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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Kommentar
Erinnerungen eines Zeitzeugen anlässlich des Tags der Deutschen Einheit
Wir sind damals für etwas ganz anderes auf die Straße gegangen
Von Lutz Weber

Wir schreiben den 3. Oktober 2024. In Berlin wird wieder mit Champagner gefeiert. Für mich ist das eine befremdliche Situation, doch dazu noch später. Als erstes möchte ich etwas zu meiner Person sagen, um so einen Einblick in das Leben in der DDR der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts zu bekommen. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Nicht weit von Leipzig entfernt. Umringt von Tagebau und Industrieanlagen. Diese Industrieanlagen waren mehr als marode. Ein heruntergewirtschaftetes Land hatte nicht die Mittel, um derartige Anlagen zu modernisieren. Ich arbeitete in einer alten Brikettfabrik, und dort gab es staatlich zugeteilt pro Jahr 10 Tonnen Gusseisen für die Sanierung und Instandhaltung der Industrieanlage. Eine Brikettpresse wog ca. diese 10 Tonnen. Da aber auch Schieber und Ventile aus Guss bestehen, war an den Austausch dieser Pressen nicht zu denken.

Von außen sah man dann schwarze Wolken gen Himmel steigen, und meine Mutter plante das Aufhängen der Wäsche im Freien nach der Windrichtung. Der Wind trug, wenn er aus Richtung eines dieser Werke kam, Kohlenstaub mit sich, den man dann auf der Wäsche wieder fand. Das Atmen der Menschen konnte aber leider nicht nach der Windrichtung geplant werden. Kann Planwirtschaft überhaupt funktionieren? Ein Betrieb, der nach staatlichen Vorgaben vorbei am Bedarf produziert, kann wirtschaftlich nicht gut funktionieren. Es ist auf jeden Fall ein Leben mit Improvisation und Beziehungen. Du musst jemanden kennen, der an irgend etwas ran kommt.

Die Unzufriedenheit war allgegenwärtig. Man nahm es aber mit Humor. So gibt es ja auch positive Seiten, die der Mangel zur Folge hat. Diese Umstände stellten die Menschen nicht zufrieden, und so mancher, der mehr vom Leben erwartet, versucht zu fliehen. Eine Flucht in die Freiheit. Das Mittel gegen diese Massenabwanderung war der Schießbefehl. Wer nicht in diesem Land leben möchte, soll erschossen werden!

Im Jahr 1984 bekam ich, als fast 20 jähriger, den Einberufungsbefehl. Man musste sich auf dem Kreiswehrersatzamt in der Kreisstadt melden und fuhr von dort mit einem Sonderzug früh um 05:00 Uhr ins Ungewisse. In meinem Fall war das der Grenznahe Bereich im Harz. Ein riesiges Panzer-Bataillon, in dem man die jungen Soldaten für die Grenzüberwachung fertig machte.

Es waren wohl an die 1000 Soldaten, die mit mir auf dem mit Nebel verhangenen Appellplatz standen, als ein Soldat dem Major meldete: „Soldat Tarapazki hier, ich werde nicht auf Menschen schießen!“ Er hatte das noch nicht richtig ausgesprochen, dann trat auch ich einen Schritt nach vorn und meldete „Soldat Weber hier, auch ich werde nicht auf Menschen schießen, dazu kommt, dass auf der anderen Seite mein Cousin gerade bei der Bundeswehr seinen Dienst leistet und er denkt genau wie wir.“

Daraufhin versuchte man uns das Leben erst mal schwer zu machen. Aber viel schwerer als den restlichen Soldaten ging nicht so einfach. So wurden wir nach ca. zwei Wochen ins Landesinnere versetzt, und aus mir wurde ein Krankenpfleger im Militärlazarett. Es ist immer einfacher, der Obrigkeit seine eigenen Grenzen und rote Linie aufzuzeigen, als daran zu zerbrechen, wenn es kein zurück mehr gibt und diese rote Linie überschritten wird.

