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Kommentar
Hochmut kommt vor dem Fall
Die größte Krise des Judentums, seit es Zionismus gibt
Von Yavuz Özoguz
Die Überschrift scheint zunächst absurd, ja grotesk. Israel hat gerade gemäß der westlichen Wahrnehmung alle Gegner der sogenannten „Achse des Widerstandes“ lahmgelegt. Zwei Millionen Palästinenser sind ohne Obdach und hausen in Zelten. Gaza ist ein Trümmerfeld, wie es die Welt seit dem zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat. Israel tötet weiterhin jeden Tag einige Dutzend Palästinenser, die in westlichen Augen fast alle Terroristen sind. Ein Wiederaufbau ist eine Utopie und in wenigen Jahren völlig ausgeschlossen. Der Jemen schweigt. Der Libanon ist paralysiert und Israel kann jeden Tag weitere Libanesen ungestört ermorden. Die irakischen Widerstandsgruppen haben sich offenbar versteckt. Die islamische Republik Iran hat unzählige Opfer auf den höchsten Führungsebenen geben müssen, und als es kritisch für Israel wurde, haben die USA eingegriffen, was sie immer tun müssen, denn deren Staatsräson ist noch heftiger als die Deutschlands. USA und Deutschland liefern weiterhin ungehindert Waffen an Israel. Obwohl die ganze Welt weiß, dass hier ein beispielloser Völkermord unserer Zeit stattgefunden hat, wird Israel auf allen Ebenen gefördert. Wo soll da eine Krise des Judentums existieren?

Aber genau in obiger Schilderung steckt die größte Krise des Judentums seit dem Zweiten Weltkrieg und wahrscheinlich seit es Zionismus gibt. Der Holocaust war eine große Katastrophe für das Judentum! Aber er war nicht existenzbedrohend, denn es gab hinreichend viele Juden in Palästina, USA, Großbritannien und deren Kolonien, die nie gefährdet waren. Jetzt aber ist die Bedrohung nicht an irgendwelche Kriegs- oder Friedensgebiete gekoppelt. Es ist auch keine physische Bedrohung wie in den Konzentrationslagern. Es ist vielmehr der Zusammenbruch eines Wertesystems, das Israel als „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“ ansieht, wie es Theodor Herzl formulierte.
Im hebräischen Original des Alten Testaments steht im Abschnitt Sprichwörter 16,18 sinngemäß: „Stolz kommt vor dem Zusammenbruch, und Hochmut kommt vor dem Fall.“ Entsprechend gehört Stolz zu den Todsünden im Christentum. Aber sowohl Christen als auch vor allem Juden scheinen in ihren Büchern immer weniger zu lesen. Denn sonst wüssten sie, in welch einer Weltlage sie sich befinden.
Szenenwechsel ins Jahr 1990. Am 18. November hat damals der heutige Ministerpräsident Israels den bekannten hohen jüdischen Geistlichen, den Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson getroffen. Über die Begegnung gibt es sehr viele Legenden. Die wohl berühmteste Legende besagt, dass der Rebbe in einem privaten Gespräch zu Netanjahu gesagt habe, er werde „Israels letzter Premierminister sein, der das Zepter an den Messias weitergibt“ [1]. Bei dem aktuell in jeglicher Hinsicht völlig entfesseltem Verhalten Netanjahus ist es durchaus vorstellbar, dass ein gewisser Wahrheitsgehalt in jener Legende steckt. Denn warum sonst sollte ein Ministerpräsident sein ganzes Volk ins Unheil stürzen, wenn er doch durch einen einfachen Friedensschluss mit den Palästinensern und der vom Westen so präferierten Zwei-Staatenlösung Milliarden und Abermilliarden an Geldern von der ganzen Westlichen Welt einkassieren könnte, Frieden für Juden in der ganzen Welt bewirken würde und das Image korrigieren würde, das weltweit die Juden in eine Sackgasse gerückt hat, aus dem ein Ausweg ansonsten unmöglich scheint.
