahu in diesem Jahr vervielfacht hat. Nur wer innerlich souverän ist und frei von Bevormundung, der kann freie Entscheidungen treffen: für die Wiederaufnahme der Gas- und Öllieferungen aus Russland, für die Wiederbelebung des deutschen Mittelstands und der Entlastung der Verbraucher und der privaten Haushalte. Wer innerlich souverän ist, kann politische Entscheidungen treffen: für die Kündigung aller Truppenverträge, für den Abzug der US-Soldaten aus Deutschland, für den Austritt aus der militärischen Integration der NATO, denn in der politischen Abteilung der NATO wollen wir die Transatlantiker noch eine Weile ärgern – und dann wickeln wir den ganzen verdammten Laden ab!
Rede "Der 9. Mai 2024 – ein denk- und geschichtswürdiger Tag" von Wolfgang Effenberger
Der heutige 9. Mai fällt nicht nur auf Christi Himmelfahrtstag, sondern steht auch für drei geschichtsträchtige Ereignisse: Die seit 1950 jährliche Karlspreisverleihung in Aachen, der Europa-Tag, der auf die Robert-Schumann-Erklärung vom 9. Mai 1950 zurückgeht, und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 im Berliner Stadtteil Karlshorst, ….an die alljährlich neben vielen Veranstaltungen an verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin mit …einer großen Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau erinnert wird – in diesem Jahr können sogar erbeutete deutsche Leopardpanzer präsentiert werden.
Bereits am 7. Mai 1945 unterzeichnete im US-Hauptquartier von General Dwight D. Eisenhower in Rääs Generaloberst Alfred Jodl – Chef des Wehrmachtführungsstabes, eine Kapitulationsurkunde. Die Waffen sollten am nächsten Tag ruhen. Die US-Amerikaner waren am 6. Juni 1944 auf dem europäischen Kriegsschauplatz gelandet, die Sowjetunion war am 22. Juni 1941 von der Wehrmacht überfallen worden.
Die Sowjettruppen hatten allein in der Schlacht um Berlin mehr Gefallene als die USA in Gesamteuropa. [i] Die Gesamtverluste der Sowjetunion werden mit über 25 Millionen beziffert. Darin sind an die drei Millionen russische Gefangene enthalten, die in Deutschland entweder durch Genickschussanlagen oder durch Vernichtung mittels Arbeit ermordet worden sind.
Ebenso beschämend ist die Belagerung des damaligen Leningrad durch die deutsche Heeresgruppe Nord. Die Belagerung dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. 28 Monate oder 872 Tage unvorstellbaren Leids.
Es war ein Teil des Vernichtungskriegs im Osten und somit „ein genozidaler Akt, bei dem rund 1,1 Millionen Menschen gestorben sind“ [ii], die Stadtbevölkerung sollte gezielt ausgehungert werden. Das war ein Kriegsverbrechen, zudem stand die Stadt unter ständigem Artilleriebeschuss. [iii] Vor diesem Hintergrund ist die Forderung Stalins auf eine deutsche Kapitulation im Hauptquartier von Feldmarschall Georgi Schukow in Karlshorst zu verstehen. Und so unterschrieben dann am 9. Mai 1945 – kurz nach Null Uhr – in Karlshorst Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel als ranghöchster deutscher Soldat sowie die Befehlshaber der Teilstreitkräfte vor den vier 4 Siegermächten die bedingungslose Kapitulation. Damit war der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet. [iv]
In den letzten Jahren kam es immer wieder wegen antirussischer Ausschreitungen an den verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin zu großen Polizeieinsätzen. 2024 wird wieder mit erheblicher Polizeipräsenz im Treptower Park und am Tiergarten gerechnet. [v] Laut Wikipedia wird der 9. Mai als Europa-Tag in Erinnerung an die Schuman-Erklärung von 1950 als Ursprung der Europäischen Union gefeiert. Der Stabschef des französischen Außenministers hatte jedoch später erklärt: »Alles begann in Washington« [vi].
Am 9. Mai 1950 traf der US-Außenminister Dean Acheson in Paris mit seinem französischen Kollegen Robert Schuman und dem französischen Vizeministerpräsidenten Georges Bidault zusammen. Anschließend verkündete Schuman: „Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, … so daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.“ [vii]
Diese Erklärung, deren Urheber US-Außenminister Acheson war, steht im Zusammenhang mit Kriegsvorbereitungen – wie immer, wenn Energie und Stahl für kommende Kriege gebündelt werden. Sieben Wochen vor der Schuman-Erklärung, am 16. März 1950, hatte sich Winston Churchill für einen deutschen Verteidigungsbeitrag ausgesprochen. Und nur wenige Monate nach der Schuman-Erklärung wurde die »Dienststelle des Bevollmächtigten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« eingerichtet – dahinter verbarg sich nichts anderes als die Vorbereitung zur Wiederbewaffnung der BRD.
Ein Jahr zuvor, am 4. April 1949, war die NATO gegründet worden. Laut Lord Ismay, dem 1. Generalsekretär, mit der Absicht, „Amerika drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.“ [viii] Im Bündnisvertrag wird die Einsicht verlangt, dass Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit sind. Daher auch der Marshallplan. Nur wenige Monate später, am 19. Dezember 1949, verabschiedeten die USA den Kriegsplan »Dropshot«, mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte.
In der »Grundannahme« heißt es wörtlich: »Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.« Daraufhin sollten 300 Atombomben und zigtausende hochexplosiver Bomben abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt.
Als dann jedoch 1957 der Satellit Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für DROPSHOT wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.
Für mich war es 1999 unvorstellbar, dass sich die Bundesrepublik Deutschland erstmals an einem Krieg, und dann auch noch an einem völkerrechtswidrigen Angriff beteiligt! Nachdem die USA für den Krieg gegen Rest-Jugoslawien kein UN-Mandat bekamen, änderten sie kurzerhand ihre Strategie und mandatieren seither ihre Kriege selbst.
Die Vereinten Nationen sind obsolet geworden – stattdessen beruft man sich auf eine diffuse, exklusive „regelbasierte Ordnung“ und damit auf ein imperiales Faustrecht. Nun soll Deutschland angesichts der sich militärisch ausweitenden Konflikte kriegstüchtig werden. Die Entwicklung, für die der so genannte Wertewesten hauptverantwortlich ist, zielt auf Krieg gegen Russland und China.
Diese absehbare Gefahr brachten wenige Monate nach dem Maidan-Putsch Anfang 2014 Willy Wimmer und ich im Vorwort zu „Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute“ zum Ausdruck: „die gleichen Kreise, die vor hundert Jahren nationale Konflikte für ihre Interessen instrumentalisierten, sind heute wieder am Werk. Wieder wird bedenkenlos gepokert und dabei billigend die Gefahr eines Weltkriegs und damit neues unermessliches Leid in Kauf genommen“. [ix]
Im September 2014 setzte das Pentagon die Langzeitstrategie TRACOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020 -2040“ in Kraft. Darin wurden Heer, Marine und Luftwaffe auf die künftigen Konflikte eingestimmt: An erster Stelle wird die Bedrohung durch Russland und China genannt, dann die durch Iran und Nordkorea und erst zum Schluss die Bedrohung durch transnationale Terroristen.