Nachdem ich aus der NVA entlassen wurde, stellte ich, wie schon so viele aus meiner Familie vor mir, den Ausreiseantrag. Meine Kinder sollten nicht in einer DDR-Schule staatlich Indoktriniert werden. Sie sollten als freie Geister aufwachsen können. Soweit jedenfalls mein damaliges Denken! Eines der wichtigsten Dinge die ich in dieser Zeit geerbt hatte, war eine Gesetzessammlung der aktuellen DDR-Gesetze. Für den normalen DDR-Bürger war das nicht so leicht zu bekommen. Ich hatte einen großen Freundeskreis, von denen sich keiner den Mund verbieten ließ.

Am 06.10.1989 kam eine Freundin zu mir und fragte: habt ihr nicht Lust, morgen mit nach Leipzig zu kommen? Die Bonzen feiern ihren „Tag der Republik“. Da gibt es bestimmt Proteste vor der Nikolaikirche. Also fuhren wir an diesem 07. Oktober 1989 nach Leipzig. Es war ein Samstag, der erst mal wie jeder andere wirkte. Die Menschen gingen in der Stadt Bummeln, gingen ins Restaurant, die Oper, das Gewandhaus oder in eins der vielen Theater. Leipzig war sehr kulturell geprägt. Um so näher wir an die Nikolaikirche kamen änderte sich allerdings die Situation.

Die Nikolaikirche war abgesperrt. Eine Polizeikette verhinderte, dass noch mehr Menschen zur Nikolaikirche durchkommen. Wir wussten, dass einige der Protestierenden in der Kirche sein müssen. Wir wussten, dass sich der Pastor der Kirche für deren Schutz stark macht. Was müssen sie in diesem Moment gedacht haben? Was müssen sie für Ängste ausgestanden haben?

Meine Freundin, meine Frau und ich standen vor der Polizeikette. Die Polizisten trugen Helme mit Plexiglas-Visier und hatten große Schilder in der Hand, welche ebenfalls aus Plexiglas bestanden. Mit diesen Schildern bildeten sie eine Art undurchdringliche Mauer. Plötzlich tauchten hinter den Polizisten Lastwagen auf und ein Polizeifahrzeug mit Lautsprecher. Dieser gab dann auch gleich die Anweisung „Fertig machen zum Zugriff“. Worauf die Polizisten ihren Gummiknüppel raus holten und im Takt auf ihre Schilder schlugen.

Das schallen der Schläge auf die Schilder wurde durch das Echo zwischen den hohen Häusern verstärkt und hatte eine beängstigende Wirkung. Ich musste damals an das Römische Imperium denken. Wurde aber jäh aus meinen Gedanken gerissen, als es durch den Lautsprecher brüllte: „Los schnappt sie euch!“

Die Polizisten jagten wie von Sinnen los und knüppelten jeden nieder, den sie bekommen konnten. Dann packten jeweils zwei Polizisten einen dieser Leute und warfen ihn im hohen Bogen auf die LKW´s. Wir waren jung, und wir waren schnell. Dennoch wollte ich nicht, dass die zwei Mädchen noch einmal in der ersten Reihe standen, und so suchte ich für sie einen Platz oberhalb einer kleinen Treppe.

Ich war ziemlich überrascht, als ich mich umschaute und feststellte, dass die Polizei zwar ca. 50 Leute vertrieben und davon einen Großteil verhaftet hatte. Nun aber standen ca. 100 Menschen vor der Polizei. Ich suchte mir die Polizisten mit dem vermeintlich höchsten Dienstgrad. Diese standen ganz rechts und ganz links der Absperrung. Diese Polizisten konfrontierte ich mit dem Vortrag der auswendig gelernten Gesetze und dass sie gerade dabei waren, genau diese Gesetze zu brechen. Bei beiden Polizisten sah ich Tränen unter ihrem Plexiglas-Visier.