So lange Zionismus, Judentum und Israel drei Begriffe waren, die zwar über gewissen Schnittmengen verfügten, aber auch viel Trennendes beinhalteten, so lange konnte man die Schandtaten des Staates Israel nur auf dessen Regierung schieben. Nicht jeder Zionist ist Jude, nicht jeder Jude ist Zionist. Judentum ist mehrere Tausend Jahre alt, Zionismus gerade einmal ein Jahrhundert. Israel existiert erst seit 1948 und nicht jeder Israeli ist Jude oder Zionist. Erst in den letzten Jahren ist es den Propagandisten des Zionismus gelungen, alle drei Begriffe als Synonyme in die Köpfe der westlichen Menschheit einzutrichtern. Deutsche Antisemitismusbeauftragte haben kräftig dabei mitgeholfen. Und so ist das eingetreten, was eintreten musste: Das vom gesamten Globalen Süden, aber auch von vielen Völkern der Westlichen Welt als Völkermord angesehene Gaza-Massaker fällt auf das gesamte Judentum zurück. Diese fatale Entwicklung hat auch damit zu tun, dass in vielen Ländern – allen voran Deutschland – in „gute“ und „schlechte“ Juden unterschieden wurde. Als „gute“ Juden gelten diejenigen, die den Zionismus mittragen und Israel unter allen Umständen unterstützen. Als „schlechte“ Juden hingegen gelten Juden, die sich für einen gerechten Frieden nach acht Jahrzehnten Besatzung einsetzen. Da jene „schlechten“ Juden zudem auch noch als Antisemiten abgestempelt worden sind, konnte man ihre Stimme ignorieren. In Deutschland gibt es in den letzten Jahren erstmalig wieder Ausladungen von Juden, Rauswurf von Juden aus Veranstaltungen, wo sie sprechen sollten, Boykott von Juden und vieles andere mehr, wenn jene Juden nicht zu Israel und damit aktuell zu den Verbrechen Israels stehen. Die Medien, die einen Boykott gegen Juden auf deutschem Boden skandalisieren müssten, solidarisieren sich aber nicht mit den Juden oder dem Judentum, sondern ausschließlich mit Israel, so dass die Definition von „Jude“ direkt gekoppelt ist an die Loyalität an Israel. Verschärft wird diese untragbare Situation durch einen deutschen Verfassungsschutz, der auf der Seite Israels steht und nicht auf der Seite von Juden oder Deutschen. Sie stehen unweigerlich – ohne es wahrhaben zu wollen – an der Seite der unaufhaltbaren Gruppen von Siedlern auf besetzten Gebieten, die terroristisch herumwüten und schlimmstenfalls einen erhobenen Zeigefinger befürchten müssen zur Beschwichtigung von zu lauten Kritikern. Denn der Staat Israel strebt nicht nur die Annexion der aktuell als „besetzte Gebiete“ gekennzeichneten Ländereien an, sondern ein Großisrael.
Diese Gemengelage ist selbstverständlich auch Juden nicht verborgen geblieben. Und es wäre wirklich rassistisch und antisemitisch anzunehmen, dass alle Juden oder eine signifikante Mehrheit von Juden weltweit der Meinung seien, dass man Gaza in den Zustand versetzen durfte, in den es in den letzten zwei Jahren gebombt worden ist. Der Zusammenschluss von Antisemitismusbeauftragten, Verfassungsschutz, Medienhäusern, Spitzenpolitikern und Netzbetreibern mit ihrer sogenannten „Faktenchecker-Zensur“ unter der Schirmherrschaft der Staatsräson will einen Eindruck erwecken, dass jeglicher Widerstand gegen Unrecht hoffnungslos sei und Israel immer und überall das erreichen kann und das bekommen wird, was es sich wünscht. Aber die Wahrheit sieht anders aus.
Der Blick zur Wahrheit startet in Gaza. Warum dürfen die meisten Deutschen bis heute nicht das wahre Ausmaß der Verwüstung des Gaza-Streifens sehen? Warum wird nicht tagtäglich darüber berichtet, unter welchen Umständen derzeit bei Wintereinbruch zwei Millionen Menschen, darunter viele Frauen und Kinder leben? Gaza wird zum größten Mahnmal gegen die zionistische Besatzung. Und das Mahnmal ist nicht mit einigen Bulldozern und viel Geld aus der Welt zu schaffen. Das, was Israel dort angerichtet hat, sieht inzwischen die ganze Welt (außer Deutsche, die nur Main-Stream-Medien konsumieren). Selbst CNN und BBC verheimlichen das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr. Und wenn einer der rassistischen Minister Israels sich wieder in seinem eigenen Rassismus übertrifft, erfährt es die ganze Welt. Nur in Deutschland erlaubt es die Staatsräson nicht, dass darüber berichtet wird. Die Folge in der ganzen Welt (außer in Deutschland) ist ein stillschweigender, aber zunehmender Boykott Israels. Und da Israel ja von Israel selbst mit Judentum gleichgesetzt wurde, wirkt sich das auch auf Juden im Ausland aus. Der Antisemitismus lebt auf. Weder Handelsbeziehungen noch Partnerschaften, noch andersartige Geschäftsbeziehungen mit israelischen Unternehmen werden noch gepflegt. Und Deutschland allein kann mit seiner Staatsräson nicht ausgleichen, was in der ganzen Welt zusammenbricht.