Im US-Strategiepapier vom Oktober 2022 nannte US-Präsident Biden als Hauptziele:
- Abbau der wachsenden multidisziplinären Bedrohung durch China
- Abschreckung der von Russland ausgehenden Herausforderung in Europa
- Ausschluss jedes Verzichts auf einen nuklearen Erstschlag.
Stand das serbisch dominierte Rest-Jugoslawien der NATO-Osterweiterung im Weg? Oder hatte es sich zu sehr an China gebunden, wie der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vermuten lässt?
Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien, Ukraine usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange kein Ende finden wird, bis die Triebkräfte, die in den Ersten Weltkrieg geführt haben, aufgedeckt sind und die Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung münden.
Vor Beginn der Münchner Sicherheits-Konferenz 2024 unterschrieben der deutsche Kanzler und der ukrainische Präsident ein auf zunächst 10 Jahre befristetes Sicherheitsabkommen samt Ankündigung eines milliardenschweren Militärhilfepakets.
Eingangs verurteilen darin beide Länder – ich zitiere: „auf das Schärfste den ungerechtfertigten, unprovozierten, illegalen und brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, durch den Russland in gravierender Weise gegen das Völkerrecht einschließlich der UN-Charta verstößt.
Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“ gebunden. [x]
Dieses „Sicherheitsabkommen“ wurde unmittelbar nach der Unterzeichnung wirksam. Damit ist Deutschland auf Gedeih und Verderb an das Schicksal der Ukraine gekettet. Der Eingangssatz lässt jedes diplomatische Geschick vermissen und wird nicht nur die Hardliner im Kreml gegenüber Deutschland unversöhnlich stimmen. Deutschland hat jetzt aus Russland keine Zurückhaltung mehr zu erwarten.
Wie konnte der deutsche Kanzler Olaf Scholz einen für die BRD so existenzbedrohenden Pakt unterschreiben? Sollte die Ukraine auf dem Schlachtfeld in die Knie gezwungen werden, könnte sich der Krieg zu einem umfassenderen regionalen Konflikt ausweiten, in den auch andere europäische Verbündete der Vereinigten Staaten verwickelt werden. [xi] Dieses Szenario wurde schon am 28. Februar 2023 bei der US-Senatsanhörung zum Ukraine-Krieg angedacht:
Senator Rick Scott befragte den 3-Sterne-General Keith Kellogg: „Aber warum hat Deutschland nicht seinen Teil zur tödlichen Hilfe beigetragen?“ „Ich glaube“, so der General“, Deutschland spielt in Europa im Moment keine Rolle mehr“. Anschließend schwärmte der General dem Senator vor: „Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein strategischer Gegner vom Tisch, und wir können uns auf das konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das ist im Moment China…. wenn wir dabei scheitern, … müssen wir vielleicht einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal.“ [xii]
Nun, die USA scheitern gerade in der Ukraine! Kommt nun der dritte große europäische Krieg? Die USA scheinen in einer Situation zu sein, in der als Ausweg nur noch der umfassende Krieg gesehen werden kann. Wieso verschließt sich der deutsche Kanzler den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen? Dass sich seit 2015 in jedem Jahr die NATO-Militärmanöver weiter bis ins Gigantische gesteigert haben, kann ihm nicht entgangen sein! Dazu die unsägliche Kriegsrhetorik der NATO-Generalsekretäre Rasmussen und Stoltenberg. Bertolt Brecht verfasste 1951 einen „Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller“. Angesichts der Remilitarisierung der jungen Bundesrepublik warnte er vor einem Dritten Weltkrieg: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ [xiii]
»Der ›Internationale Karlspreis zu Aachen‹, der 1950 erstmals vergeben wurde, ist der älteste und bekannteste Preis, mit dem Persönlichkeiten oder Institutionen ausgezeichnet werden, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben«, heißt es bedeutungsschwer auf der Homepage der Stiftung, die den Preis alljährlich vergibt. Weiter ist dort zu lesen: »Zum Namensgeber für den Preis wurde Karl der Große, der als erster Einiger Europas gilt und der Ende des achten Jahrhunderts Aachen zu seiner Lieblingspfalz wählte; damit wurde eine Brücke zwischen europäischer Vergangenheit und Zukunft geschlagen.« [xiv]
Karl der Große als Vorbild für ein geeintes und friedliches Europa? Karl wurde am Weihnachtsfest des Jahres 800 nach alttestamentlicher Sitte von Papst Leo III. gesalbt und gekrönt. Seine Anrede lautete: „Allergnädigster, erhabener, von Gott gekrönter, großer, friedebringender Kaiser, der das Römische Reich regiert und durch Gottes Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden ist.“
Es war also kein deutsches oder fränkisches Reich entstanden, sondern das westliche Imperium Romanum. Folglich kann Karl der Große nicht als Mentor eines geeinten Europas dienen. Auch findet sich weder bei seinem Biografen Einhard noch in den Reichsannalen des karolingischen Hofes ein Wort zu Europa. Von Europa sprachen anscheinend eher gebildete Fremde, Iren und Angelsachsen. Kaiser Karl war bei Dänen, Polen, Ungarn, Griechen oder Russen nicht sonderlich beliebt.
Und die Sachsen setzten sich über 32 Jahre lang gegen die unerbittlichen Unterwerfungs- und Christianisierungsfeldzüge Karls zur Wehr, in denen sie die Absicht einer Frankisierung wie auch der Zerschlagung ihrer demokratischen Stammesstrukturen erkannten. Erst zur Zeit Napoleons nahmen die Vorstellungen von Europa Kontur an. Nachdem Napoleon die Lombardei erobert hatte, glaubte sich in der Tradition Karls: »Ich bin Karl der Große.« [xv]
Angesichts der Macht Napoleons skizzierte der deutsche Romantiker Friedrich Schlegel 1810 das Bild von Karl als »Gesetzgeber für das ganze abendländische Europa. [xvi] Selbst im Dritten Reich erfuhr Karl Anerkennung. In seinen Tischgesprächen im Führerhauptquartier bat Hitler seinen Chefideologen Alfred Rosenberg, »einen Heroen wie Karl den Großen nicht als Karl den Sachsenschlächter zu bezeichnen. Geschichte müsse immer aus ihrer Zeit heraus verstanden werden«. [xvii] Für ihn war Karl der erste Einiger aller germanischen Stämme und der erste Schöpfer eines »vereinigten Europas«. Karl gelangte nun zu der fragwürdigen Ehre, Namensgeber für die 1. Französische SS-Waffen-Grenadierdivision »Charlemagne« zu werden. [xviii]
Das braune Regime missbrauchte den großen Franken als integrierende Symbolgestalt für die eigene europäische Machtchimäre. »Karl der Europäer« überstand den Zusammenbruch von 1945 jedoch unbeschadet. Die beeindruckende Aachener Karlsausstellung des Europarats von 1965 galt »dem ersten Kaiser, der Europa zu vereinen wusste« [xix] – mithin einem Leuchtturm. Aber der leuchtet nicht. Der Mythos vom großen Europäer stammt vor allem von nationalsozialistischen Geschichtsschreibern, die den mittelalterlichen Kaiser zum Urahn eines von Hitler geeinten Kontinents machten. Jährlich zu Christi Himmelfahrt wird der Internationale Karlspreis zu Aachen an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen. Der erste Preisträger war Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, am 18. Mai 1950, »in Anerkennung seiner Lebensarbeit für die Gestaltwerdung der Vereinigten Staaten von Europa«. [xx]
1925 war sein umstrittenes Werk „Praktischer Idealismus“ erschienen, eine krude Mischung aus puritanischer Arbeitsethik und marxistischer Heilserwartung.