Der Lautsprecher forderte noch ein paar mal zum Zugriff auf. Und auf 100 Vertriebene Protestierende folgten 200 neue Protestierende. Neben mir standen nun Menschen im Anzug oder Abendkleid. Leute, die zufällig gesehen haben, was hier passiert und sofort auch ihre Stimme gegen diese allgegenwärtige Staatsgewalt erhoben. Nach jedem Zugriff wurden es mehr Protestierende. Und am Abend war der Platz mit Menschen überfüllt. Kräfte der Staatssicherheit versuchten ab und an, jemanden in ein Auto zu zerren. Und die Kameras auf den Häuserdächern registrierten jeden der dabei war. Zum Schluss kamen gepanzerte Wasserwerfer zum Einsatz und vertrieben so alle, die sich in der Innenstadt befanden.

Für den darauffolgenden Montag wollte man Stärke zeigen. Die Stadt war abgeriegelt, und neben Panzerfahrzeugen standen am Stadtrand LKW´s für dem Abtransport der im hastig eingerichteten Schnellgericht Verurteilten Bürger bereit.

Aber der letzte Samstag war zu viel. Die Leipziger ließen sich nicht mehr bevormunden. Hunderttausende gingen auf die Straße und stellten klar: „Wir sind das Volk“, von dem ihr immer redet. Wir sind das Volk, in dessen Namen ihr uns immer unterdrückt. Ihr sitzt abgeschottet in eurer Loge der „Volkskammer“ und behauptet immer, es in unserem Namen zu tun.

Die DDR fiel in sich zusammen und wurde an Investoren verramscht. Der Bürger musste für die Schulden aufkommen. Und das vorhandene Kapital verschenkte man der Industrie oder der Deutschen Bank. Investoren kamen in Scharen, um auch etwas vom Kuchen zu bekommen. Mein Ausreiseantrag wurde genehmigt und ich hatte 24 Stunden Zeit das Land zu verlassen.

Wir waren betroffen, mit anzusehen, dass der Ostblock zusammenbrach. Nun gab es für den Westen keinen Grund mehr, moralisch besser da zu stehen. Wir waren erschrocken darüber, dass es keinerlei Konsequenzen gab für die Verantwortlichen in der DDR. Die SED wurde zur PDS und die PDS zur Linken. Heute sitzen sie mit im Bundestag und niemand nimmt Anstoß daran das sie die Nachfolge Partei sind einer Partei die den Schießbefehl auf das eigene Volk verabschiedet hat.

Heute geben 40 Prozent der Deutschen an, dass sie ihre Meinung nicht frei äußern können. Und jeder, der Kritik übt, wird automatisch als rechtsradikal an den Pranger gestellt. Wenn wir die Medien über die Unterbindung von Hass und Hetze im Netz reden hören, geht es ausschließlich um Politiker, die sich gegen Drohungen und Kritik wehren. Es gibt aber keine Möglichkeit für mich, dass ich mich wehren kann gegen den Vorwurf des Rechtsextremismus.

Ihr sitzt da oben in eurer Loge und macht die Gesetze, wie sie euch am besten gefallen und feiert eine friedliche Revolution, die Menschen befreiten sollte, die Meinungs- und Reisefreiheit bringen sollte. Staatliche Erziehungsmaßnahmen sollten längst in einer Kiste des Museumskellers verrotten, und die Politik sollte ihre Bürger vor der finanziellen und industriellen Ausbeutung schützen. Deutschland ist heute das Land mit der höchsten Lohnungleichheit. Wir gehören zu den drei Ländern mit den meisten Milliardären. Wir stützen mit unseren Steuergeldern Banken, die sich verzockt haben, und erlassen den Reichsten im Land Steuerzahlungen bei stetig steigender Armut. 

Wir sind damals für etwas ganz anderes auf die Straße gegangen. Darum ist es für mich sehr befremdlich, euch im Fernsehen feiern zu sehen.

Online-Flyer Nr. 837  vom 11.10.2024

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