Konnten sich die Ultra-Zionisten früher über den Antisemitismus im Ausland freuen, da es zu mehr Einreise nach Israel geführt hat, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Inzwischen ist von einem Tsunami die Rede an Israelis, die sich zum Auswandern aus Israel entschieden haben. Im Jahr 2022 waren es 59,400 Israelis, was ein Anstieg von 44% gegenüber dem Vorjahr war und 2023 stieg die Anzahl auf 82,800 an. Die Zahlen für 2025 liegen noch nicht vor, aber man weiß bereits jetzt, dass es eine enorme Rekordzahl wird. Dazu muss man wissen, dass ja nicht unbedingt die Ärmsten und Ungebildetsten das Land verlassen, sondern ein relevanter Brain-Drain vorliegt. Das wiederum hat enorme Auswirkungen auf die israelische Wirtschaft, die ohne US-Gelder und deutschen Subventionen ohnehin nicht existieren könnte. Portugiesische Staatsbürger, die in Israel leben, und Bürger, die irgendwelche jüdische Vorfahren in Portugal hatten, bildeten lange Schlangen in Tel Aviv, nachdem die portugiesische Botschaft in Israel angekündigt hatte, dass sie persönliche Termine für die Beantragung der Staatsbürgerschaft und die Erneuerung von Reisepässen ohne vorherige Anmeldung akzeptieren würde. Die Initiative fand am 28. November statt, nachdem das Online-Terminvergabesystem überlastet war. Nach Angaben der Times of Israel führte die Ankündigung zu einem unvorhersehbaren Andrang, wobei sich die Warteschlangen bis in die Tiefgarage des Gebäudes erstreckten [2]. Das Interesse an den Staatsbürgerschaften anderer Länder ist ähnlich hoch. Nur bei der Ukraine, aus der viele Israelis stammen, gibt es kriegsbedingt Probleme.
Die Technologie Israels hat sich in den Händen des eigenen Geheimdienstes in den letzten Jahren als hocheffizient herausgestellt. Doch welcher Staat – außer Deutschland – würde das Risiko eingehen, dass die gekaufte Technik in ihren Händen explodiert. Kein vernünftiger, die Interessen seiner eigenen Bürger berücksichtigender Verantwortungsträger würde solch ein Risiko tragen wollen. Dabei geht es nicht nur um Pager. Auch jede Software, jedes Waffensystem, jede Form von Technik könnte ja so gestaltet sein, dass sie bei Bedarf von der Ferne gegen den Käufer gerichtet werden könnte. Iranische Pager-Hersteller boomen derzeit heftig. Und chinesische Handy-Verkäufer übernehmen den Weltmarkt.
Mit jeder Aktion, mit der die israelische Hasbara [3] versucht ihr Image reinzuwaschen, geschieht im Augenblick im Gegensatz zu früher genau das Gegenteil. Nach intensiver Einflussnahme ist es den Israelis gelungen, nicht von nächsten europäischen Lieder-Wettbewerb ESC ausgeschlossen zu werden. Die Folge sind der Boykott von Spanien, Irland, Slowenien und die Niederlande. Weitere Länder könnten folgen. Die Abneigung gegen Israel hat mehr zugenommen als es bei einem Ausschluss der Fallvgewesen wäre.
Als der Internationale Gerichtshof einen Haftbefehl gegen Netanjahu ausgestellt hat, ging ein positiv überraschtes Raunen durch die Herzen der Völker. Israel hat im Anschluss dafür gesorgt, dass die Organisation mehr oder minder zerstört worden ist. Die USA haben verantwortliche Richter mit persönlichen Strafmaßnahmen überzogen! Die deutsche Staatsräson hat auf Seiten des Unrechts geschwiegen. Als die Europäer – auch wegen der deutschen Staatsräson – nicht mehr das Völkerrecht achten und wahren wollten, haben sie die etwas unscharfe „regelbasierte Ordnung“ hervorgerufen. Die fliegt ihnen gerade um die Ohren!