Propagiert wird ein heroischer Aktionismus mit dem Ziel der völligen Vereinheitlichung der Weltbevölkerung und der totalen technischen Beherrschung der Erde im Sinne einer „Aristokratie der Gesinnung“, die zu einer sozialen Entwicklung ohne Kriege führen soll. Der naive Glaube an den „heroischen Willen“ im Kampf für das Heil der Menschheit bescherte Europa im 20. Jahrhundert die aggressiven Machtstrukturen kollektiver Zwangssysteme – Nationalsozialismus und Stalinismus.
Coudenhoves Vision kann einen das Gruseln lehren: „Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. … Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen“ [xxi]
Die Edlen, entstanden aus der Zuchtwahl nach den »göttlichen Gesetzen erotischer Eugenik«, sollen die Massen führen. Die abendländische Kultur mit ihrer Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten soll orientalisiert, das Volk umerzogen werden: »Ein pazifiziertes und sozialisiertes Abendland wird keine Gebieter und Herrscher mehr brauchen – nur Führer, Erzieher, Vorbilder. In einem orientalischen Europa wird der Zukunftsaristokrat mehr einem Brahmanen und Mandarin gleichen als einem Ritter.«
Coudenhove geißelte den moralischen Verfall sowohl im Kapitalismus als auch im Kommunismus, hoffte aber in naiv-platonischer Manier auf eine »Aristokratie des Geistes«. [xxii] Seine Analyse der Demokratie als Fassade der Geldherrschaft klingt allerdings geradezu aktuell: „… weil die Völker nackte Plutokratie nicht dulden würden, wird ihnen die nominelle Macht überlassen, während die faktische Macht in den Händen der Plutokraten ruht. In republikanischen wie in monarchischen Demokratien sind die Staatsmänner Marionetten, die Kapitalisten Drahtzieher: sie diktieren die Richtlinien der Politik, sie beherrschen durch Ankauf der öffentlichen Meinung die Wähler, durch geschäftliche und gesellschaftliche Beziehungen die Minister.« [xxiii]
Coudenhove-Kalergis »praktischen Idealismus« könnte man als eine der vielen romantischen Gesellschaftsutopien abtun, hätte er nicht eine so fatale politische Wirkkraft entfaltet. 2008 erhielt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel den begehrten Preis. In ihrer Dankesrede betonte sie, dass die höchsten irdischen Güter, »Freiheit, Menschlichkeit und Frieden« immer wieder aufs Neue zu hegen und zu pflegen seien. Nur 6 Jahre zuvor hatte sie als CDU-Chefin eindringlich für eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg geworben. Anfang Dezember 2022 gab die Karlspreisträgerin Merkel ohne jede Scham zu, dass das Abkommen von Minsk nur dazu diente, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine aufzurüsten: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben … Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“ [xxiv]
Und der Karlspreisträger Emmanuel Macron ist gewillt, Truppen in die Ukraine zu schicken. Auch er hatte nichts unternommen, um das Minsk-Abkommen umzusetzen und damit Frieden in die Ukraine zu bringen. So wenig Karl der Große ein friedenbringender Kaiser war, sind es heute die demokratisch gewählten Repräsentanten.
Dabei haben im Vergleich zu Merkel & Macron die beiden größten Europäer Charles de Gaulle & Willy Brandt keinen Karlspreis bekommen. Sie erinnern sich: De Gaulle wies die NATO aus Frankreich und von Willy Brandt stammt der Ausspruch: „Ohne Frieden ist alles andere NICHTS“. Nun taumelt die europäische Union in eine Katastrophe, die sich seit mindestens 10 Jahren ankündigt. Und Deutschland ist bei einem 3. Weltkrieg Aufmarschgebiet und zentrale Drehscheibe. Gute Nachbarschaft mit Russland ist daher für uns überlebenswichtig.
[i] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1184660/umfrage/amerikanische-verluste-waehrend-des-zweiten-weltkrieges/
[ii] https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/
[iii] Ebda.
[iv] https://www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/blog/...
[v] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/russland-von-kz-gedenkfeier-ausgeladen-was-heißt-das-für-den-9-mai-in-berlin/ar-AA1njdO6?ocid=BingNewsSerp
[vi] Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen 2020, S. 131
[vii] Ebda.
[viii] Ebda., S. 122f.
[ix] Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: Wiederkehr der Hasardeure. Höhr-Grenzhausen 2014, S. 18
[x]www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[xi] Ebda.
[xii] https://www.congress.gov/118/crec/2023/02/28/169/38/CREC-2023-02-28-dailydigest.pdf; https://www.youtube.com/watch?v=tmmPHvlbdwI
[xiii] www.deutschlandfunk.de/vor-70-jahren-als-bertolt-brecht-den-offenen-brief-an-die-100.html
[xiv] 1 www.karlspreis.de
[xv] Vgl. Döbber/Roith: Karl, der große Europäer? Ein dunkler Leuchtturm. In: Leben und Lernen in der EU, www. schulseiten.de/jvfg/page.php?page=geschichte_geschichte_3
[xvi] Zit. wie www.nrhz.de/flyer/beitrag. php?id=22793
[xvii] Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche. Frankfurt a. M. 1993, S. 166
[xviii] Zit. wie Döbber/ Roith: Karl, der große Europäer? A. a. O.
[xix] Zit. wie www.spiegel.de/spiegel/ print/d-21197891.html
[xx] Zit. wie www.karlspreis.de/de/preis traeger/richard-nikolaus-graf-coudenho- ve-kalergi-1950/vita
[xxi] Coudenhove-Kalergi, R. N.: Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus. Wien/ Leipzig 192, S. 23
[xxii] Coudenhove-Kalergi 1925, S. 33
[xxiii] Ebda., S. 39
[xxiv] https://www.wsws.org/de/articles/2022/12/20/merk-d20.html
Redemanuskript von Prof. Ulrike Guérot (frei gespochen):
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bekannte und Freunde, liebe Zuschauer & Zuhörer, auch ich freue mich sehr, heute an diesem besonderen Tag, diesem doppelten Gedenktag, zum einen an die deutsche Kapitulation am 9. Mai 1945 und zum zweiten an die Europäische Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950, zu Ihnen sprechen zu können; zwei Gedenktage, die erstmalig und einmalig mit der feierlichen Verleihung des Karlspreises heute am 9. Mai 2024 zusammenfallen, der wiederum seit 1950 vergeben wird.
