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Literatur
Rudolph Bauer: Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus, Heft 2; I-N
Lesen! Weitersagen! Hoffentlich noch zur rechten Zeit
Von Claus Stille

Genial nannte ich Rudolph Bauers Idee, ein «Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus« ins Werk zu setzen. Ich halte das wirklich nicht für übertrieben. Die Rede ist von Bauers im pad-Verlag herausgekommenes Wörterbuch obigen Titels. Das erste Heft umfasste zunächst die Wörter und Begriffe mit den Anfangsbuchstaben A bis H. (1) Rudolph Bauer übertreibt m. E. nicht, wenn er über sein Werk sagt: "Das Wörterbuch kann das Lesen vieler Bücher überflüssig machen. Die Beiträge und das Literaturverzeichnis können aber auch zum Anlass genommen werden, sich eingehender mit der jeweiligen Thematik zu beschäftigen. Überhaupt mögen die Stichwort-Artikel dazu anregen, sich mit dem einen oder anderen Gegenstand gründlicher auseinanderzusetzen, selbst zu recherchieren und vertieft in die Thematik einzudringen."

Nach Lektüre des ersten Bandes rief ich beeindruckt in Richtung Leserschaft aus: Lesen! Weitersagen! Dieses begrüßenswerte, weil hilfreiche Wörterbuch sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, stets griffbereit parat haben. Bei mir hat das Wörterbuch seinen Platz auf meinem Schreibtisch. Nun gesellte sich der zweite Band (Heft 2: I bis N) zum ersten Teil hinzu. Nachbarn auf diesem Platz sind Victor Klemperers «LTI« (2) sowie ein «Kleines Politisches Wörterbuch« (3) noch aus DDR-Zeiten.

Im Klappentext zum Heft 2 lesen wir: "Die Artikel zu den Stichwörtern geben in knapper Form den aktuellen Stand des Wissens und der Forschung wieder. Auf diese Weise ist es möglich, die verschiedenen, auch sich überschneidenden Verbindungslinien begrifflicher, institutioneller und personeller Art in der gesamten Breite und Komplexität des Geschehens zu erfassen – und in ihrer Ungeheuerlichkeit, nicht zuletzt was die offenen und untergründigen Bezüge zum geschichtlichen Nationalsozialismus und Faschismus betrifft."

Das Wörterbuch kommt in brisanten, täglich brisanter – ja: immer irrer – werdenden Zeiten (hoffentlich) noch zur rechten Zeit. Wer noch selber zu denken pflegt und halbwegs noch Tassen im Schranke hat, verspürt, wie man immer mehr den Boden unter den Füßen zu verlieren scheint. Und wie uns die Herrschenden, sich fälschlicherweise als Eliten begreifend, nahezu wahnhaft weiter daran festhalten, uns des Bodens, auf welchen wir glaubten, halbwegs fest zu stehen, zu berauben. Der vermutlich noch zu große Rest der Menschen, lässt sich von Regierungspropaganda, welche – zu allem Unglück auch noch durch einen Journalismus, welchen der Journalist und Autor Patrik Baab, krass, aber völlig zu Recht als "verkommen" bezeichnet, noch verstärkt, desinformierend trommelnd, mit Weglassungen Geschichte klittert – einlullen und einseifen. Wie heißt des doch so treffend in Bertolt Brechts "Der Kälbermarsch" (1. Strophe (4)):
    Hinter der Trommel her
    Trotten die Kälber
    Das Fell für die Trommel
    Liefern sie selber.
    Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen
    Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt.
    Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
    Marschiern im Geist in seinen Reihen mit.
Wenn wir nicht spätestens jetzt aufwachen, müssen wir gewärtig sein, alsbald in den Abgrund zu stürzen – frei nach Friedrich Nietzsche (5) – in welchen schon lange geblickt worden ist und dieser auch immer bärbeißiger in uns hineinblickt. Was wird dieser Abgrund sein: Der Dritte Weltkrieg oder der die Menschheit vernichtende Atomkrieg? Die Weltuntergangsuhr steht inzwischen bereits auf 90 Sekunden vor Mitternacht! Freilich sollten wir uns der bedrohlichen Entwicklung entgegenstemmen. Müssen jedoch dabei auch einpreisen, was uns Nietzsche gleichzeitig zu bedenken gibt: "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird."

Befinden wir uns zwischen Skylla und Charybdis? (6) Wir sehen uns zumindest im Zustand einer gefährlichen Verwirrung und Verirrung. Der "Journalist und Islamexperte, der Gott und die Welt kennt", wie ein Interview von Ramon Schack mit Peter Scholl-Latour (der uns heute so sehr fehlt!) auf Telepolis eingeleitet wird, drückte es klar und unmissverständlich aus: "Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung". (7)

Was ist heute Links, was Rechts? Die Ordinate ist verschoben. Sind wir Männchen oder Weibchen? Können wir tatsächlich ganz und gar auf dem Amt unser Geschlecht ändern und im nächsten Jahr wieder zurück? Kaum etwas ist noch an seinem Platz. Soll an seinem Platz bleiben? Wir patschen mehr oder weniger orientierungslos in einem allgemeinen Brei herum, welcher aus Ingredienzien zusammengerührt ist, die sich im Einzelnen nicht mehr identifizieren lassen. Alles muss woke sein. Die Sprache wird verhunzt. Wo finden wir noch Halt? An was können wir uns orientieren? Beispielsweise, wie ich finde, am beziehungsweise mittels des Kritischen Wörterbuchs des bunten Totalitarismus von Rudolph Bauer!