Aber auch im Inneren Israels ist die Lage explosiv. Da ist zum einen die juristische Weltpremiere, dass ein Ministerpräsident, der wegen massiver Korruption vor Gericht steht, um Begnadigung bittet, ohne dass er verurteilt worden ist und ohne, dass er seine Schuld zugibt. Auch ein anderer Konflikt schlägt hohe Wellen: Säkularere Israelis fordern, dass auch ultraorthodoxe (?aredische) Männer Wehrdienst leisten, während die ?aredim darauf bestehen, über das Torastudium dauerhaft vom Dienst befreit zu bleiben. Durch den Gaza-Krieg und ein Urteil des Obersten Gerichtshofs ist dieser Konflikt 2024/25 eskaliert und sprengt fast die Regierung. Seit Gründung des Staates wurden Vollzeit-Jeschiwa-Studenten weitgehend vom Wehrdienst befreit, zunächst als kleine Ausnahmeregelung für eine geringe Zahl von Tora-Gelehrten, später de facto für Zehntausende pro Jahr. Heute sind die Haredim ca. 13 % der Bevölkerung – mit sehr hoher Geburtenrate – und ein wachsender Anteil der wehrpflichtigen Jahrgänge.
Ähnliche Missstände, die allesamt auf das aktuelle Verhalten Israels zurückzuführen sind, könnten in sehr vielen Bereichen aufgelistet werden. Im Gegensatz zu früheren Missständen gibt es aber keinen Ausweg. Und propagandistische Reinwäsche funktioniert nicht mehr. Israel und damit die gesamte Führung der Westlichen Welt befinden sich in einer Sackgasse und haben sich auch den Rückweg selbst versperrt.
Hinzukommt eine jährlich steigende Zahl an atheistischen Juden. Haben noch vor einigen Jahren rund 80% der Juden in Israel an Gott geglaubt, sind es inzwischen nur noch 71 %, Tendenz fallend. Das ist besonders fatal für ein Land, dessen Existenz allein darauf gründet, dass sie gewaltsam das erobert haben, was Gott ihnen vermacht habe.
Ich weiß nicht, ob die Legende der Aussage des Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson, dass Netanjahu Israels letzter Premierminister sein werde, der das Zepter an den Messias weitergibt, irgendeinen ernst zu nehmenden Wahrheitsgehalt hat. Auch ist mir nicht bekannt, in wie weit der Rebbe die Zukunft vorhersehen konnte. Aber an einen Erlöser glauben auch Christen und Muslime.
In einer Welt, in der alle Gelder, die zum Ermorden von Menschen ausgegeben werden, mehr als genug wären, allen Menschen ein paradiesisches Dasein zu ermöglichen, ist die Hoffnung an einen Erlöser sicherlich eine Hoffnung für die hilflos Unterdrückten. Aber liegt nicht unsere Verantwortung darin, alles für eine gerechtere Welt vorzubereiten? Das mag besonders schwer sein in einem Land, dessen Staatsräson selbst dann noch gelten wird, wenn Israel sich selbst aufgelöst hat. Aber Hoffnungslosigkeit ist die schwerste Sünde im Islam!
Die „regelbasierte Ordnung“ der Westlichen Welt angeführt von USrael taumelt mit solch einer Unwucht, wie es die Geschichte der Westlichen Welt nie gesehen hat. Neue mächtige Imperien sind dabei die Macht zu übernehmen. In wie weit sie gerechter sein werden als das Vorangegangene und in wie weit Deutschland zu menschlichen Werten zurückfinden wird, liegt auch in unserer Hand.