Das ist viel Geschichte, es sind viele historisch aufgeladene Daten – Wolfgang Effenberger hat sie Ihnen gerade aufgefächert – die in einer rund 20-minütigen Rede kursorisch zu kommentieren fast unmöglich ist. Zumal wir – nach 70 Jahren Frieden in Europa, Frieden, den wir Europa verdanken, denn Europa, das hieß viele Jahrzehnte #niewiederKrieg – jetzt wieder in einer Zeit leben, von der man schon jetzt sagen kann, dass sie historisch aufgeladen ist, eine Zeit, in der jeder den politischen Umbruch, die Zäsur fühlen kann, und schließlich eine Zeit, in der man den Krieg am Horizont buchstäblich riechen kann, wie ein Gewitter: Deutschland müsse jetzt „kriegstüchtig“ werden, so heißt es, Macron wiederum sagte gegenüber dem Economist, dass er an einem möglichen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine festhalte. Während die EU sich nicht aufraffen kann, andere Kriege angemessen zu verurteilen und in ihren Erklärungen mit Blick auf Gaza nicht einmal den Begriff „Cease Fire“ auf Papier bekommt.
Ich möchte vorschieben, dass meine Einladung zum einen sehr spontan erfolgte, erst letzten Sonntag, so dass ich Ihnen keine historisch ausgefeilte Rede wie Wolfgang bieten kann, dafür war die Zeit zu knapp.
Und dass es zum Anderen für mich etwas ungewöhnlich ist, hier draußen, sozusagen vor dem Aachener Rathaus zu sprechen, denn mehrere Male war ich Gast bei der Verleihung des Karlspreises, zum Beispiel 2017, als der Preisträger der britische Historiker – und Freund von mir – Timothy Gaton Ash aus Oxford war; oder 2018, als der Karlspreis an den damals frisch gewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron vergeben wurde, der kurz nach Amtsantritt 2017 mehrere wichtige europäischen Reden an der Sorbonne oder in Athen gehalten hat. Darauf werde ich zurückkommen.
Deswegen möchte ich mich eher auf ein paar persönliche Erinnerungen beschränken, Erinnerungen an das Europa in den 1980er und 1990er Jahren, an meine Zeit bei Jacques Delors, den großen Kommissionspräsidenten von 1985 bis 1995, an die damalige Aufbruchstimmung in eine Politische Union, an die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses von Michael Gorbatchov, an die Idee einer europäischen Sicherheitsarchitektur mit Russland. Kurz: ich möchte erinnern an die Ambitionen, die Absichten, und die Träume, die man damals von einem einigen, friedlichen und prosperierenden Europa hatte. Ich möchte kurz skizzieren, welche Debatten darüber geführt wurden, in knappen Sätzen nachzeichnen, wo die EU m.E. falsch abgebogen ist, wann die EU die Sympathien und das Wohlwollen der europäischen Bürger verloren, ihre Ziele verfehlt, ihr demokratisches Antlitz verspielt hat, und heute offenbar dabei ist, ihr Erbe und ihren Auftrag – nämlich ein Friedensprojekt zu sein – in den Mülleimer der Geschichte zu schreddern und zwar vor unseren Augen, in unserer Zeit!
In dem die EU jenen europäischen Wesenskern schreddert – Frieden – den der französische Autor Laurent Gaudet in seinem großartigen Epos „L’Europe – un banquet des Peuples“, so beschreibt: „Ce que nous partageons, c’est que nous étions tous burreau et victime.“ Was wir in Europa teilen, ist, dass wir alle zugleich Opfer und Schlächter waren.“ Die europäische Einigung sollte dazu führen, dass wir daraus Lehren ziehen, durch eine gemeinsame, friedenssichernde föderale Ordnung. Jetzt werden die Staaten der EU seit geraumer Zeit immer mehr in ein Kriegsgeschehen hineingezogen, oder bereiten sich gar aktiv drauf vor: man könne ja nicht anders. Der imperialistische Putin allein sei schuld, eine Mitverantwortung des Westens wird kategorisch ausgeschlossen, obgleich viele Argumente auf dem Tisch liegen, dass es eine solche gibt. Wir werden die Schulfrage den Historikern überlassen und hier nicht diskutieren, denn längst ist die Frage nicht mehr, wer zuerst angefangen hat. Sondern wer jetzt zuerst aufhört!
Auch wenn ich derzeit nicht mehr in Bonn bin, wer weiß – was das LAG Köln entscheidet – möchte ich Bertha von Suthner zitieren, deren Namen einer der großen Plätze in Bonn schmückt und die 1916 den Friedensnobelpreis bekommen hat für „Die Waffen nieder“. Das ist das, was jede Mutter sagt, wenn zwei Kinder sich streiten: „Es ist mir egal, wer angefangen hat. Ihr hört jetzt beide sofort auf.“ Denn am Anfang ging es noch um gelb-blaue Fahnen, Solidarität und Helme. Dann um Panzer, dann um Luftabwehrraketen. Inzwischen liegt die atomare Bedrohung in der Latenz, mit der Putin droht, nachdem im September 2022 die damalige britische Außenministerin schon bereit war, to push the nuclear button.
Um das zu betonen: unbestritten geht es um einen „russischen Angriffskrieg“. Ob er „völkerrechtswidrig“ ist, dazu gibt es bereits erste Diskussionen unter Juristen. Aber an der Eskalationsspirale drehen zwei, und nicht nur einer! Wie General Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr sagt: seit den am Unwillen des Westens (!) gescheiterten Friedenverhandlungen vom April 2022 ist der Westen mitverantwortlich für den Krieg. Und ich habe in den letzten Monaten keine EU gesehen, die – würdig des Friedensnobelpreises, der ihr 2012 verliehen wurde – alles, aber auch alles getan hätte, Frieden und Diplomatie zu forcieren.
Im Gegenteil. Die einseitige und hohe finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine von inzwischen insg. rund 107 Mrd Dollar, die auf dem Dezember Gipfel 2023 der EU beschlossen wurde, das unhaltbare (jeder weiß es!) Versprechen einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine und in der Tat jene verhängnisvolle Verkettung des deutschen Schicksals mit dem ukrainischen durch die vertragliche Bindung vom 16. Februar 2024, die Wolfang schon zitiert hat („Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“[1]) und die zehn Jahre Gültigkeit hat, also bis 2034 (!!!), sind wohl Ausdruck dafür, dass die EU, dass die europäischen Staaten, mit einer mir unverständlichen Lust auf Selbstschädigung offenbar lieber auf Jahre den Krieg und den militärischen Konflikt riskieren, auf den sie sich sichtlich vorbereiten, anstatt den Frieden zu gestalten. Weil man nicht eingestehen kann, dass man sich verkalkuliert hat, weil man zu lange erzählt hat, dass Putin den Krieg nicht gewinnen darf, ohne zu spezifizieren, was das denn eigentlich heißen soll? Und das, obwohl deutsche oder auch amerikanische Generäle und Experten wiederholt zum Ausdruck bringen, dass dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist; obgleich sich die Berichte über den Zusammenbruch der ukrainischen Front häufen und die ukrainischen Männer zuhauf desertieren.