Seit Immanuel Kant wissen wir: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Bauers Lexikon kann uns als Werkzeug dafür dienen, diese Aufklärung zu erlangen oder ihr uns wenigstens Stück für Stück zu nähern.

Das Heft 2 dieses Wörterbuchs beginnt mit dem Buchstaben I und mit dem Begriff Idealverein (S.12)
    Ideal den Herrschaftsbedingungen angepasste Organisationsform, die das Assoziationsrecht, sich zusammenzuschließen und gemeinsam Ideelle Zwecke zu verfolgen, gesetzlich regelt und obrigkeitlich kontrollierbar macht. Ziel der staatlichen Einflussnahme ist es, das Bürgerschaftliche Engagement in eine Richtung zu lenken, welche zum einen fehlende oder unzureichende öffentliche Leistungen und gesellschaftliche Defizite in Selbstverwaltung kompensiert (z. B. in Form von Hilfen und Fördermaßnahmen) und andererseits die bestehenden politischen Kräfteverhältnisse nicht zu gefährden droht. Als typische und häufigste Form des in das amtliche Vereinsregister eingetragenen Vereins weist der sog. Idealverein formelle Statuten auf; vor der amtlichen Registrierung als eingetragener Verein ist die Satzung bei Gericht zu genehmigen; über den Antrag auf Gemeinnützigkeit (--> Gemeinnützigkeit als Steuerungs- und Disziplinierungsinstrument) entscheidet in regelmäßigem Abstand die zuständige Finanzbehörde. Als nicht wirtschaftlicher Verein gemäß § 21 BGB darf der Idealverein nicht die Erzielung von Gewinn als Hauptzweck haben. – Vom Idealverein zu unterscheiden sind der wirtschaftliche Verein gemäß § 22 BGB und der Verein gemäß Vereinsgesetz. Die Vereinsarten Wirtschaftlicher Verein und Idealverein gelten nach deutschem Recht als juristische Personen mit entsprechenden Rechten und Pflichten: "Bei der Rechtsform der juristischen Person sind im Gesetz eine oder mehrere Verfügungs- und Verwaltungsberechtigte nach innen und außen und damit eine hierarchische Struktur vorgeschrieben. Da aufgrund dieser Struktur eine gleichberechtigte Mitarbeit aller Mitglieder nicht möglich ist, können sie im begrenzten Rahmen der Mitgliederversammlung nur unvollständige Informationen erhalten, wodurch eine umfassende Meinungsbildung verunmöglicht wird. … faktisch (wird) eine Scheindemokratie praktiziert." (Bauer 1978: 42 f) --> Vereine ohne Rechtspersönlichkeit.
Das Heft 2 schließt mit dem Begriff Null-Emissionen (S.90):
    Gauklertrick; bedeutet, dass bei Produktions- oder anderen Prozessen (Tätigkeiten, Verrichtungen) keine "klimaschädlichen Emissionen" entstehen, berücksichtigt aber nicht, dass die "emissionsfreie" Energieproduktion durch Windenergieanlagen, Photovoltaik oder Wasserstoff, die Emissionskosten“ ausklammert, welche bei der Herstellung, beim Transport oder beim Recycling und der Wiederverwertung entstehen. Auch ein Kinderroller oder ein Fahrrad sind "Nullemissionsfahrzeuge", ihre Produktion, Reparatur und Entsorgung sind jedoch nicht "emissionsfrei". --> Klima, Klimaneutralität.
Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich bei der Lektüre und gelegentlichen Nutzung der beiden inzwischen zu erwerbenden zwei Hefte des Kritischen Wörterbuchs erbauliche Erkenntnisse und Lichtblicke, die weiterbringen. Der dritte Band ist in Arbeit und kommt demnächst heraus.


Rudolph Bauer: Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus



Heft 2; I-N, pad-Verlag Bergkamen 2024, 99 Seiten, 7 Euro (Bezug: pad-verlag@gmx.net)


Fußnoten:

(1) Meine Rezension zu «Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus (Heft 1: A – H) von Rudolph Bauer
(2) LTI, Victor Klemperer
(3) Kleines Politisches Wörterbuch
(4) Der Kälbermarsch; Bertolt Brecht
(5) Friedrich Nietzsche, Beyond Good and Evil
(6) Zwischen Skylla und Charybdis sein – Bedeutung, Herkunft
(7) Scholl-Latour: „Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung“; das Interview führte Ramon Schack mit ihm


Erstveröffentlichung am 12. Oktober 2024 bei clausstille.blog


Siehe auch:


Rudolph Bauer: Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus
Was für eine ausgezeichnete Idee!
Von gela-news
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29182


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