Fußnoten
[1] https://portalcioranbr.wordpress.com/2025/02/17/messiah-prophecy-haunts-netanyahu-trt/
[2] https://www.theportugalnews.com/de/nachrichten/2025-12-03/israelis-suchen-die-portugiesische-staatsburgerschaft/926764#google_vignette
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Hasbara
Erstveröffentlichung am 9. Dezember 2025 bei Muslim-Markt
Online-Flyer Nr. 855 vom 12.12.2025
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Hochmut kommt vor dem Fall
Die größte Krise des Judentums, seit es Zionismus gibt
Von Yavuz Özoguz
Die Überschrift scheint zunächst absurd, ja grotesk. Israel hat gerade gemäß der westlichen Wahrnehmung alle Gegner der sogenannten „Achse des Widerstandes“ lahmgelegt. Zwei Millionen Palästinenser sind ohne Obdach und hausen in Zelten. Gaza ist ein Trümmerfeld, wie es die Welt seit dem zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat. Israel tötet weiterhin jeden Tag einige Dutzend Palästinenser, die in westlichen Augen fast alle Terroristen sind. Ein Wiederaufbau ist eine Utopie und in wenigen Jahren völlig ausgeschlossen. Der Jemen schweigt. Der Libanon ist paralysiert und Israel kann jeden Tag weitere Libanesen ungestört ermorden. Die irakischen Widerstandsgruppen haben sich offenbar versteckt. Die islamische Republik Iran hat unzählige Opfer auf den höchsten Führungsebenen geben müssen, und als es kritisch für Israel wurde, haben die USA eingegriffen, was sie immer tun müssen, denn deren Staatsräson ist noch heftiger als die Deutschlands. USA und Deutschland liefern weiterhin ungehindert Waffen an Israel. Obwohl die ganze Welt weiß, dass hier ein beispielloser Völkermord unserer Zeit stattgefunden hat, wird Israel auf allen Ebenen gefördert. Wo soll da eine Krise des Judentums existieren?

Aber genau in obiger Schilderung steckt die größte Krise des Judentums seit dem Zweiten Weltkrieg und wahrscheinlich seit es Zionismus gibt. Der Holocaust war eine große Katastrophe für das Judentum! Aber er war nicht existenzbedrohend, denn es gab hinreichend viele Juden in Palästina, USA, Großbritannien und deren Kolonien, die nie gefährdet waren. Jetzt aber ist die Bedrohung nicht an irgendwelche Kriegs- oder Friedensgebiete gekoppelt. Es ist auch keine physische Bedrohung wie in den Konzentrationslagern. Es ist vielmehr der Zusammenbruch eines Wertesystems, das Israel als „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“ ansieht, wie es Theodor Herzl formulierte.
Im hebräischen Original des Alten Testaments steht im Abschnitt Sprichwörter 16,18 sinngemäß: „Stolz kommt vor dem Zusammenbruch, und Hochmut kommt vor dem Fall.“ Entsprechend gehört Stolz zu den Todsünden im Christentum. Aber sowohl Christen als auch vor allem Juden scheinen in ihren Büchern immer weniger zu lesen. Denn sonst wüssten sie, in welch einer Weltlage sie sich befinden.
Szenenwechsel ins Jahr 1990. Am 18. November hat damals der heutige Ministerpräsident Israels den bekannten hohen jüdischen Geistlichen, den Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson getroffen. Über die Begegnung gibt es sehr viele Legenden. Die wohl berühmteste Legende besagt, dass der Rebbe in einem privaten Gespräch zu Netanjahu gesagt habe, er werde „Israels letzter Premierminister sein, der das Zepter an den Messias weitergibt“ [1]. Bei dem aktuell in jeglicher Hinsicht völlig entfesseltem Verhalten Netanjahus ist es durchaus vorstellbar, dass ein gewisser Wahrheitsgehalt in jener Legende steckt. Denn warum sonst sollte ein Ministerpräsident sein ganzes Volk ins Unheil stürzen, wenn er doch durch einen einfachen Friedensschluss mit den Palästinensern und der vom Westen so präferierten Zwei-Staatenlösung Milliarden und Abermilliarden an Geldern von der ganzen Westlichen Welt einkassieren könnte, Frieden für Juden in der ganzen Welt bewirken würde und das Image korrigieren würde, das weltweit die Juden in eine Sackgasse gerückt hat, aus dem ein Ausweg ansonsten unmöglich scheint.