War das nicht genau diese europäische Kriegserfahrung, die der Franzose Boris Vian in seinem wunderbaren Lied „Le Deserteur“ , einem Kleinod europäischer Chanson-Kunst, zum Ausdruck gebracht hatte: Wenn Sie Soldaten möchten, Herr Präsident, dann schicken Sie ihre eigenen Söhne… heißt es in dem Lied. Als es zum erstem Mal 1954 im französischen Radio gespielt wurde, wurde es sofort zensiert und dann bis Ende des Algerienkrieges 1962 verboten. Kriegszeiten sind Zensurzeiten – auf beiden Seiten der Front!!! Über den Frieden zu sprechen ist, ihn zu fordern ist auch heute schon wieder hart an der Grenze der Strafbarkeit in Deutschland und Europa.
Wie kann es sein, dass wir 2024 wieder da sind, wo wir 1954, vor siebzig Jahren schon einmal waren, und sich z.B. die polnische Regierung damit rühmt, ukrainische Männer in Polen aufzuspüren und zurück an die Front zu schicken, u.a. zur Verteidigung einer ukrainischen nationalen Souveränität und territorialen Unversehrtheit, die indes ein Kunstprodukt der jüngeren Geschichte ist, wie alle Grenzen in Europa entweder ein Kunstprodukt oder das Ergebnis blutiger Kämpfe aus dem letzten Jahrhundert sind: ob das Elsass Französisch oder Schlesien Deutsch oder Tirol Italienisch ist: darüber wurden die Schlachten im 20. Jahrhundert geführt, bevor durch eine föderale Ordnung in Europa die nationalen Grenzen durchlässig wurden und es nicht mehr so wichtig war, zu welchem Land eine bestimmte Region gehört.
Genau das war nach dem Mauerfall mit der Charta von Paris von 1990 auch die Idee für Osteuropa: eine föderale Ordnung mit Russland, eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der die nationale Zuordnung einzelner Regionen nicht mehr so wichtig ist, weil die Grenzen des europäischen Kontinentes durchlässig sind und die europäischen Völker in Frieden unter dem Dach einer kooperativen, föderalen, europäischen Ordnung leben, anstatt nationale Grenzen und Territorien durch Krieg zu verteidigen und den Schutz voreinander zum einzigen Ziel zu erheben, wo dich der Friede unteilbar ist.
Die Frage nämlich, ob z.B. die Krim russisch oder ukrainisch ist, ist, ist genauso schwer zu beantworten wie die Frage ob das Elsass Deutsch oder Französisch ist. Alle europäischen Staaten sind im Kern multiethnisch, multireligiös und multinational, alle haben unterschiedliche Regionen. Wenn sie Elsässer fragen, ist das Elsass, jenseits seiner staatlichen Zugehörigkeit, einfach elsässisch. Und während im Donbass das Russische gerade aus den Schulbüchern entfernt wird, wird das elsässische in den dortigen Schulen neben dem französischen gerade wieder eingeführt. Wozu wurde siebzig Jahre erzählt, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten sei? Es steht noch in jedem Schulbuch über die EU….. wollen wir diese Schulbücher jetzt umschreiben?
Ausgerechnet Wolodymir Selenski hat letztes Jahr den Karlspreis bekommen hat, eine Entscheidung, die mich, ehrlich gesagt, verdutzt hat, weil ich keine „herausragenden Bemühungen im Bereich der europäischen Einigung“ in seinem Lebenswerk erkennen konnte, die doch das Aachener Preiskomitee verlangt, außer dass sein Land das Motiv dafür bereitstellt, die EU ausgerechnet in einem Krieg zu einen. Manchmal glaube ich, ganz Europa ist derzeit in einem Spielfilm, dessen Titel in Memoriam von James Dean heißt: Denn sie wissen nicht, was sie tun…. Für mich ist es derzeit neben den sinnlosen Toten an der Front das Schlimmste, dass Europa nicht in den Spiegel schauen kann; und nicht in die Texte, die seine Gründungsdokumente sind, so sehr müsste es sich schämen.
Eine in den Osten ausgedehnte, regionale, föderale Ordnung wäre die europäische Antwort auf das Kriegsgeschehen. Neben dem Verrat am Frieden ist es die vermeintliche Verteidigung einer ahistorischen ‚nationalen Einheit‘ der Ukraine, die diesen Krieg so unerträglich uneuropäisch macht: während die EU behauptet, ihre Werte zu verteidigen, in dem sie diesen Krieg im Namen der nationalen Einheit der Ukraine führt, versuchen Schottland, Katalonien oder Korsika gerade, nationale Einheiten zu durchbrechen. Wollen wir mit der EU zurück ins 20. Jahrhundert?
„Europa: Die Zukunft der Geschichte?“, so hieß eine große Ausstellung über Europa in Zürich schon 2015. Wir müssen also kurz zurück in die Geschichte, um die heutigen Fehlstellungen der EU zu erkennen, bevor ich zum Abschluss ein paar Ideen vorstellen möchte, damit Europa in eine andere europäische Zukunft findet, als eine Rückkehr in seine blutige Geschichte.
Inzwischen – „Verschwörungstheorien“ sind ja derzeit in Mode – sind viele, im Übrigen gute historische Bücher im Umlauf, die das Projekt der europäischen Einigung seit 1950, jener Erklärung von Robert Schuman, an die wir heute am 9. Mai erinnern, nicht mehr als Friedensprojekt beschreiben, das nach den Schrecken des 30-jährigen europäischen Krieges (Philipp Blom) von 1914 bis 1945, inklusive Holocaust beschämt auf der Taufe gehoben wurde, sondern die es von Anfang an als amerikanisches Projekt beschreiben, gestartet und gestaltet u.a. mit dem Marshall Plan. Kurz: die USA hätten die europäische Idee stets in ihrem Sinn gesteuert. Das ist mir zu flach, wiewohl es sicher eine Seite der Medaille ist. Vielmehr erscheint die Geschichte der EU als ein umschlungener Pfad, oszillierend zwischen europäischen Ambitionen und auswärtiger Einflussnahme, USA oder CIA hin oder her.
Denn es gab – und gibt vielleicht noch? – eine andere Idee von Europa, eines Europas, geboren aus dem Geist des Widerstandes, wie es in dem gleichnamigen Buch von Frank Nieß[2] heißt, nämlich genau jene Idee eines friedlichen, föderalen, regionalen, sozialen und vor allem bürgerbasierten Europas jenseits nationalstaatlicher Zuordnungen, dessen Protagonist der ersten Stunde der legendäre italienische anti-Faschist Altiero Spinelli gewesen ist, der wiederum bis in die 1980er Jahre Mitglied des Europäischen Parlamentes war, und Co-Autor des europäischen Manifestes von Ventone 1941. Darin heißt es: „Die erste Aufgabe, die angepackt werden muss, und ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt auf dem Papier bleibt, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen.“ [3] Wenig später heißt es im sog. Hertensteiner Programm von 1946 in Punkt 5: „Die Europäische Union steht allen Völkern europäischer Wesensart, die ihre Grundsätze anerkenne, offen.“ Ferner heißt es dort unter Punkt 8: „Die Europäische Union richtet sich gegen niemanden und verzichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht zu sein.“ Wohlgemerkt: in den Texten, die damals den europäischen Geist atmeten, ging es also um europäische Völker, nicht um Staaten! Und es ging um die Entsagung von einem Machtanspruch. Das geflügelte Wort von Jean Monnet lautete: „L’Europe, nous ne coalisons pas des états, mais nous unissont des hommes.“ Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrieren, sondern Menschen zu einen.
Die EU aber hat, und darauf wird als einen ihrer zentralen Webfehler zurückzukommen sein, stets versucht, Staaten zu integrieren – durch einen Binnenmarkt oder eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Verteidigungspolitik oder eine Klimapolitik – und nicht wirklich versucht, Europa als Bürgerprojekt zu begreifen, als Projekt einer gemeinsamen europäischen Demokratie und nicht Integration. Deswegen konnte die EU bis heute nicht zu einer eigenständigen Souveränität gelangen und leidet an einem Demokratiedefizit, das wiederum der Nährboden für die heutigen populistischen Parteien ist, die zwar die EU angreifen, die aber nicht unbedingt gegen ein geeintes Europa sind. In dieser Differenz zwischen EU und Europa, zwischen Bürgern und Staaten, zwischen europäischer Integration und europäischer Demokratie sind vielleicht die Lösungen zu suchen, um Europa im 21. Jahrhundert anders zu gestalten. Denn wenn die EU heute vielen als „usurpiert“ erscheint, von wem auch immer – den USA oder Konzernen – dann konnte das nur passieren, weil die demokratische Bindung der Bürger zum europäischen Projekt nie richtig vorhanden war.
Auch Frank Nieß beschreibt schon akribisch für die 1940er Jahre, wie das europäische Projekt und die vielfältigen europäischen Bewegungen aller Ortens in der Nachkriegszeit, vor allem in den Jahren 1945 bis 1949, also vor der Erklärung von Robert Schuman, zum Spielball von Einflussnahmen wurde: Einflussnahmen der USA ebenso wie der Briten, von Stalin genauso wie von ökonomischen Akteuren. Um Europa und das, was es sein sollte, gab es also stets Gezerre, nach dem II. Weltkrieg und bis in die jüngere und jüngste Geschichte. Quo vadis, Europa? Welches Europa? Europe at the crossroads? ist eine millionenfach gestellte Frage.
Wie ein roter Faden zieht sich in Europa die Frage nach Bundesstaat oder Staatenbund, nach Föderation oder Union, nach nationaler oder europäischer Souveränität – also letztlich die Frage: wer entscheidet in Europa, wer ist der Souverän? – durch die europäische Geschichte, auch durch die über 70-jährige Geschichte der EU. Und damit vor allem die Frage: entscheiden die Europäer selber über ihr Schicksal, ihre Werte und ihre geostrategischen und ökonomischen Interessen und wenn ja, wie machen sie das zusammen? Oder entscheiden „auswärtige Mächte“?
Die europäischen Bibliotheken sind randvoll mit juristischen Analysen über die Versuche einer europäischen Verfassung, über die europäischen Verträge von Rom bis Maastricht, über Reformbemühungen und Regierungskonferenzen von Amsterdam über Nizza und von Laeken bis Lissabon. Nach über 70 Jahren Integration ist die Bilanz der EU ernüchternd. Wir, die Europäer, die europäischen Bürger, haben es nicht geschafft, im demokratischen Sinn Herr des europäischen Projektes zu werden, und die europäische Einigung so zu bauen, so zu vollenden, wie es damals in den Texten des Nachkriegseuropas angedacht oder auch erträumt war. Und zwar unabhängig davon, was die USA vielleicht gewollt oder gesteuert haben. Denn die unbestrittenen Interferenzen der USA sind nur die eine Seite. Die andere ist, bis heute, was wir Europäer aus und auf dem europäischen Kontinent machen wollen?
Wenn wir eine andere Zukunft in Europa wollen als die Geschichte, müssen wir das Nachdenken über Europa im 21. Jahrhundert mit dieser Frage beginnen, genauer: fortsetzen. Il faut cultiver son jardin, man muss seinen Garten hegen, pflegte Voltaire zu sagen. Wir haben den europäischen Garten nicht gehegt! Wir haben ihn verwildern lassen.
Das eigentliche Problem für mich ist, dass wir jedes öffentliche Nachdenken darüber, was wir mit und auf diesem Kontinent zusammen machen wollen, jede konstruktive institutionelle Debatte über die EU, ihre Governance-Strukturen etc. seit Jahren eingestellt haben. Es geht nicht mehr darum, dass wir Änderungen am europäischen Gefüge nicht mehr umsetzen oder implementieren können, sondern dass wir praktisch keine institutionellen Änderungswünsche an der EU mehr denken, artikulieren und politisch debattieren können. Die großen Debatten aus der Ära Delors über les grands projets européen, die großen europäischen Projekte, sie sind dahin. Europa ist zu einer einzigen großen Krisenerzählung geworden, Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Krieg. Wer heute 20 Jahre alt ist, hat seit Jahren in der europäischen Medienlandschaft kein einziges positives Bild von Europa geliefert bekommen, obgleich das Leben jedes europäischen Bürgers zu großen Teilen durch die EU bestimmt und reguliert ist.
Muss man sich dann wundern, dass die Afd, wie andere populistische Parteien, den Dexit, Öxit, Italexit, Polexit etc., fordern und die EU als unreformierbar bezeichnen? Ich, die ich in den letzten beiden Jahrzehnten auf hunderten solcher Reformkonferenzen beigewohnt habe würde dem beipflichten. Wir sind denkfaul geworden mit Blick auf die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie oder einer Verfassung; denkfaul mit Blick auf unseren kulturellen Beitrag in Zeiten des Transhumanismus, in denen die europäische Philosophie vielleicht mehr denn je gebraucht wird, und ebenso denkfaul mit Blick auf Europas Rolle in der Welt, in der zukünftigen, multipolaren Welt, die sich am Horizont abzeichnet und in der Europa keine Rolle mehr spielen wird, wenn nicht bald eine neue, zugkräftige Idee von sich selbst entwickelt.
Noch im Oktober 2023, es ist erst wenige Monate her, als einige Abgeordnete im Europäischen Parlament einen neuen europäischen Konvent planten, der 2025, nach den Europawahlen beginnen sollte, der Skizzen, Pläne und Entwürfe für ein Europa 2030/ 2035 machen sollte, um die bevorstehende Erweiterung der EU um die Balkanstaaten, die Ukraine oder die Türkei mit institutionellen Reformschritten zu begleiten, wurde dieser Vorstoß torpediert. In diesen Konvent sollten auch die 49 Bürgervorschläge für Europa, die im Rahmen einer einjährigen Bürgerbefragung der EU zwischen 2021 und 2022 entwickelt worden sind, eingebracht werden. Doch der Konvent wurde kassiert. Kein Zukunftsentwurf, keine Beratungen, kein Nachdenken. Niemand bedauert es, niemanden interessiert es, schlimmer noch: die wenigsten wussten davon. Wie aber soll Europa – und das sollte es ja ursprünglich – ein europäisches Gemeinwesen werden, wenn sich niemand dafür interessiert? Wenn es aber, und das ist mein Punkt, kein gelebtes, erlebtes, belebtes demokratisches Gemeinwesen wird, dann wird die EU (oder ist die schon!) zum Monster: Nous avons crée un monstre, sagte der berühmte französische Ökonom Thomas Piketty schon während der Bankenkrise. Aber niemanden scheint es zu stören, in einem Monster zu leben, ein Apparatus, der jetzt z.B. durch einen European Digital Service Act die Meinungsfreiheit in Europa weiter einschränkt, eine EU, die ihre Zugriffsrechte immer weiter – ich habe das schon 2016 geschrieben – in die europäischen Demokratien fräst, ohne dafür legitimiert zu sein.