So lange Zionismus, Judentum und Israel drei Begriffe waren, die zwar über gewissen Schnittmengen verfügten, aber auch viel Trennendes beinhalteten, so lange konnte man die Schandtaten des Staates Israel nur auf dessen Regierung schieben. Nicht jeder Zionist ist Jude, nicht jeder Jude ist Zionist. Judentum ist mehrere Tausend Jahre alt, Zionismus gerade einmal ein Jahrhundert. Israel existiert erst seit 1948 und nicht jeder Israeli ist Jude oder Zionist. Erst in den letzten Jahren ist es den Propagandisten des Zionismus gelungen, alle drei Begriffe als Synonyme in die Köpfe der westlichen Menschheit einzutrichtern. Deutsche Antisemitismusbeauftragte haben kräftig dabei mitgeholfen. Und so ist das eingetreten, was eintreten musste: Das vom gesamten Globalen Süden, aber auch von vielen Völkern der Westlichen Welt als Völkermord angesehene Gaza-Massaker fällt auf das gesamte Judentum zurück. Diese fatale Entwicklung hat auch damit zu tun, dass in vielen Ländern – allen voran Deutschland – in „gute“ und „schlechte“ Juden unterschieden wurde. Als „gute“ Juden gelten diejenigen, die den Zionismus mittragen und Israel unter allen Umständen unterstützen. Als „schlechte“ Juden hingegen gelten Juden, die sich für einen gerechten Frieden nach acht Jahrzehnten Besatzung einsetzen. Da jene „schlechten“ Juden zudem auch noch als Antisemiten abgestempelt worden sind, konnte man ihre Stimme ignorieren. In Deutschland gibt es in den letzten Jahren erstmalig wieder Ausladungen von Juden, Rauswurf von Juden aus Veranstaltungen, wo sie sprechen sollten, Boykott von Juden und vieles andere mehr, wenn jene Juden nicht zu Israel und damit aktuell zu den Verbrechen Israels stehen. Die Medien, die einen Boykott gegen Juden auf deutschem Boden skandalisieren müssten, solidarisieren sich aber nicht mit den Juden oder dem Judentum, sondern ausschließlich mit Israel, so dass die Definition von „Jude“ direkt gekoppelt ist an die Loyalität an Israel. Verschärft wird diese untragbare Situation durch einen deutschen Verfassungsschutz, der auf der Seite Israels steht und nicht auf der Seite von Juden oder Deutschen. Sie stehen unweigerlich – ohne es wahrhaben zu wollen – an der Seite der unaufhaltbaren Gruppen von Siedlern auf besetzten Gebieten, die terroristisch herumwüten und schlimmstenfalls einen erhobenen Zeigefinger befürchten müssen zur Beschwichtigung von zu lauten Kritikern. Denn der Staat Israel strebt nicht nur die Annexion der aktuell als „besetzte Gebiete“ gekennzeichneten Ländereien an, sondern ein Großisrael.
Diese Gemengelage ist selbstverständlich auch Juden nicht verborgen geblieben. Und es wäre wirklich rassistisch und antisemitisch anzunehmen, dass alle Juden oder eine signifikante Mehrheit von Juden weltweit der Meinung seien, dass man Gaza in den Zustand versetzen durfte, in den es in den letzten zwei Jahren gebombt worden ist. Der Zusammenschluss von Antisemitismusbeauftragten, Verfassungsschutz, Medienhäusern, Spitzenpolitikern und Netzbetreibern mit ihrer sogenannten „Faktenchecker-Zensur“ unter der Schirmherrschaft der Staatsräson will einen Eindruck erwecken, dass jeglicher Widerstand gegen Unrecht hoffnungslos sei und Israel immer und überall das erreichen kann und das bekommen wird, was es sich wünscht. Aber die Wahrheit sieht anders aus.
Der Blick zur Wahrheit startet in Gaza. Warum dürfen die meisten Deutschen bis heute nicht das wahre Ausmaß der Verwüstung des Gaza-Streifens sehen? Warum wird nicht tagtäglich darüber berichtet, unter welchen Umständen derzeit bei Wintereinbruch zwei Millionen Menschen, darunter viele Frauen und Kinder leben? Gaza wird zum größten Mahnmal gegen die zionistische Besatzung. Und das Mahnmal ist nicht mit einigen Bulldozern und viel Geld aus der Welt zu schaffen. Das, was Israel dort angerichtet hat, sieht inzwischen die ganze Welt (außer Deutsche, die nur Main-Stream-Medien konsumieren). Selbst CNN und BBC verheimlichen das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr. Und wenn einer der rassistischen Minister Israels sich wieder in seinem eigenen Rassismus übertrifft, erfährt es die ganze Welt. Nur in Deutschland erlaubt es die Staatsräson nicht, dass darüber berichtet wird. Die Folge in der ganzen Welt (außer in Deutschland) ist ein stillschweigender, aber zunehmender Boykott Israels. Und da Israel ja von Israel selbst mit Judentum gleichgesetzt wurde, wirkt sich das auch auf Juden im Ausland aus. Der Antisemitismus lebt auf. Weder Handelsbeziehungen noch Partnerschaften, noch andersartige Geschäftsbeziehungen mit israelischen Unternehmen werden noch gepflegt. Und Deutschland allein kann mit seiner Staatsräson nicht ausgleichen, was in der ganzen Welt zusammenbricht.