Kann man sich in einem Zustand, in der die EU eine abstrakte, von politischen Prozessen entkernte, supranationale Hülle für Governance Strukturen geworden ist, anstatt eine echte bürgernahe, europäische Demokratie, darüber beschweren, wenn andere Mächte die „Steuerung“ in Europa übernehmen, und hier ihre Interessen ausleben?
Wenn „die USA“ ihre Stellvertreterkriege – in denen es, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, neben der kolportierten Absicht, „Russland zu zerschlagen“, im Wesentlichen um wirtschaftliche Interessen, vor allem um gute Böden in der Ukraine geht – in die Mitte Europas pflanzen? Wenn „die Chinesen“ von Belgrad über Budapest mit ihren Infrastrukturprojekten bis ins Herz Europa vorstoßen? Wenn „die Russen“ Europa jetzt in militärische Panik versetzen?
Wessen Schuld ist es, wenn Europa seine Selbstschädigung betreibt, sich ökonomisch und sozial ausnehmen lässt, sich auseinanderdividieren lässt, kein Rückgrat hat, sich nicht emanzipiert, nicht souverän ist, sich nicht wehren kann oder will gegen Missbrauch, kurz: wenn Europa ein suizidales Verhalten an den Tag legt, ja, wenn Europa Selbstmord begeht?
Was – fast würde ich sagen wollen: zum Teufel – ist in uns Europäer gefahren, dass wir heute 2024, am 9. Mai, an dem wir drei historische Daten feiern, so nackt dastehen? Genauer: dass Europa gar nicht mehr dasteht, sondern schon zerfallen ist und in seinem Wesenskern, zerbröselt ist, ohne das wir es zu bemerken scheinen, zu thematisieren wagen, zu trauern bereit sind…..
Denn, und hier erlauben Sie mir bitte, etwas persönlich zu werden: es gab Chancen, Gelegenheiten, Zeitfenster. Es gab Bemühungen, große Politiker, Entwürfe.
1993 bin ich, 30-jährig, auf Max Kohnstamm getroffen, den ehemaligen Berater von Jean Monnet. Auf einer Autofahrt erzählte er mir, wie er in einer Art Shuttle Diplomatie in den 1950er und 1960er Jahren von Stalin zu Wehner, von De Gaulle zu Adenauer oder Andreotti gejettet ist, um die institutionelle Einigung Europas zu forcieren, so dass mir fast schwindelig wurde. Und ob Jean Monnet jetzt Agent der CIA oder nicht war, ist relativ egal: die Absichten der einen sind die Chancen der anderen. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing haben den Ecu als Vorläufer des Euro als Projekt währungspolitischer Unabhängigkeit von den USA konzipiert; Helmut Kohl und Francois Mitterrand haben, mit Delors zusammen, die einheitliche europäische Akte, dann den Binnenmarkt, dann den Euro gemacht und die politische Union auf die Schiene gebracht. Das Schäuble-Lamers Papier von 1994, das ist heute genau 30 Jahre her, war ein kühner, kluger Entwurf für ein demokratisch geeintes Europa. Es ging um Mehrheitsentscheidungen, die Durchbrechung der nationalstaatlichen Repräsentanz, die Aufwertung des Europäischen Parlamentes. Der europäische Bürgerbegriff wurde begründet, es sollte um mehr gehen als um ein „market citizenship“, eine Marktbürgerschaft. „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, hat Jacques Delors immer gesagt, „wir müssen Europa eine Seele geben“, und gemeint war eine politische Seele. Der gleiche Delors der immer wieder und wieder versucht hat, neben dem Euro eine Sozialunion zu etablieren und der 1992 auch den Karlspreis bekommen hat: zurecht! Aus meinem Erleben kann ich diesen Personen nicht absprechen, dass sie sich ehrlich um ein demokratisches, bürgernahes Europa bemüht haben. Aber sie haben es nicht geschafft.
Ich wünschte, ich könnte Geist und Debatten über Europa der 1990er Jahre noch einmal einfangen, für die heutige Jungend U-30: es gab Aufbruchstimmung, der europäische Pass, die bordeauxrote Hülle wurde geschaffen, das europäische Hochschulinstitut gegründet, Beethovens 9. Sinfonie zur europäischen Hymne: „Alle Menschen werden Brüder….“ Es hat dem Kontinent gut getan, es war eine fiebrige Stimmung, die Vorstellung, nach dem Mauerfall könnte ganz Europa einig und frei werden, war ansteckend, Populismus war noch ein Fremdwort.
Nicht, dass die europäischen Projekte – Binnenmarkt, Euro, Ost-Erweiterung – ein Ponyritt gewesen wären. Nein, es gab zähe, strittige Debatten. Aber Europa hatte eine Vorstellung von sich selbst, ein Ziel, vor allem das Ziel, eine politische Gemeinschaft zu werden. Und darin war es damals weiter als heute! Im Vorfeld der europäischen Verfassung von 2003 wurden Bücher geschrieben über La question de l’état européen[4], die Frage eines europäischen Staates. Habermas und Derrida füllten die Feuilletons mit Debatten über eine europäische Verfassung. Etienne Balibar stellte die Frage: Sommes nous des Citoyens Européens? Sind wir europäische Bürger? Oder sind wir als europäische Bürger noch in „nationalen Containern“? Joschka Fischer sprach in seiner legendären Humboldtrede vom Mai 2000 über die Europäische Avantgarde, sogar die Briten erwogen unter Tony Blair eine Teilnahme am Euro. Das ist rund zwanzig Jahre her und hätte ich es nicht selbst erlebt, ich würde es heute selbst nicht mehr glauben.
In unserem Buch „Endspiel Europa“ beschreiben Hauke Ritz[5] und ich detailliert, wie ab dem Moment, wo Europa eigentlich kurz vor seiner Apotheose, seiner Vollendung stand – Erweiterung, Euro, Verfassung – also um die Jahrtausendwende, das europäische Projekt ab da eigentlich nur noch den Abhang der Geschichte herunterrutscht ist.
In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts reihen sich Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Pandemie und jetzt der Krieg in und um die Ukraine aneinander. Europa wurde zu einer einzigen Krisenerzählung. Der amerikanische Einfluss auf diese Geschehnisse – Bankenkrise oder Maidan – ist nicht zu negieren. Aber immer ist die Geschichte dialektisch, immer gibt es die Gegenbewegung, die Europa aus dem Geist des Widerstandes denkt und nicht zum Spielball äußerer Interessen werden lassen möchte.
Nach der Bankenkrise formte sich vor allem unter jungen Leuten der Diskurs über das andere Europa, une autre Europe. Aber noch gibt es öffentliche oder akademische Debatte und relevante Gruppen, die Vorschläge unterbreiten, z.B. die Reformvorschläge der sog. „Glienicker Gruppe“ von 2013 oder diejenigen der „Groupe Eiffel“ von 2014. Der Begriff des europäischen Bürgers gewinnt an Fahrt, die ersten transnationalen Parteien – DiEM oder VOLT – formieren sich, der Pulse of Europe ist auf den Straßen. Es gibt den ersten bürgerbasierten Widerstand gegen das, was Bruno Amable in seinem Buch „Le Blog Bourgeois“[6] nennt, also im Zuge der Bankenkrise vor allem jugendlichen Widerstand gegen das neoliberale Europa und die Governance-Strukturen des Euro. Noch Jean Claude Juncker, Karlspreisträger von 2006, legt, nachdem er 2014 EU-Kommissionspräsident wurde, 2016 ein Weißbuch zur Reform der EU vor. Auch dieses Weißbuch verschwindet in der Schublade der Geschichte.
Auch die Rolle Deutschlands, genauer: die von Angela Merkel, in diesen Jahren die Demokratisierung der europäischen Strukturen zu verhindern, werden die Historiker auch Doch was ich erzählen möchte: wir hatten unsere Chance, es gab in Europa Akteure, die über die europäische Zukunft nachgedacht haben, die ein politisch geeintes Europa wollten. Auch Emmanuel Macron, der 2018 noch davon sprach, dass die NATO „Hirntod“ ist, und der heute Bodentruppen in die Ukraine schicken möchte (dazu mehren sich Berichte, dass die franz. Ehrenlegion schon in der Ukraine ist, was eine Verletzung europäischer Vertragsgrundlagen wäre, die im Rahmen des Kriegsgeschehens ein Dammbruch für eine direkte europäische Beteiligung sein könnte), hat nach Amtsantritt zunächst mehrere gute europäische Reden vorgelegt. 2018 war ich dabei, dort in jenem Rathaus, in dem heute der Karlspreis an den europäischen Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt verliehen wird – den Beitrag des Judentums zum kulturellen Erbe Europas möchte ich hier ausdrücklich hervorheben und Rabbi Goldschmidt zum Karlspreis gratulieren – wo der Bürgermeister von Aachen, Marcel Philipp, Emmanuel Macron in den Karlspreis einführte, mit den Worten – aus dem Kopf zitiert – er sei sicher, dass Macron endlich eine deutsche Antwort auf seine europäischen Vorschläge bekommen würde: Démocracie, unité, souveraineté en Europe: Demokratie, Einigkeit und Souveränität für Europa. Emmanuel Macron war der erste Staatschef, der von europäischer Demokratie für die europäischen Bürger, nicht mehr von Integration gesprochen hat. Und von europäischer Souveränität statt nationaler Souveränität. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Laudatio. Die Nervosität des ganzen Saales war zum Greifen, bevor Angela Merkel sie einer belanglosen Rede aus dem Saal entweichen ließ wie Luft aus einem Luftballon, den man einfach loslässt, und der dann wild zappelt, bevor er schlaff auf den Boden plumpst. Bürgermeister Philipp war die Enttäuschung anzusehen. Deutschland hatte nicht auf Frankreich geantwortet. Das deutsch-französische Tandem war gestorben, der letzte Versuch, ein politisches Europa zu Wege zu bringen, abgewürgt.
In der Retrospektive war die zweite Dekade in diesem Jahrhundert wohl das entscheidende Tauziehen zwischen den Ideen eines bürgerbasierten, anderen Europas und dem Emporkommen des europäischen Populismus: Europa erlebte die PiS in Polen, Orban in Ungarn, den Brexit. Das Gespenst des europäischen Populismus ging um, ein Konflikt, ein Diskurs indes, der mit nationalstaatlichen Konturen nichts mehr zu tun hat, sondern auf eine Art europäischen Bürgerkrieg verweist, der zwischen Stadt und Land, reich und arm, jung und alt, Ost und West usw. verläuft.
Beide Gruppen, die Verfechter einer europäischen Demokratie und die europäischen Populisten, teilen, dass sie gegen die EU sind, aber für Europa. Also für ein Europa jenseits der EU! Die einen strebten die Vollendung der europäischen Demokratie an; die anderen die Rückkehr zu nationaler Souveränität, solange es keine europäische Demokratie und keine europäische Souveränität gibt. Die Europawahlen in genau einem Monat werden zeigen, dass letztere wohl vorerst gewinnen werden. Aber vielleicht – oder hoffentlich – nur vorerst?
Denn die Frage der europäischen Souveränität ist immer noch der große weiße Elefant auf dem Tisch der EU. Wenn wir die europäische Souveränitätsfrage lösen wollten, müssten wir verstehen, dass Souveränität nach außen – also europäische Handlungsfähigkeit – und Souveränität nach innen – also die Legitimität eines politischen Systems – mit einander verwoben sind. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das habe ich im Januar 2022 noch für einen bekannten Think Tank in Brüssel ausargumentiert; das Papier ist inzwischen von der Webseite verschwunden.
Und, zweitens, müssten wir verstehen, dass die europäische Souveränität weder bei der EU liegt, noch bei den Nationalstaaten, sondern das Souveränität immer vom Volke ausgeht, genauer von den Bürgern, in diesem Fall den europäischen Bürgern.
Sie alleine wären die Größe, die eine europäische Demokratie formen, die sich auf gleiches Recht jenseits von Herkunft und Identität einigen könnten, die den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger fordern könnten, um endlich aus den ‚nationalen Rechts-Containern“ herauszutreten, ganz so, wie Altiero Spinelli sich das 1941 vorstellte. Würden sie das tun, würden die europäischen Bürger genau über jene Brücke gehen, die ich versucht habe, zu umreißen, jene Brücke von europäischer Integration, die die Staaten gestalten, zu europäischer Demokratie, und auf dem Grundsatz gleichen Rechtes eine Republik begründen. Nicht alles wäre besser, aber Europa einen wichtigen Schritt gegangen. Hoffen wir also, dass sich Europa, wenn es aus dem bevorstehenden Krieg 2034 vielleicht wieder hervor kommt und sich wieder besinnt, Europa sein zu wollen, die alten Texte noch einmal liest, versteht, welche falschen Abbiegungen die EU im 20. Jahrhundert genommen hat, und als regionale, föderale Bürgerrepublik noch einmal sein Glück im 21. Jahrhundert versucht.
[1] www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[2] Frank Nieß, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, edition Suhrkamp, Frankfurt 2001
[3] Vgl.: https://www.cvce.eu/de/obj/das_manifest_von_ventotene_1941-de-316aa96c-e7ff-4b9e-b43a-958e96afbecc.html
[4] Jean Marc Ferry, La Question de l’état Européen, PuF, Paris 2000
[5] Hauke Ritz und Ulrike Guérot
[6] Bruno Amable, Le Blog Bourgeois
Videoaufzeichnung der Veranstaltung:
Online-Flyer Nr. 830 vom 15.05.2024
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