Konnten sich die Ultra-Zionisten früher über den Antisemitismus im Ausland freuen, da es zu mehr Einreise nach Israel geführt hat, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Inzwischen ist von einem Tsunami die Rede an Israelis, die sich zum Auswandern aus Israel entschieden haben. Im Jahr 2022 waren es 59,400 Israelis, was ein Anstieg von 44% gegenüber dem Vorjahr war und 2023 stieg die Anzahl auf 82,800 an. Die Zahlen für 2025 liegen noch nicht vor, aber man weiß bereits jetzt, dass es eine enorme Rekordzahl wird. Dazu muss man wissen, dass ja nicht unbedingt die Ärmsten und Ungebildetsten das Land verlassen, sondern ein relevanter Brain-Drain vorliegt. Das wiederum hat enorme Auswirkungen auf die israelische Wirtschaft, die ohne US-Gelder und deutschen Subventionen ohnehin nicht existieren könnte. Portugiesische Staatsbürger, die in Israel leben, und Bürger, die irgendwelche jüdische Vorfahren in Portugal hatten, bildeten lange Schlangen in Tel Aviv, nachdem die portugiesische Botschaft in Israel angekündigt hatte, dass sie persönliche Termine für die Beantragung der Staatsbürgerschaft und die Erneuerung von Reisepässen ohne vorherige Anmeldung akzeptieren würde. Die Initiative fand am 28. November statt, nachdem das Online-Terminvergabesystem überlastet war. Nach Angaben der Times of Israel führte die Ankündigung zu einem unvorhersehbaren Andrang, wobei sich die Warteschlangen bis in die Tiefgarage des Gebäudes erstreckten [2]. Das Interesse an den Staatsbürgerschaften anderer Länder ist ähnlich hoch. Nur bei der Ukraine, aus der viele Israelis stammen, gibt es kriegsbedingt Probleme.
Die Technologie Israels hat sich in den Händen des eigenen Geheimdienstes in den letzten Jahren als hocheffizient herausgestellt. Doch welcher Staat – außer Deutschland – würde das Risiko eingehen, dass die gekaufte Technik in ihren Händen explodiert. Kein vernünftiger, die Interessen seiner eigenen Bürger berücksichtigender Verantwortungsträger würde solch ein Risiko tragen wollen. Dabei geht es nicht nur um Pager. Auch jede Software, jedes Waffensystem, jede Form von Technik könnte ja so gestaltet sein, dass sie bei Bedarf von der Ferne gegen den Käufer gerichtet werden könnte. Iranische Pager-Hersteller boomen derzeit heftig. Und chinesische Handy-Verkäufer übernehmen den Weltmarkt.
Mit jeder Aktion, mit der die israelische Hasbara [3] versucht ihr Image reinzuwaschen, geschieht im Augenblick im Gegensatz zu früher genau das Gegenteil. Nach intensiver Einflussnahme ist es den Israelis gelungen, nicht von nächsten europäischen Lieder-Wettbewerb ESC ausgeschlossen zu werden. Die Folge sind der Boykott von Spanien, Irland, Slowenien und die Niederlande. Weitere Länder könnten folgen. Die Abneigung gegen Israel hat mehr zugenommen als es bei einem Ausschluss der Fallvgewesen wäre.
Als der Internationale Gerichtshof einen Haftbefehl gegen Netanjahu ausgestellt hat, ging ein positiv überraschtes Raunen durch die Herzen der Völker. Israel hat im Anschluss dafür gesorgt, dass die Organisation mehr oder minder zerstört worden ist. Die USA haben verantwortliche Richter mit persönlichen Strafmaßnahmen überzogen! Die deutsche Staatsräson hat auf Seiten des Unrechts geschwiegen. Als die Europäer – auch wegen der deutschen Staatsräson – nicht mehr das Völkerrecht achten und wahren wollten, haben sie die etwas unscharfe „regelbasierte Ordnung“ hervorgerufen. Die fliegt ihnen gerade um die Ohren!
Aber auch im Inneren Israels ist die Lage explosiv. Da ist zum einen die juristische Weltpremiere, dass ein Ministerpräsident, der wegen massiver Korruption vor Gericht steht, um Begnadigung bittet, ohne dass er verurteilt worden ist und ohne, dass er seine Schuld zugibt. Auch ein anderer Konflikt schlägt hohe Wellen: Säkularere Israelis fordern, dass auch ultraorthodoxe (?aredische) Männer Wehrdienst leisten, während die ?aredim darauf bestehen, über das Torastudium dauerhaft vom Dienst befreit zu bleiben. Durch den Gaza-Krieg und ein Urteil des Obersten Gerichtshofs ist dieser Konflikt 2024/25 eskaliert und sprengt fast die Regierung. Seit Gründung des Staates wurden Vollzeit-Jeschiwa-Studenten weitgehend vom Wehrdienst befreit, zunächst als kleine Ausnahmeregelung für eine geringe Zahl von Tora-Gelehrten, später de facto für Zehntausende pro Jahr. Heute sind die Haredim ca. 13 % der Bevölkerung – mit sehr hoher Geburtenrate – und ein wachsender Anteil der wehrpflichtigen Jahrgänge.
Ähnliche Missstände, die allesamt auf das aktuelle Verhalten Israels zurückzuführen sind, könnten in sehr vielen Bereichen aufgelistet werden. Im Gegensatz zu früheren Missständen gibt es aber keinen Ausweg. Und propagandistische Reinwäsche funktioniert nicht mehr. Israel und damit die gesamte Führung der Westlichen Welt befinden sich in einer Sackgasse und haben sich auch den Rückweg selbst versperrt.
Hinzukommt eine jährlich steigende Zahl an atheistischen Juden. Haben noch vor einigen Jahren rund 80% der Juden in Israel an Gott geglaubt, sind es inzwischen nur noch 71 %, Tendenz fallend. Das ist besonders fatal für ein Land, dessen Existenz allein darauf gründet, dass sie gewaltsam das erobert haben, was Gott ihnen vermacht habe.
Ich weiß nicht, ob die Legende der Aussage des Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson, dass Netanjahu Israels letzter Premierminister sein werde, der das Zepter an den Messias weitergibt, irgendeinen ernst zu nehmenden Wahrheitsgehalt hat. Auch ist mir nicht bekannt, in wie weit der Rebbe die Zukunft vorhersehen konnte. Aber an einen Erlöser glauben auch Christen und Muslime.
In einer Welt, in der alle Gelder, die zum Ermorden von Menschen ausgegeben werden, mehr als genug wären, allen Menschen ein paradiesisches Dasein zu ermöglichen, ist die Hoffnung an einen Erlöser sicherlich eine Hoffnung für die hilflos Unterdrückten. Aber liegt nicht unsere Verantwortung darin, alles für eine gerechtere Welt vorzubereiten? Das mag besonders schwer sein in einem Land, dessen Staatsräson selbst dann noch gelten wird, wenn Israel sich selbst aufgelöst hat. Aber Hoffnungslosigkeit ist die schwerste Sünde im Islam!
Die „regelbasierte Ordnung“ der Westlichen Welt angeführt von USrael taumelt mit solch einer Unwucht, wie es die Geschichte der Westlichen Welt nie gesehen hat. Neue mächtige Imperien sind dabei die Macht zu übernehmen. In wie weit sie gerechter sein werden als das Vorangegangene und in wie weit Deutschland zu menschlichen Werten zurückfinden wird, liegt auch in unserer Hand.
Fußnoten
[1] https://portalcioranbr.wordpress.com/2025/02/17/messiah-prophecy-haunts-netanyahu-trt/
[2] https://www.theportugalnews.com/de/nachrichten/2025-12-03/israelis-suchen-die-portugiesische-staatsburgerschaft/926764#google_vignette
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Hasbara
Erstveröffentlichung am 9. Dezember 2025 bei Muslim-Markt
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